Ermuntert von Horst-Dieters Nachbarthread „Liste aller Genres“: Mich würden eure Gedanken und Meinungen zum Thema Genre und speziell dem der Genrelosigkeit interessieren, verbunden mit der Hoffnung, vielleicht auch ein paar Antworten zu erhalten auf Fragen, die mich schon seit einiger Zeit beschäftigen.
Von den 999 pro 1000 unverlangt eingesandten Manuskripten, die keinem der für eine Veröffentlichung relevanten Kriterien gerecht werden, soll hier ausdrücklich nicht die Rede sein. Das vorausgeschickt ...
Schreiben können alle. Klar. Viele schreiben sogar richtig gut und die meisten haben auch etwas zu sagen. Erzählen berührende, unterhaltsame, spannende Geschichten. Und natürlich existieren alle vorstellbaren Schattierungen zwischen Genialität und, nun ja, nicht ganz so Genialem. Veröffentlicht werden sowohl das eine wie das andere. Manchmal. Oder, ungleich häufiger, eben nicht. Und ohne dass verlässliche Kriterien erkennbar würden, die dem nach Orientierung Suchenden dabei hülfen nachzuvollziehen, warum der Daumen mal nach oben geht und mal nach unten.
Auch der ausschließliche Blick auf bereits Veröffentlichtes verwirrt mehr, als dass er Orientierung verschafft. Da gibt es im Grunde nichts, das es nicht gibt. Alles findet Leserinnen und Leser. Irgendwie und mehr oder weniger. Das sprachlich innovative Kreisen um den eigenen Bauchnabel ebenso wie das bräsige Erklären der eigenen Person und, einmal dabei, auch gleich noch des ganzen Universums. Auf der anderen Seite wiederum zum Teil furios erzählte Geschichten, Geschichten über alles Mögliche. Über mordende Psychopathen. Zerstückelte Körper. Sex in allen Pink- und Grautönen. Fantastische Welten. Ferne Welten in einer fernen Zukunft. Oder der düstere Blick in die nahe Zukunft. Die Apokalypse. Oder, besser noch, die Postapokalypse. Oder der rückwärtsgewandte Blick auf die Frühgeschichte, das Mittelalter, Kreuzzüge, Pest, Hexenverbrennungen, Dreißigjähriger Krieg ... die Huldigung der Zwanzigerjahre, das verstörende Sezieren der Dreißiger, das Wiederkäuen des Brots der frühen Jahre, Wende, Wende, ohne Ende ...
Die Jetztzeit hingegen scheint in all dem verlorengegangen zu sein. Oder sie existiert vorzugsweise in kleinteiligen, in sich geschlossenen Miniaturuniversen.
Bereits die Tatsache, dass jede einzelne dieser so grundverschiedenen Geschichten ihre Leserinnen und Leser findet, zeigt, dass all diese Bücher wichtig sind. Angesichts einer solch enormen Diversität erstaunt es deshalb aber umso mehr, dass es im Hier und Jetzt angesiedelte Geschichten mit einem erkennbaren Bezug zur Realität deutlich schwerer haben, bereits die Agenturhürde zu nehmen. Natürlich bestätigen Ausnahmen auch hier die Regel.
In diesem Zusammenhang besonders irritierend sind die starren Genrevorgaben und immer häufiger auch die Subgenreschubladen, in die eine Geschichte gefälligst zu gehören hat. Die Bloggerin Tonya Thompson listet sage und schreibe 144 Genres und Subgenres auf. Einhundertvierundvierzig! Wenn das eine Orientierungshilfe sein soll, bräuchte zumindest ich eine Orientierungshilfe zur Orientierungshilfe. Kann mir zum Beispiel jemand erklären, warum es ein extra Subgenre für Geschichten über verliebt tuende Gockel geben muss, die ordentlich was auf dem Konto haben, und ein anderes für die Schilderung der Alltagsprobleme von Leuten mit überlangen Eckzähnen, die vergleichsweise populäre Gattung der Roadnovels hingegen als eigenständiges Genre in den meisten Genreauflistungen fehlt? Und last, but not least, warum die Erzählerinnen und Erzähler berührender, unterhaltsamer, spannender Geschichten, die in der Gegenwart angesiedelt sind und die eine Realität spiegeln, die problemlos auch als solche zu identifizieren ist, sehr schnell mit der Frage konfrontiert werden, was denn das für ein Genre sein soll? Und während man noch denkt, wow, Jetztzeit und Realität als Zweiklang sind also eine Nische, fallen sie auch schon, die Worte, die fast schon zu Synonymen für eine Ablehnung geworden sind: Genremix ... Hm ... genreübergreifend ... schwierige Genreverortung ... genrelos ... Puh ... Nee, nee ... das geht nicht.
Das heißt, es geht doch. Dazu muss man allerdings vorzugsweise Angelsachse sein. Die ignorieren deutsche Genreschubladen einfach und haben trotzdem Erfolg. Auch hierzulande. Aber das nur am Rande.
Was ich gerne wissen will:
- Warum sind Genreschubladen insbesondere hier in Deutschland so immens wichtig?
- Wer hat davon einen Vorteil? Wer hat davon den größten Vorteil?
- Deshalb an euch als Leserinnen und Leser die Frage: Braucht ihr diese starren und immer stärker differenzierenden Genreeinteilungen?
- Und an euch als Autorin oder Autor die Frage: Habt ihr selbst schon Erfahrungen mit diesem „Schubladendenken“ gemacht?
- Wenn ja, wie geht ihr damit um? Wo verläuft für euch die Grenze, bis zu der ihr dem Anpassungsdruck nachzugeben bereit seid?
- Und zum Schluss die ketzerische, möglicherweise aber auch nur naive Frage: Warum kann nicht jede Geschichte für sich selbst stehen? Oder jede Autorin, jeder Autor? Und auf diese Weise ihr oder sein eigenes „Genre“ begründen?
Herzliche Grüße,
Jürgen