Johan Harstad: Buzz Aldrin - wo warst Du in all dem Durcheinander

  • Ein Buch wie ein bester Freund


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    Seit ich Harstads genialen Glücklichmachziegel „Max, Mischa und die Tet-Offensive“ (Rowohlt, 2019) gelesen hatte, war ich auf der Suche nach einer gut erhaltenen Ausgabe von „Buzz Aldrin“, das hierzulande im Jahr 2006 bei Piper erschienen, aber längst vergriffen ist – und leider wohl auch nicht mehr neu aufgelegt werden wird. Vor zwei Wochen wurde meine Geduld belohnt, aber ich habe das 600 Seiten starke, international recht erfolgreiche Romandebüt von Johan Harstad noch eine Weile auf dem Regal stehenlassen, um die Vorfreude zu genießen.


    Es geht um die Geschichte des Ich-Erzählers Mattias, der am Tag der ersten Mondlandung geboren wurde, und zwar just in dem Augenblick, als der zweite Mann nach Neil Armstrong den Trabanten betrat – Edwin Eugene Aldrin jr., genannt „Buzz“ Aldrin. „Buzz“ steht für summen oder schwirren, als Substantiv oder Verb, je nach Schreibung oder Verwendung.


    Mattias kommt in Stavanger auf die Welt, in der mit knapp 150.000 Einwohnern viertgrößten Stadt Norwegens und an dessen südwestlichem Zipfel gelegen. Er ist von Schulbeginn an mit Jørn befreundet, der später eine Band gründet – und der Mattias, der ein unglaublich guter Sänger ist, dazu überreden möchte, doch mitzumachen. Aber Mattias gefällt sich in der Rolle desjenigen, der nicht auffällt, der mitschwimmt, der ein Rädchen ist, der nicht aneckt und auch höchstens so mittelhalbwichtig ist, jemand aus der zweiten Reihe also, ungefähr wie Aldrin, aber im irdischen Maßstab. Er wird wahrgenommen, wenn er mit seinen coolen Freunden unterwegs ist, sonst nicht. Das wird zum ersten Mal zu einem ernsthaften Problem, als Helle auf Mattias‘ Schule wechselt, das Mädchen, in das er sich praktisch sofort verliebt. Bei einem großen Kostümball, zu dem er natürlich als Astronaut geht, nimmt er – schon leicht angetrunken – seinen Mut zusammen, betritt die Bühne und singt mit der Band ein Stück, dessen Titel allerdings erst ganz am Ende des Romans genannt wird, und er haut das Publikum komplett aus den Socken.

    Vor allem aber gewinnt er Helles Herz.

    Das er dreizehn Jahre später wieder verlieren wird.

    Mattias, inzwischen Anfang dreißig, steckt fest in der Stagnation, nichts funktioniert mehr, er ist Gärtner in einer kleinen Blumengärtnerei, die von der Konkurrenz der Supermärkte erdrückt wird, er zieht sich immer mehr zurück, und irgendwann hat Helle davon genug. Mattias bricht fast zusammen, aber als Jørn ihm das Angebot macht, die Band zu einem Konzert auf die Färöer zu begleiten, wohl auch mit dem Hintergedanken, ihn doch noch zum Sänger zu machen, sagt er kurzerhand zu.



    Harstads Roman erzählt in der Hauptsache von der Zeit auf den Färöern, die dann folgt, auf dieser winzigen Inselgruppe im Nordatlantik, auf der es fast pausenlos regnet, auf der es zwar zotteliges Gras gibt, aber kaum ein Baum Wurzeln zu schlagen in der Lage ist, wo die Höchsttemperatur im August (!) um die 13 Grad Celsius beträgt, wo ein Drittel der Menschen leben, die Stavanger bevölkern, wie erwähnt die viertgrößte Stadt Norwegens. Wo so wenige sind und die Bedingungen so anstrengen, da herrscht aber auch eine andere Art des Umgangs, der Wahrnehmung, der Lebensführung, der Fokussierung. Mattias wird nach einem Unglück, an das er sich nicht genau erinnern kann, von einem Mann namens Havstein aufgegabelt, der eine Art Reha-Einrichtung für psychisch erkrankte Menschen führt, in Gjógv an der Nordostküste von Eysturoy, der Ostinsel der Färöer. Der Ort hat drei Dutzend Einwohner, von denen fünf in der umgebauten Fabrik leben, die Havstein leitet. Hier lernt Mattias Palli, Anna und Ennen kennen, vor allem Ennen, die eigentlich ganz anders heißt und ununterbrochen eines der „The Cardigans“-Alben hört, nach denen die vier Teile des Romans benannt sind.



    „Buzz Aldrin – wo warst Du in all dem Durcheinander“ handelt von vielem, eigentlich von nahezu allem, aber es erzählt in der Hauptsache von Selbstfindung und -wahrnehmung, von Liebe, Freundschaft, von Störung und Normalität und beidem zugleich, vom Zuhören und Erfahren, von der Lüge und der Wahrheit, vom Erkennen und Verstehen, vom Handeln und Nichthandeln und von den Konsequenzen, vom Summen und Schwirren. Die Geschichte ist genau genommen nicht sehr komplex und nur selten spektakulär, aber sie ist enorm dicht erzählt, wirkt trotz der 600 Seiten wie komprimiert, weil einfach so viel drinsteckt, in diesen Bandwurmsätzen und Lebensbetrachtungen, in dieser liebevollen, klugen, kunstvollen und unkonventionellen Erzählung. Die durchaus auch ihre Hänger hat, die ins Stocken gerät, die nicht so verläuft, wie man sich das als Leser erhofft hatte, die auch anstrengt und manchmal ein bisschen enttäuscht. Von der man sich aber vor allem wünscht, dass sie niemals aufhören möge.


    Ganz genau so, wie die Verbindung zu einem besten Freund.


    ASIN/ISBN: 3492048773