Genrelos = chancenlos?

  • Ermuntert von Horst-Dieters Nachbarthread „Liste aller Genres“: Mich würden eure Gedanken und Meinungen zum Thema Genre und speziell dem der Genrelosigkeit interessieren, verbunden mit der Hoffnung, vielleicht auch ein paar Antworten zu erhalten auf Fragen, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigen.


    Von den 999 pro 1000 unverlangt eingesandten Manuskripten, die keinem der für eine Veröffentlichung relevanten Kriterien gerecht werden, soll hier ausdrücklich nicht die Rede sein. Das vorausgeschickt ...


    Schreiben können alle. Klar. Viele schreiben sogar richtig gut und die meisten haben auch etwas zu sagen. Erzählen berührende, unterhaltsame, spannende Geschichten. Und natürlich existieren alle vorstellbaren Schattierungen zwischen Genialität und, nun ja, nicht ganz so Genialem. Veröffentlicht werden sowohl das eine wie das andere. Manchmal. Oder, ungleich häufiger, eben nicht. Und ohne dass verlässliche Kriterien erkennbar würden, die dem nach Orientierung Suchenden dabei hülfen nachzuvollziehen, warum der Daumen mal nach oben geht und mal nach unten.


    Auch der ausschließliche Blick auf bereits Veröffentlichtes verwirrt mehr, als dass er Orientierung verschafft. Da gibt es im Grunde nichts, das es nicht gibt. Alles findet Leserinnen und Leser. Irgendwie und mehr oder weniger. Das sprachlich innovative Kreisen um den eigenen Bauchnabel ebenso wie das bräsige Erklären der eigenen Person und, einmal dabei, auch gleich noch des ganzen Universums. Auf der anderen Seite wiederum zum Teil furios erzählte Geschichten, Geschichten über alles Mögliche. Über mordende Psychopathen. Zerstückelte Körper. Sex in allen Pink- und Grautönen. Fantastische Welten. Ferne Welten in einer fernen Zukunft. Oder der düstere Blick in die nahe Zukunft. Die Apokalypse. Oder, besser noch, die Postapokalypse. Oder der rückwärtsgewandte Blick auf die Frühgeschichte, das Mittelalter, Kreuzzüge, Pest, Hexenverbrennungen, Dreißigjähriger Krieg ... die Huldigung der Zwanzigerjahre, das verstörende Sezieren der Dreißiger, das Wiederkäuen des Brots der frühen Jahre, Wende, Wende, ohne Ende ...

    Die Jetztzeit hingegen scheint in all dem verlorengegangen zu sein. Oder sie existiert vorzugsweise in kleinteiligen, in sich geschlossenen Miniaturuniversen.


    Bereits die Tatsache, dass jede einzelne dieser so grundverschiedenen Geschichten ihre Leserinnen und Leser findet, zeigt, dass all diese Bücher wichtig sind. Angesichts einer solch enormen Diversität erstaunt es deshalb aber umso mehr, dass es im Hier und Jetzt angesiedelte Geschichten mit einem erkennbaren Bezug zur Realität deutlich schwerer haben, bereits die Agenturhürde zu nehmen. Natürlich bestätigen Ausnahmen auch hier die Regel.


    In diesem Zusammenhang besonders irritierend sind die starren Genrevorgaben und immer häufiger auch die Subgenreschubladen, in die eine Geschichte gefälligst zu gehören hat. Die Bloggerin Tonya Thompson listet sage und schreibe 144 Genres und Subgenres auf. Einhundertvierundvierzig! Wenn das eine Orientierungshilfe sein soll, bräuchte zumindest ich eine Orientierungshilfe zur Orientierungshilfe. Kann mir zum Beispiel jemand erklären, warum es ein extra Subgenre für Geschichten über verliebt tuende Gockel geben muss, die ordentlich was auf dem Konto haben, und ein anderes für die Schilderung der Alltagsprobleme von Leuten mit überlangen Eckzähnen, die vergleichsweise populäre Gattung der Roadnovels hingegen als eigenständiges Genre in den meisten Genreauflistungen fehlt? Und last, but not least, warum die Erzählerinnen und Erzähler berührender, unterhaltsamer, spannender Geschichten, die in der Gegenwart angesiedelt sind und die eine Realität spiegeln, die problemlos auch als solche zu identifizieren ist, sehr schnell mit der Frage konfrontiert werden, was denn das für ein Genre sein soll? Und während man noch denkt, wow, Jetztzeit und Realität als Zweiklang sind also eine Nische, fallen sie auch schon, die Worte, die fast schon zu Synonymen für eine Ablehnung geworden sind: Genremix ... Hm ... genreübergreifend ... schwierige Genreverortung ... genrelos ... Puh ... Nee, nee ... das geht nicht.

    Das heißt, es geht doch. Dazu muss man allerdings vorzugsweise Angelsachse sein. Die ignorieren deutsche Genreschubladen einfach und haben trotzdem Erfolg. Auch hierzulande. Aber das nur am Rande.


    Was ich gerne wissen will:

    - Warum sind Genreschubladen insbesondere hier in Deutschland so immens wichtig?

    - Wer hat davon einen Vorteil? Wer hat davon den größten Vorteil?

    - Deshalb an euch als Leserinnen und Leser die Frage: Braucht ihr diese starren und immer stärker differenzierenden Genreeinteilungen?

    - Und an euch als Autorin oder Autor die Frage: Habt ihr selbst schon Erfahrungen mit diesem „Schubladendenken“ gemacht?

    - Wenn ja, wie geht ihr damit um? Wo verläuft für euch die Grenze, bis zu der ihr dem Anpassungsdruck nachzugeben bereit seid?

    - Und zum Schluss die ketzerische, möglicherweise aber auch nur naive Frage: Warum kann nicht jede Geschichte für sich selbst stehen? Oder jede Autorin, jeder Autor? Und auf diese Weise ihr oder sein eigenes „Genre“ begründen?


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

  • Zunächst mal: Als Leser finde ich zumindest eine grobe Zuordnung hilfreich, damit ich im Buchhandel weiß, in welchem Regal ich jetzt suchen muss, wenn ich gerne was Spannendes lesen will, aber ohne Horrorelemente (dann suche ich gezielt nach einem Thriller oder Krimi). ;) Ich benötige dann aber keine Subgenres mehr.


    Die Verlage habe den Vorteil, dass sie allein schon aufgrund des Genres eine Vorstellung von der Zielgruppe haben und diese gezielter mit Werbung etc. ansprechen können. Auch können sie besser abschätzen, wie groß die Zielgruppe etwa ist.

    Meine Agentur hat mir im Spätsommer direkt gesagt, dass es mit meinem Krimi bzgl. der Vermittlung schwieriger wird, weil dieser genreübregreifende Elemente enthält. Bisher hat sie mit der Einschätzung recht. Ich bekomme zwar positives Feedback (auch von den Verlagen), aber dennoch Absagen und immer aufgrund dieses genreübergreifenden Elements, das "zu speziell" sei. Ein Verlag schrieb, dass sie den Schreibstil toll und die Story spannend findet, aber damit keine ausreichend große Zielgruppe erreichen können.

    Ich denke mal, wer schon einen Namen als Autor hat, kann auch mit solch "speziellen" Geschichten punkten, als Neuling wird es schwierig. Um hoffentlich erstmal einen Fuß in die Tür zu bekommen, schreibe ich aktuell an einem Krimi ohne genreübergreifendes Element und schicke diese Woche die Leseprobe an die Agentur.

    Wenn sich für den anderen Krimi kein Verlag findet, veröffentliche ich diesen notfalls selbst. ;) Ich kann mir nicht vorstellen, das genreübergreifende Element zu entfernen, dazu wäre ich dann nicht bereit.


    Aber an welche internationalen Bücher denkst du denn, wenn du schreibst, dass es in anderen Ländern weniger Schubladendenken gibt?

  • Als Leser finde ich zumindest eine grobe Zuordnung hilfreich, damit ich im Buchhandel weiß, in welchem Regal ich jetzt suchen muss, wenn ich gerne was Spannendes lesen will, aber ohne Horrorelemente (dann suche ich gezielt nach einem Thriller oder Krimi).

    Genau das ist der Grund, zumindest ein gewichtiger. Die Buchhändler wissen ansonsten nicht, wo sie dein Buch einordnen sollen, und jeder Leser, der es deshalb nicht findet, weil es beim anderen Genre steht, ist ein verlorener (zumindest für den Verlag, der deshalb auf die Genrefestlegung pocht).

    Warum kann nicht jede Geschichte für sich selbst stehen?

    Weil es dafür nicht genug Regelböden gibt, s.o. ;-)

  • Zuletzt habe ich gelesen: Meyerhoff, T. Mann, Seethaler, Lucy Fricke, Bernhard, Sylvia Plath, Kehlmann.

    Wie sieht es da mit den Genres aus? Weiß nich.

    Dann behaupte ich mal ins Blaue:

    Die Leute in den Agenturen und Verlagen, wissen nicht, was ein Hit werden kann (und was nicht). Sie machen es wie die Leute früher beim Wetterbericht: Sie gucken, wie es gestern gewesen ist und was gestern gut gelaufen ist und extrapolieren dann "Kriterien" für das, was gedruckt werden soll. Da sind Genres ein gute Hilfe. Wenn Regionalkrimis gut laufen, dann gibt es halt in den Buchhandlungen viele Regionalkrimis. Und das Angebot bestimmt ja auch die Nachfrage.

    Nach meinen - äußerst bescheidenen - Erfahrungen mit Agenturen und Verlagen wird da schon sehr auf Genre und Zielgruppe geguckt. Mir kam das immer sehr ängstlich und hilflos vor.

  • Die Verlage habe den Vorteil, dass sie allein schon aufgrund des Genres eine Vorstellung von der Zielgruppe haben und diese gezielter mit Werbung etc. ansprechen können. Auch können sie besser abschätzen, wie groß die Zielgruppe etwa ist.

    Das ist sicherlich so. Aber zementiert das dann nicht auch das Kaufverhalten vieler Käufergruppen? Natürlich bestimmt die Nachfrage das Angebot. Aber das gilt in der umgekehrten Richtung nicht weniger. Ja, Ich frage mich, ob das Gefälle in dieser Richtung nicht sogar stärker ist. Woher wollen Agenturen und Verlage denn wissen, ob Leserin und Leser nicht doch Veränderungen im Angebot wünschen und, falls ja, welcher Art diese Veränderungen sein könnten? Vermutlich zurecht glauben sie mit dem More of the same auf der sicheren Seite zu sein. Diese Rechnung muss aber nicht auf immer und ewig aufgehen. Und warum sind sie gleichzeitig dann alle so verzweifelt auf der Suche nach dem nächsten Harry Potter? Viele der größten kommerziellen Erfolge waren Überraschungserfolge. Und neue Trends kündigen sich in der Regel nicht mit Trommelwirbel an.

  • Zunächst mal: Als Leser finde ich zumindest eine grobe Zuordnung hilfreich, damit ich im Buchhandel weiß, in welchem Regal ich jetzt suchen muss, wenn ich gerne was Spannendes lesen will, aber ohne Horrorelemente (dann suche ich gezielt nach einem Thriller oder Krimi).


    Genau das ist der Grund, zumindest ein gewichtiger. Die Buchhändler wissen ansonsten nicht, wo sie dein Buch einordnen sollen, und jeder Leser, der es deshalb nicht findet, weil es beim anderen Genre steht, ist ein verlorener (zumindest für den Verlag, der deshalb auf die Genrefestlegung pocht).

    Ich betrete eine Buchhandlung nur sehr selten mit einer festen Vorstellung davon, was ich als Lektüre suche. In der Regel weiß ich das nicht einmal annähernd. Für mich ist das Stöbern ein beinahe unverzichtbarer Teil des Buchkaufs, fast eine Art Schatzsuche. Das ist auch der Grund dafür, warum ich zuerst die Regale und Tische mit den Büchern der „Autoren A bis Z“ „abgrase“ und mich erst danach der Genreliteratur zuwende. Von deren strenger Zuordnung fühle ich mich gegängelt, von vornherein festgelegt, und das verdirbt mir den Spaß.

    Aber, okay, jeder Jeck ist anders.

  • Das Beste wird es sein, für seinen eigenen Roman ein Genre zu erfinden (zumal wenn man Schwierigkeiten mit der Zuordnung hat). Ob es das Genre wirklich gibt (was an sich schon eine kuriose Existenzaussage ist), weiß ja bei der Masse und dem Wirrwarr ohnehin niemand. Wenn man dann mit seinem Werk und Genre bei einer Agentur oder einem Verlag vorstellig wird, geraten die unweigerlich in Nervosität. "Verdammt, bedienen wir diese Genre schon?" "Ne, glaub nicht." "Herrje, dann müssen wir schleunigst etwas unternehmen!" Und zack hat man nicht nur einen Vertrag, sondern auch ein exklusives Genre. Hammer!

  • Ich empfinde die Versuche, kategorisiert zu werden, eher im Gegenteil als Chancenverhinderer. Irgendeiner pappt ein Etikett auf Dich drauf und das spricht sich rum - und Leute lesen Dich nicht, Buchhändler ordern Dich nicht, Vertreter pushen Dich nicht, wo sie keinen Bedarf für das Etikett sehen. Irgendjemand hat mich mal in die Lustige-Jungsbücher-Autoren-Riege einsortiert, und ich bekomme immer wieder - und nicht wenige - Nachrichten von erstaunten Erstlesern oder Buchhändlern, die ganz irritiert sind, weil die Romane dann doch sehr anders ausfielen als die (nicht besonders hohen) Erwartungen. Oder die überwiegend suboptimalen Zuordnungen und am Ziel ein paar Millimeter vorbeischießenden Klappentexte suggeriert hatten. Klar, vielleicht sollte ich mich genauer aufstellen, und einfach dieser Schublade entsprechen, aber erstens ist das nicht mein Ding (einer von elf Romanen war so), zweitens will ich keine Texte schreiben, die ich selbst nicht lesen wollen würde, und drittens sind lustige Jungsbücher ungefähr so tot wie Hosenrollenromane. Und das ist dann auch die größte Gefahr bei strikter Genretreue: Dass Du mit dem Genre stirbst. Dass Du aus der Wanne nicht mehr rauskommst, dass Dich der Strudel mit in den Abfluss zieht.

  • Ich behaupte mal, es gibt drei Arten von erfolgreichen Genreautoren. Die ersten sind die, nach denen das Genre definiert wird. Die zweiten sind die, die sich nicht allzustreng an die Regeln halten. Die dritten sind die, die das Genre bis zum Extrem ausnutzen (und sich dabei spätestens ab dem zweiten Werk abnutzen). Vermutlich verdient die dritte Gruppe am Besten.

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zuletzt habe ich gelesen: Meyerhoff, T. Mann, Seethaler, Lucy Fricke, Bernhard, Sylvia Plath, Kehlmann.

    Wie sieht es da mit den Genres aus? Weiß nich.

    Einige dieser Autorinnen und Autoren werden regelmäßig der Hochliteratur zugerechnet, weshalb ich mir nicht sicher bin, ob zumindest die überhaupt relevant sind für das, worüber ich in diesem Thread gerne diskutieren möchte. Für Autorinnen und Autoren, deren Schaffen ganz oder überwiegend diesem Bereich der Literatur zugezählt wird, scheinen andere Regeln zu gelten, falls überhaupt. Gerade die Missachtung von Konventionen ist ja häufig kennzeichnend für sie, wird ihnen sogar das verziehen, was im Falle aller anderen Autorinnen und Autoren als Todsünde gilt: zu langweilen. Aber das Fass Hochliteratur versus Populärliteratur versus Trivialliteratur will ich ganz sicher nicht in diesem Thread aufmachen. Auch nicht in der komprimierten Form U- versus E-Literatur. Religionskriege gibt es auch so schon reichlich.


    Die Geschichten, um die es mir in erster Linie geht, werden häufig mit dem etwas schwammigen Begriff „Gehobene Unterhaltungsliteratur“ etikettiert, sind das, was in vielen Buchhandlungen in den mit „Autoren A bis Z“ gelabelten Regalen zu finden ist. In der Regel sind das Geschichten, in denen in wechselnden Dosierungen Komisches neben Tragischem steht und Triviales neben literarisch anspruchsvollen Phasen existiert. Einige dieser Geschichten wären zur Not auch in eine Genreschublade zu quetschen, aber die meisten zeichnen sich tatsächlich dadurch aus, dass sie so richtig in keine gängige Schublade passen wollen. Dennoch erschließt sich mir nicht, warum das der ausschlaggebende Grund sein sollte, ein Manuskript nicht zu veröffentlichen.

    Das Beste wird es sein, für seinen eigenen Roman ein Genre zu erfinden (zumal wenn man Schwierigkeiten mit der Zuordnung hat). Ob es das Genre wirklich gibt (was an sich schon eine kuriose Existenzaussage ist), weiß ja bei der Masse und dem Wirrwarr ohnehin niemand. Wenn man dann mit seinem Werk und Genre bei einer Agentur oder einem Verlag vorstellig wird, geraten die unweigerlich in Nervosität. "Verdammt, bedienen wir diese Genre schon?" "Ne, glaub nicht." "Herrje, dann müssen wir schleunigst etwas unternehmen!" Und zack hat man nicht nur einen Vertrag, sondern auch ein exklusives Genre. Hammer!

    Absolut coole Idee! ;)

  • Ich empfinde die Versuche, kategorisiert zu werden, eher im Gegenteil als Chancenverhinderer.

    Genau darum geht es mir in diesem Thread. Chancenverhinderung. Warum ein Manuskript veröffentlicht wird und ein anderes nicht, obwohl beide handwerklich gut gemacht sind, sprachlich gängigen Ansprüchen gerecht werden, beide eine berührende oder spannende, in jedem Fall aber unterhaltsame Geschichte erzählen, mit gut herausgearbeiteten Figuren, lebensechten Dialogen und dramaturgisch ohne Fehl und Tadel. Oder ungefähr so. ±5%. Aber dann kommt jemand, klebt auf das eine Manuskript ein grünes Etikett mit der Aufschrift 2. Schublade von links, vierte Reihe von unten. 1x waschen, entlausen, föhnen, trimmen und auf das andere Manuskript ein rotes Etikett mit der Aufschrift Schublade nicht vorhanden! Bitte schreddern.

    Und dann stelle ich mir vor, wie viele lesenswerte Geschichten deswegen ungelesen bleiben und wie viele andere Geschichten daraufhin nie geschrieben werden. Und was es für die Chancen eines bislang unveröffentlichten Autors bedeutet, wenn sogar etablierte Veröffentlichte mit diesem Problem konfrontiert werden.


    Was ich gleichfalls nicht verstehe: Wenn Genreschubladen schon als unentbehrlich vorausgesetzt werden, warum dann nicht anstelle der Geschichten die Schubladen passend machen? Die Schubladen etwas flexibler zu gestalten, anstatt immer neue Subgenres zu etablieren, die noch mehr Einschränkungen mit sich bringen?

    Ein konkretes und nur leicht verfremdetes Beispiel: Eine Geschichte, in der sexuelle Gewalt und Missbrauch eine zentrale Rolle spielen, ohne indes eine Geschichte über sexuelle Gewalt und Missbrauch zu sein. Stattdessen Unterhaltungsliteratur im besten Sinne. Eine Gratwanderung, zugegeben. Opfer, die keine Opfer sein wollen. Die sich ins Leben zurückkämpfen. Dreiviertel der Geschichte 'on the road', fast also eine Roadnovel. Eine Geschichte, in der viel gelacht wird und in der einem das Lachen ebenso oft im Halse stecken bleibt. Eine Geschichte über Freundschaft. Eine Liebesgeschichte zuletzt.

    Und das eine der Reaktionen auf diese Geschichte: „Sehr schöne, überaus interessante Geschichte. Aber die Genreverortung ist schwierig, um nicht zu sagen unmöglich. Aber wenn die Liebesgeschichte deutlich ausgebaut würde ... ja, die Geschichte als Liebesroman erzählen ...“

    Ja, dann wäre es irgendeine Geschichte, aber nicht mehr die Geschichte, die erzählt werden wollte. Und es steht für mich außer Zweifel, dass die Geschichten, die eine Autorin, die ein Autor erzählen will, potentiell die besseren Geschichten sind, verglichen mit denen, die sie erzählen sollen.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

  • Nicht alle Schubladen sind Genre, und nicht jeder Autor schreibt Genre. Das wird zuweilen sogar negativ konnotiert. Das meiste aus der zeitgenössischen Literatur ist nicht Genre, es gehört dort auch nicht hin und wird üblicherweise auch nicht so verortet. Der Begriff, den es ja u.a. auch in der Journalistik gibt, ist ein bisschen unscharf und mehrdeutig.

  • Für mich ist das Stöbern ein beinahe unverzichtbarer Teil des Buchkaufs, fast eine Art Schatzsuche

    Es gibt Genres, die ich überhaupt nicht lese, deswegen gucke ich lieber gezielt und das meist im Bereich Krimi, Thriller oder Fantasy. ;)

    Und das ist dann auch die größte Gefahr bei strikter Genretreue: Dass Du mit dem Genre stirbst. Dass Du aus der Wanne nicht mehr rauskommst, dass Dich der Strudel mit in den Abfluss zieht.

    Das ist dann wie bei Schauspielern, die mit einer Rolle bekannt geworden sind und dann auf diese Art Figur festgelegt werden (und auch oft keine Chance mehr bekommen, mal jemand völlig anderen zu spielen).

  • Zitat

    Und an euch als Autorin oder Autor die Frage: Habt ihr selbst schon Erfahrungen mit diesem „Schubladendenken“ gemacht?

    ein ganz klares "Ja". Das ging soweit, dass ich so sauer auf meine letzte Lektorin war (die zum Glück auch blitzschnell wieder weg vom Verlag war), dass ich angeboten hatte, den Vertrag aufzulösen. Es geht ja nicht nur um Genrezuordnungen, sondern insbesondere um die damit verbundenen "Maßgaben" an die Protogonisten. Die müssen ein bestimmtes Geschlecht haben, die müssen bestimmte Verhaltensweisen haben usw. Das geht soweit, dass eine Lektorin eines der größten Verlage mir tatsächlich gesagt hat: Ich verstehe, dass Sie die Handlungen und die Gedanken und Gefühle ihrer Protagonistin als authentische Figur ihrer Zeit zeigen möchten, aber unsere LeserInnen sind ... Jahre alt und sehen das anders/verstehen das nicht und dann mögen sie die Protagonistin nicht mehr, folgen ihr nicht mehr. Da muss man dann lieber mal ein weniger geschichtstreu sein, sondern das ein wenig "anpassen". :bonk:bonk:bonk


    Zitat

    Das ist sicherlich so. Aber zementiert das dann nicht auch das Kaufverhalten vieler Käufergruppen? Natürlich bestimmt die Nachfrage das Angebot. Aber das gilt in der umgekehrten Richtung nicht weniger.

    Schon mehrfach habe ich mir gewünscht (und das auch an entsprechender Stelle gesagt), dass die Verlage doch mehr Mut haben sollten, der Leserschaft differenziertere Geschichten anzubieten. Vielleicht finden die LeserInnen den Stoff ja richtig gut und das entsprechende Werk findet reißenden Absatz. Aber es scheinen mir die wirtschaftlichen Zwänge der Verlage in den letzten zehn, fünfzehn Jahren nochmals zugenommen zu haben. Investiert wird in weniger Titel, die die Gewinne des Verlages ausmachen sollen und die offenbar nicht groß genug sind, um einen Flop in der Midlist auszugleichen.


    Dieses Thema, dass Du lieber Jürgen hier aufmachst, rumort in mir schon seit einiger Zeit und ich bin persönlich inzwischen (schreibtechnisch) so frustriert, dass ich seit einem Jahr, "meinen" Verlagen überhaupt keine Geschichte mehr angeboten habe, obwohl die Bereitschaft zu weiteren Titeln seitens beider Verlage kommuniziert wurde. Dabei hätte ich Lust zu schreiben, aber eben nicht mehr für die Schublade. Die Zeiten sind vorbei und Klinkenputzen bei anderen Verlagen ? Liegt mir irgendwie nicht. Ich will schreiben und nicht die Zeit damit verbringen, mich bestmöglichst zu vermarkten.

  • Schon mehrfach habe ich mir gewünscht (und das auch an entsprechender Stelle gesagt), dass die Verlage doch mehr Mut haben sollten, der Leserschaft differenziertere Geschichten anzubieten. Vielleicht finden die LeserInnen den Stoff ja richtig gut und das entsprechende Werk findet reißenden Absatz.

    Jetzt habe ich das Glück, dass ein Verlag dies jetzt macht und sich auf mein - finde ich - nicht in einen Genre passenden - Stoff einlässt. Vielleicht erfinden die noch dafür eins.

  • Ich will schreiben und nicht die Zeit damit verbringen, mich bestmöglichst zu vermarkten.

    Das ist etwas, das ich auch unterschreiben würde. Unterschrieben hätte. Für unterschreibreif gehalten hätte.


    Tatsächlich aber scheint es mir so zu sein, dass ohne eine gewisse Eigenleistung nichts mehr geht. So, wie wir in Supermärkten inzwischen die Aufgaben der Servicekräfte mitübernehmen - vom Einkaufswageneinsortieren über das Abwiegen loser Ware bis zur Abwicklung des Bezahlvorgangs -, hat sich auch in diesem Bereich die erwartete Selbstbeteiligung deutlich erhöht. Die Verlage beschäftigen zwar beispielsweise Social Media-Beauftragte oder -Agenturen, aber es wird erwartet, dass man sich in diesem Bereich aktiv umtut, während die Spezialisten vor allem den Bestsellern unter die Arme greifen oder für diese komplett übernehmen. Gerade von der Midlist wird aber noch deutlich mehr erwartet, und es geht hier - auch bei großen Verlagen - immer mehr in die Richtung "Wir machen halt Bücher und warten ab, was passiert". Dieses Abwarten müssen dann die Autoren nach Kräften positiv beeinflussen.


    Dies nur am Rande zu diesem Seitenthema.


    Aber so lange, wie ich in dieser Branche unterwegs bin, höre ich schon, dass die Verlage auf Nummer sicher gehen, dass es immer schwieriger wird, dass die Experimente heruntergefahren werden, dass die Zahlen schlecht sind undsoweiter undsofort. <X All das bekommen wir Autoren zu hören, damit man uns etwas einfacher über den Tisch zerren und zu "sicheren" Projekten, äh, bewegen kann. Leider müssen sich die Agenturen das gleiche anhören, können also auch nicht unbedingt helfen. Wobei ich Agenten kennengelernt habe, die sich dabei gefallen, diese Aussagen wiederzukäuen, um ihre eigene Leistung zu rechtfertigen.

  • …Ich will schreiben und nicht die Zeit damit verbringen, mich bestmöglichst zu vermarkt

    So ist es. Nach ähnlichen Erfahrungen vor eineinhalb Jahren habe ich meine Projekte ebenfalls nicht mehr angeboten - mit einer Ausnahme Ende letzten Jahres, bei der ich aber eine "nette" Absage bekam in der Art, dass die Lektorin das Buch sehr gerne lesen würde, jedoch keine Chance sähe, es in ihrem Verlag unterzubringen. Ich schreibe deshalb anderes und gehe wandern (was auch zu Büchern führt) und bin damit bis Ende März (vielleicht April) ausreichend beschäftigt. Danach werde ich noch einmal versuchen meine Projekte unterzubringen - aber nicht um jeden Preis. Es sind nämlich nicht nur die wirtschaftlichen Zwänge, die die Verlage vorgeben – immerhin können sie ja vom Geschäftsführer über die Lektoren und die Verwaltungsangestellten alle regelmäßig bezahlen, nur den Autorinnen und Autoren wird immer etwas über die schlechte Situation vorgejammert.

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Ich glaube, dass das sehr damit zu tun hat, was man jetzt unter "Genre" versteht. Eigentlich ist das ja ein etwas abwertender Begriff und bedeutet sowas wie "trivial" und nach einem immer gleichen Strickmuster konstruiert. "Western" und "Science Fiction" enttäuschen ihr Kernpublikum ohne Beachtung einiger grundsätzlicher Konventionen, nur sehr selten geht es da um Liebesgeschichten oder Spiritualität. Zumindest nicht im Kern.

    Deswegen verkauft sich Genre auch gut, ich gebe zu, dass ich das oft eben auch sehr mag. Ich kaufe mir ein "hirnloses" Buch zur Unterhaltung und lese es schnell durch.

    Wenn ich einen Roman mit einem dunklen Cover aus dem Regal ziehe, von einem Autoren, dessen Name mit "döttrson" endet und mit einem Blurb von einem skandinavischen Krimibestsellerautor, dann erwarte ich und will ich, dass da ein depressiver Ermittler einen sadistischen Serienmörder jagt. Wenn es dann plötzlich drei andere Handlungsstränge gibt, von denen einer im Weltraum und einer in Cornwall spielt, dann bin ich eher nicht so zufrieden.

    So funktioniert Genre nunmal und wenn man sich in dieser Riege umtun will, dann muss man diese Regeln auch beachten.


    Wenn einem diese Festlegungen aber nicht liegen, dann könnte man versuchen, sich eher an ernsthafter Literatur zu orientieren, die sich eben dadurch auszeichnet, dass sie eben nicht nach Schema F funktioniert. Die von tortitch angeführten Leute würde ich in diesem Sinne alle nicht in der Genreecke verorten.

    “Life presents us with enough fucked up opportunities to be evaluated, graded, and all the rest. Don’t do that in your hobby. Don’t attach your self worth to that shit. Michael Seguin

  • Das ist dann wie bei Schauspielern, die mit einer Rolle bekannt geworden sind und dann auf diese Art Figur festgelegt werden

    Weshalb viele deutsche Schauspieler das auch nur so mittelhalbgerne machen, und nicht in der extremen Ausschließlichkeit und mit der hohen Intensität, mit/in der das beispielsweise amerikanische Seriendarsteller tun, die für die Dauer der Serie mit der Figur nachgerade verschmelzen. Die allerdings auch ein wenig anders dafür vergütet werden als Leute, die bei uns durch Vorabendkrimis gereicht werden. Was fast das einzige Format ist, das hierzulande derzeit in nennenswertem Umfang produziert wird.


    Aber das betrifft nicht nur "Genre" in der üblichen Definition, es ist fast generell bei Künstlern so, bei Malern, Schauspielern, Autoren, Musikern. Es muss irgendwie Deins geben, mit dem man Dich verbindet, mit dem Du gleichgesetzt wirst, und wenn Du Deins nicht (mehr) machst, dann ist das höchstens ein Seitenprojekt, etwas, das Du sowieso nicht ganz so ernstnimmst, ein Ausloten Deiner Grenzen. Das muss man dann auch nicht anhören, lesen, anschauen. Nicht unbedingt. Oder nur, wenn man eher Fan Deiner Person als Fan Deiner Sachen ist. Dabei spielt dann auch eine eher untergeordnete Rolle, ob dieses Zeug besser ist als Deins oder nicht.