Vorwarnen und aufoktroyieren = Tautologien?

  • Hallo!

    An anderer Stelle ist Sprachkritik an der Verwendung der Wörter "vorwarnen" und "aufoktroyieren" geübt worden: Diese zusammengesetzten Wörter seien Tautologien, da die jeweiligen Vorsilben "vor-" und "auf-" etwas ausdrücken, was im Grundwort "warnen" bzw. "oktroyieren" eigentlich schon benannt sei. Ein Stichprobe aus dem Internet:

    Zitat

    Jedoch erkennt die weniger gebildete Person beim oktroyieren nicht, dass das auf schon drinsteckt, darum hört man diese Wortverwendung recht häufig.

    Dies ist ein Beispiel, wo die Sprachkritik in Personenkritik umschlägt, indem dem Sprachnutzer, der angeblich noch in "recht häufiger" Zahl auftritt, mangelnde Bildung unterstellt wird.

    Aber es kann ganz einfach gezeigt werden, dass eine "Warnung" durchaus etwas anderes bedeutet als eine "Vorwarnung": Ich lebe in einem vom Hochwasser gefährdeten Gebiet; da hätte ich schon gern nicht nur eine allgemeine Unwetterwarnung, sondern auch eine konkrete Vorwarnung, dass die Gefahr unmittelbar bevorsteht und ich die Möglichkeit habe, meine Sachen zu packen.

    Denn die Logik, die hinter der obigen Sprachkritik steckt, lautet: Die Bedeutung eines Wortes setzt sich additiv aus seinen Bestandteilen zusammen, sie ist die Summe der Wortteile, ähnlich wie 1 + 1 = 2. Aber dies ist eine aus der Luft gegriffene Behauptung.

    Vor- und Nachsilben haben eine ganz besondere Funktion in der Sprache. Sie fügen nicht einfach eine Bedeutung hinzu, sondern sie geben dem Grundwort eine neue Bedeutung.

    Genauer: Sie konkretisieren das Grundwort. Beispiel: "anhalten". Zunächst könnte man dies auch für eine Tautologie halten, da das örtliche "an" in dem "Halten" eigentlich schon angelegt ist, da man ja an irgendeinem Ort stoppen muss. Aber als Präfix von "anhalten" verliert "an" seine ursprünglich lokale Bedeutung. Es verbindet sich nicht einfach additiv mit "halten", sondern es bewirkt, dass eine spezielle, besondere Bedeutung von "halten" herausgehoben wird. ("Der Bus hält an der Ampel" ist umfassender als "Der Bus hält an der Ampel an.") Also: Ist der Sprecher, der die Spezialisierungsfunktion der Präfixe ausgiebig nutzt, eine "weniger gebildete Person"?

    Bei Nachsilben ist das ähnlich: das Suffix -er konkretisiert das allgemeine "backen", das alle Tätigkeiten des Backens umfasst, zu einer Person, die das Backen als Beruf betreibt: "Bäcker". Dieser konkretisierte Bäcker ist aber auch wieder ein Allgemeinbegriff, der sich mit dem Suffix -in zum Ausdruck von Personen, die das Backen als Beruf betreiben und weiblich sind, spezialisiert: "Bäckerin". Mit jedem Suffix wird die Abstraktheit des Grundworts (Unmarkiertheit) um einen Schritt stärker markiert. Dies ist übrigens ein Verfahren, das nicht rückgängig zu machen ist, das heißt, ein spezialisierter Begriff ("Bäckerin") kann seine Spezialbedeutung nicht aufgeben und zur Abstrakttionsstufe eines "Bäckers" (der aller Personen ausdrückt, die Backen als Beruf betreiben) zurückkehren.

    Zum "aufoktroyieren": Das Wort hat seit der 15. Auflage (1961) seinen Eintrag im Rechtschreibduden (seit 1976 im Sprachbrockhaus). Da scheinen die "Ungebildeten" sich ja mal wieder durchgesetzt zu haben. :)

  • Als ich in meiner Jugend politisch aktiv war und wir uns arrogant damit geschmückt haben, Termini zu verwenden, die andere Schüler unseres Alters nicht einsetzten (dafür sahen diese Schüler besser aus als wir und hatten auch mehr Spaß in ihrer Freizeit), gehörte es zum guten Ton untereinander, also innerhalb der Peergroup, sich arrogant-amüsiert zu korrigieren, wenn jemand "aufoktroyieren" sagte, also das "auf" aus der Bedeutung "aufzwingen" verdoppelte. Man gab sich damit als ähnlich unwissend zu erkennen wie jemand, der "zumindestens" sagte. Unsere Altersgenossen, obgleich überwiegend Gymnasiasten, konnten mit beiden Fassungen des Begriffs nichts anfangen, was uns den Anstrich einer Elite gab. Dass man zum Oktroyieren zumeist einen politischen Kontext benötigt, ignorierten wir geflissentlich. Elite war gut. Wir wollten Elite sein.


    Ich meine auch, dass die Vorsilbe beim "Vorwarnen" die Aussage des Verbs ergänzt und insofern ausweitet. Eine Warnung steht zumeist in Verbindung mit einem konkreten Anlass oder einer Situation, die mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird, während sich eine Vorwarnung noch in einem Abstand bewegt, der auch die Vermeidung mit mindestens gleicher Wahrscheinlichkeit erlaubt. Unbestritten sei jedoch, dass diese Bedeutungsnuancen nicht von jedem, der die Begriffe verwendet, auch gemeint sind.

  • Ich finde das Zitat aus der Quelle amüsant, denn eine weniger "gebildete" Person würde auch niemals das Wort "oktroyieren" benutzen. Egal, ob mit oder ohne "auf" davor. ;)

    Grundsätzlich käme ich aber nie auf die Idee die Bildung nur anhand der Sprache zu beurteilen. Die eigentliche Kunst ist es doch, auch schwierige Sachverhalte mit einfachen Worten zu erklären. Wenn jemand die einfachsten Sachverhalte dagegen möglichst kompliziert erklärt, ist das für mich kein Zeichen von Bildung, sondern für Angeberei.

    Sorry, wenn das zu weit vom eigentlichen Thema wegführt.

    Zurück zum Thema:

    "Aufoktroyieren" liest sich für mich komisch, "vorwarnen" dagegen nicht. Letzteres verwende ich selber auch häufiger, weil ich es – so wie beide Vorredner – auch anders interpretiere als das Wort "warnen", das ich deutlich seltener verwende. Kommt aber auch auf den Kontext an.

    Bei einer Aussage wie "Lass dir das eine Warnung sein", käme ich nie auf die Idee stattdessen zu schreiben "Lass dir das eine Vorwarnung" sein.

  • Ich hab das nie verstanden, warum ausgerechnet "Weißer Schimmel" als Beispiel für eine Tautologie herangezogen wird. Schwarzen Schimmel gibts ja schließlich auch und dazwischen muss zuweilen unterschieden werden können. ;)

    Leider ist "Schwarzer Rappe" auch nicht besser geeignet, schließlich gibts auch "Schusters Rappen" ... ;)

    "Chef, ich hab ne Maurerblockade! Guck, ich kann die Kelle kaum heben." :help - "Ja, Jung, versteh ich. Kann man nix machen. Lass Dir Zeit ..." :streichel1

  • Ingo S. Anders: Ich habe eigenartige Assoziationen, denn ich muss an das hier denken: "Egal wie dicht du bist, Goethe war Dichter."

  • Elite war gut. Wir wollten Elite sein.

    Das ist witzig, weil ich heute noch an Folgendes gedacht habe: Der Ausdruck "Elite" kam mir zum ersten Mal als Kind in Form einer Joghurtmarke unter. Bis heute ist meine erste Assoziation, wenn ich das Wort höre: Weißer, süßer Glibber. Insofern fand ich es auch nie erstrebenswert, dazu gehören zu wollen.

    „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“

    Samuel Beckett (1906–1989)

  • Vor vielen Jahren, als meine Tochter getauft werden sollte, lud die Pastorin zu einem Vorgespräch ein. Danach und als die Taufe immer näher rückte, wurde ich von Tag zu unruhiger, weil ich glaubte, dem Vorgespräch müsse das eigentliche Gespräch folgen, bis meine Frau mich über die Sachlage aufklärte. Ein beschämender Erkenntnisprozess... oder beschämende Erkenntnis? Irgendwie so...

  • Und bezieht sich "Tautologie" nicht auf Sätze und sollte hier nicht von "Pleonasmus" die Rede sein?, klugschiss er.

    • Tautologie (Sprache), stilistisch eine Häufung gleichbedeutender Wörter, klugscheißt Wikipedia.
    • Und eben diese Quelle sagt zum Pleonasmus: Ein Pleonasmus liegt vor, wenn innerhalb einer Wortgruppe eine bestimmte Bedeutung mehrfach auf unterschiedliche Weise (oft mit verschiedenen Wortarten, etwa Adjektiv/Substantiv) zum Ausdruck gebracht wird oder wenn Ausdrucksmittel verwendet werden, die keine zusätzlichen Informationen beisteuern. Diese Figur kann somit auf semantischer Ebene redundant sein, jedoch die Wirkung einer Aussage steuern.
  • Also, ich finde, vorwarnen hat schon eine leicht andere Bedeutung als warnen. Wenn die Nachbarn sagen: "Vorsicht, wenn ihr uns besucht: Wir haben einen bissigen Hund!", dann haben sie mich vorgewarnt - nämlich bevor ich mich in die heikle Situation begebe. Wenn ich aber bei den Nachbarn die Hand ausstreckte, um den Hund zu streicheln, und sie sagen: "Vorsicht, der beißt!", dann warnen sie mich.


    In dem Fall halte ich den Unterschied für eine zwar verzichtbare, aber doch die Sprache bereichernde Nuance.

  • Vor vielen Jahren, als meine Tochter getauft werden sollte, lud die Pastorin zu einem Vorgespräch ein. Danach und als die Taufe immer näher rückte, wurde ich von Tag zu unruhiger, weil ich glaubte, dem Vorgespräch müsse das eigentliche Gespräch folgen, bis meine Frau mich über die Sachlage aufklärte. Ein beschämender Erkenntnisprozess... oder beschämende Erkenntnis? Irgendwie so...

    Das finde ich aber auch verwirrend. ;) Bei Bewerbungsprozessen gibt es ja auch oft ein Vorgespräch am Telefon, bevor dann das "richtige" Gespräch folgt.

  • Warum haben sie dich in deinem Beispiel dann nicht gewarnt? Warum braucht's eine Warnung vor (zeitlich) der Warnung? Verstehe ich nicht.

    Für mein Verständnis ist eine Vorwarnung dann gegeben, wenn der Zeitpunkt des Eintritts der Gefahr nicht klar ist, z.B. bei einem Vorwarnsystem vor Tsunamis oder Erdbeben, oder wenn nicht klar ist, ob eine Gefahr wirklich besteht. Eine Warnung ist konkreter hinsichtlich Zeitpunkt und Gefährlichkeit.

  • Warum haben sie dich in deinem Beispiel dann nicht gewarnt? Warum braucht's eine Warnung vor (zeitlich) der Warnung? Verstehe ich nicht.

    Das Wort "vorwarnen" ist ein spannender Fall. Meine These lautet jetzt, dass sich dieses Wort gerade in den Wortschatz unserer Standardsprache eingepflegt hat, was dazu führt, dass wir es zwar benutzen können, aber seine Spezialbedeutung noch gar nicht so gut kennen. Darauf weise ich nochmal hin, dass unsere Sprache ein halbintentionales System ist, das irgend etwas macht, was wir grundsätzlich erst im nachhinein (post festum) analysieren und verstehen können. Hier vorschnell zu behaupten, das sei ein "Fehler" oder der Sprecher sei "ungebildet", ist unseriös.

    1. Oben im Zitat steht, dass eine Warnung vor der Warnung unverständlich sei. Interessanterweise versucht "Wahrig deutsches Wörterbuch" von 1975 gerade so das Wort zu erklären. Er bringt es mit dem Vorarlarm des Zweiten Weltkriegs in Verbindung, als ein dreimaliger langer Sirenenton vor dem eigentlichen Fliegeralarm erklang. (Ob das haltbar ist, ist eine andere Frage.)

    2. Aber wir wissen von anderen Fällen, dass Wörter, wenn sie als Vorsilben benutzt werden, ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren (diese "verblasst"): Vorwurf, Vorteil etc. Deshalb steht im selben Wahrig, dass "Vorwarnung", eingeschränkt als umgangssprachliches Wort, die Bedeutung von Warnung verstärkt. Dies sieht man auch bei so beliebten Fällen wie "der einzigste", wo der Superlativ eine rhetorische, keine logische Funktion hat. (Genauer gesagt, hat er doch eine logische Funktion, nämlich die Einzelheit, Individualität einer Person zu benennen, das kann der Superlativ nämlich im Normalfall nicht.)

    3. "Vorwarnen" bekommt erst 1991 einen Eintrag in den Rechtschreibduden, was einen gewissen Rückschluss auf die Verbreitung unter den Sprachnutzern erlaubt. Als Referenz wird die Verbindung "schoß ohne Vorwarnung" gegeben. Allerdings steht es schon in Dudens "Großem Wörterbuch" von 1981 mit der Erläuterung, die auf ein zeitliches "vor" abhebt: "warnen, [lange] bevor das Befürchtete eintritt".

    4. Interessant ist nun, dass 1. der Duden das Wort spätestens seit 1981 der Standardsprache zuordnet, 2. die Wörterbücher aber in ihren Erläuterungen von einander abweichen. Dies zeigt die Unsicherheit, die nicht im Sprachgebrauch, sondern im Verstehen der Sprache besteht.

    5. Häufig hört man ja Klagen um den angeblichen "Verfall" unserer Sprache, aber Tatsache ist, dass der deutsche Wortschatz sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs um 30 % vergrößert hat. Das heißt, unsere Sprache verfügt heutzutage über einen Ausdrucksreichtum und ein Differenzierungsvermögen wie nie zuvor. Der Gebrauch des Wortes "vorwarnen" ist also ein Zeichen dafür, wie lebendig und reich unsere Sprache ist.