Thomas Bernhard: Der Untergeher

  • Thomas Bernhard: Der Untergeher

    4 von 5 Sternen.

    Ein Mann (der Ich-Erzähler), der von einer Beerdigung kommt, betritt ein Wirtshaus und lässt sich von der Wirtin ein Zimmer zeigen. Anschließend geht er zu dem Haus, in dem der Verstorbene zuletzt gewohnt gewohnt hat.

    In der Taschenbuch-Ausgabe zieht sich das über 242 Seiten. Keine 10 % davon gehen auf das Konto der beschriebenen äußeren Handlung. Der Rest wird von einem inneren Monolog ausgefüllt, in dem es um Glenn Gould, Wertheimer und den Ich-Erzähler geht. Wertheimer ist ein Freund des Ich-Erzählers und er ist auch der, der bei der Beerdigung bestattet wurde, nachdem er Selbstmord begangen hatte. Die drei lernen sich 1953 bei einem Klavierseminar von Horowitz kennen. Wertheimer und der Ich-Erzähler hören Glenn Gould die Goldberg-Variationen von Bach spielen und sind – als Klavierspieler und nicht nur als solche – vernichtet. Ihnen ist sofort klar, dass sie im Vergleich mit dem Genie Gould ohne Bedeutung sind. Während der Ich-Erzähler Goulds „Klavierradikalismus“ zwar bewundert, sich aber noch halbwegs distanzieren kann, geht der „Untergeher“ (Wertheimer) an dem Vergleich mit dem Genie zugrunde. Er entkommt seiner eigenen „Lebensfalle“ nicht mehr und wählt irgendwannden Selbstmord.

    Das Genie, sein Kunstradikalismus und die Frage, wie man dem begegnet, ist eines der Themen, das immer wieder aufgegriffen und in gedanklichen Schleifen variiert wird. Formal mag man hier also die Variation (und ihre Redundanz) als strukturbildend erkennen. Auf jeden Fall gibt es den typischen Bernhard-Sound und das Fehlen von Kapiteln (und weitgehend auch Absätzen).

    Nichts für graupelverschauerte Novemberabende, wenn’s einem ohnehin schon misanthropisch im Brustkasten nistet.

    Der Roman ist von 1983 und Glenn Gould war in Wirklichkeit kein Schüler bei Horowitz.

  • Wertheimer und der Ich-Erzähler hören Glenn Gould die Goldberg-Variationen von Bach spielen und sind – als Klavierspieler und nicht nur als solche – vernichtet. Ihnen ist sofort klar, dass sie im Vergleich mit dem Genie Gould ohne Bedeutung sind. Während der Ich-Erzähler Goulds „Klavierradikalismus“ zwar bewundert, sich aber noch halbwegs distanzieren kann, geht der „Untergeher“ (Wertheimer) an dem Vergleich mit dem Genie zugrunde.

    Zufällig habe ich gestern in Thomas Manns Novelle "Tonio Kröger" (ja, ich lese gerade Mann :blume) folgendes gelesen. Da spricht der Künstler (Schriftsteller) selbigen Namens: "Wie Künstler verachten niemand gründlicher als den Dilettanten, den Lebendigen, der glaubt, obendrein bei Gelegenheit einmal Künstler sein zu können."

    Dabei ist das Interessante, dass Tonio Kröger seinerseits darunter leidet, nicht zu "den Lebendigen" zu gehören.


    Das ist die komplementäre Sicht auf die Thematik. Bei Bernhard leidet "der Normale" daran, dass er er kein Künstler ist; bei Mann leidet der Künstler daran, dass er kein "Lebendiger" ist.

    „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“

    Samuel Beckett (1906–1989)