Andreas Eschbach: Eines Menschen Flügel

  • Fulminates Epos aus der Feder eines der besten deutschen Erzähler der Gegenwart


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    Satte 1260 Seiten ist der Ziegel fett, den Andreas Eschbach als seinen 17. Roman vorgelegt hat: "Eines Menschen Flügel". So lyrisch, wie sich dieser Titel anhört, beginnt es in gewisser Weise, jedenfalls entzerrt sich die Geschichte - auch sprachlich - erst mit der Zeit, aber wenn es dann geschieht, entwickelt sie einen unwiderstehlichen Sog.



    In einer vermutlich sehr fernen Zukunft leben Menschen auf einem Planeten, dessen Atmosphäre von einer dichten, permanenten Wolkenschicht umgeben ist. Diese Menschen sind das Ergebnis einer Reihe von Genmanipulationen, die die "Ahnen" vor tausend Jahren vorgenommen haben: Sie haben ihr eigenes Erbgut mit dem der sehr großen Vogelart "Pfeilfalken" vermischt, weshalb die Nachkommen etwas kleiner als gewöhnlich sind, aber wunderschöne Flügel haben - und tatsächlich fliegen können. Das ist auch dringend nötig, denn zumindest das Flachland des ansonsten paradiesischen Hauptkontinents wird vom "Margor" beherrscht, einer diffusen, aber äußerst tödlichen Bedrohung: Wer den Boden an der falschen Stelle - und das sind die meisten - berührt, stirbt qualvoll und wird beinahe restlos vertilgt, im sprichwörtlichen Sinn vom Erdboden verschluckt. Deshalb leben die geflügelten Menschen auch auf riesigen Nestbäumen, in Clans mit einsilbigen Namen wie "Wen", "Ris", "Heit", "Sul" und so weiter. Ihr pittoreskes, wohlorganisiertes, praktisch technikfreies und sehr auf Gemeinschaft ausgerichtetes Leben folgt den "großen Büchern", die die ungefähr zwei Dutzend Ahnen hinterlassen haben, jene Leute, die aus dem Weltall kamen und den Planeten mit ihren Geschöpfen besiedelten - aber warum genau und was vorher geschah, verraten die Bücher nicht. Solange jedoch alle den darin enthaltenen Regeln folgen, bleibt das Leben auch friedlich. Aber Owen, der extrem flugbegabte Signalmacher, will unbedingt wissen, was hinter den Wolken ist. Er hat die enormen Pfeilfalken studiert, die es mithilfe einer speziellen Technik schaffen, höher zu fliegen, als sie eigentlich könnten, und ahmt das mühevoll nach. Als es nach vielen Fehlschlägen schließlich gelingt, er die Wolken durchstößt und sogar die Sterne sieht, kommt Owen dabei fast zu Tode, aber die schlimmste Folge besteht darin, dass er seiner Gefährtin versprechen muss, niemandem davon zu erzählen, weil das die Ordnung erschüttern würde. Dieses Versprechen hält Owen auch über viele Jahre ein, aber irgendwann muss es raus, und das setzt eine Kette von Ereignissen in Gang, die die Existenz aller gefährden.



    "Eines Menschen Flügel" liest sich anfangs wie ein Abenteuerroman, ein Crossover aus Science Fiction, Fantasy, einigen Mythen, etwas Gesellschaftskritik und dergleichen mehr, aber eigentlich ist diese enorm vielschichtige, sehr dichte, spannende und komplex aufgebaute Geschichte eine lange Antwort auf die Frage, was Fortschritt mit uns macht und ob es jederzeit das Risiko wert ist, die Neugierde zu befriedigen. Eschbach ist ja nicht nur ein Autor mächtig spannender Romane, sondern außerdem überzeugter und überzeugender Moralist - einer, der sich viele Gedanken über die Probleme macht, die mit unserem Zusammenleben einhergehen. War es in "NSA - Nationales Sicherheitsamt" die Bereitschaft, für etwas Bequemlichkeit nahezu alle Bedenken zu opfern, ist es in "Eines Menschen Flügel" der unbedingte Wunsch nach Erkenntnis und dem Ausloten aller Möglichkeiten. Der Roman ist insofern eine Parabel auf unser atem- und weitgehend reflexionsloses Den-Möglichkeiten-Hinterhereilen, auf die gelebte Maxime: Zuerst der Fortschritt, dann das Nachdenken darüber. Dass man zuweilen nachdenken sollte, bevor man dem Neuen alle Freiheiten gewährt, scheint in Vergessenheit geraten. Aber es gibt auch Nebenthemen, die aktuelles Geschehen beleuchten, etwa, als Owen, der Sternenflieger, von einer Gruppe absichtlich in Misskredit gebracht wird und sich sozusagen einem analogen Shitstorms ausgesetzt sieht.



    "Eines Menschen Flügel" liest sich einfach prächtig, ist bis ins Detail durchdacht, sehr warmherzig, aber auch spannend, gelegentlich romantisch und manchmal brutal - ein fulminantes, facettenreiches Epos, das sich rasch zu einer jener Geschichten entwickelt, deren Ende man schon lange bedauert, bevor es in Sicht kommt. Wenn es etwas zu bekritteln gibt, dann den etwas gedrängten Epilog und das ein wenig vorhersehbare, aber ohne Zweifel konsequente Ende.


    ASIN/ISBN: 378572702X

  • Hi Tom, Deine Buchbesprechungen sind für mich oft der Anlass für einen Gang in die Stadtbücherei. Den Eschbach habe ich ganz zufällig dort liegen sehen. Es wird schneller dunkel und so konnte ich beim Kaminfeuer mich durch der Menschen mit Flügeln in eine fatastische Welt entführen lassen. Ein bisschen Kritik von mir ist, in den letzten zweihundert Seiten habe ich so den drive nicht mehr gesehen, gelesen. Alles war weiterhin gut mit der Geschichte verwoben, es schien mir aber so, als müsste Eschbach noch einige Seiten schreiben, damit das Ende nicht schon bei der Seite 1000 oder so endet. Insgesamt stimme ich Dir zu, er Lesegenuss. Vielen Dank für die wunderbare Buchbesprechung.

  • Hallo, Amos.


    Enden bei Eschbach sind immer so eine Sache, aber ich hatte das Gefühl, dass es dieses Mal vor allem daran liegt, dass man ja durchaus absichtsvoll auf den Boden der Tatsachen geholt wird. Okay, den Epilog habe ich auch - und das schrieb ich ja - als etwas gedrängt empfunden, aber die Richtung, die die Geschichte am Ende nimmt, ist absolut konsequent.


    Und danke für die Blümchen. :)

  • Es scheint, als müsste ich mir die Werke des Herrn Eschbach auch endlich mal zu Gemüte führen. Deine Beschreibung klingt nämlich sehr spannend. Ich kannte Andreas Eschbach gar nicht, bis ich auf der Suche nach Rat auf seine Website gestoßen bin und erst mal dachte "Wer ist dieser Kerl, dass er so eine Website aufbaut?", was sich ja dann aber glücklicherweise geklärt hat. Anscheinend macht er ja was richtig mit dem, was (und wie) er schreibt ;)

  • Davon abgesehen ist Andreas ein sehr netter Mensch*, und die Tipps für Autoren, die wahrscheinlich noch auf seiner Website zu finden sind, sollte man mindestens gelesen haben, eigentlich aber beherzigen.


    (* aber das weiter oben ist keine Gefälligkeitsrezension - das hat Andreas sicher nicht nötig, und ich schreibe auch keine)

  • Metting habe ich als Hörbuch und kann es nur empfehlen. Vor allem wird es von Martin Bross sehr gut gelesen.

    Ich habe die Belegdatei gerade erst bekommen und kann nur zustimmen. Das hat Herr Bross wirklich gut gemacht.

  • Davon abgesehen ist Andreas ein sehr netter Mensch*, und die Tipps für Autoren, die wahrscheinlich noch auf seiner Website zu finden sind, sollte man mindestens gelesen haben, eigentlich aber beherzigen.

    Auf dem Videokanal von Montségur gibt es übrigens ein dreiteiliges Interview mit ihm, natürlich auch zu Fragen des Schreibens.

  • Enden bei Eschbach sind immer so eine Sache

    Ich habe irgendwann aufgehört Eschbach zu lesen, weil ich seine Enden immer sehr enttäuschend fand. Schwer hier darüber zu schreiben, ohne zu spoilern, aber ganz allgemein:

    Einmal stellte sich die Grundlage der Story als schlechter Witz heraus; mindestens zwei Mal wand sich Eschbach durch einen Themenwechsel aus der Auflösung raus (immerhin: bei einem Mal davon ist mir diese Ablenkung erst beim zweiten Lesen aufgefallen); ein weiteres Mal wird alles durch einen Schwindel aufgelöst, auf den schon Philip K. Dick in einer alten Story gekommen ist; ein weiteres Mal war die Auflösung unglaublich banal ... Irgendwann habe ich es dann aufgegeben.


    Obwohl Eschbach andererseits auch viel Sense of Wonder zu erzeugen vermag. "Die Haarteppichknüpfer", "Quest" oder "Kellwitts Stern" haben viel davon. "Kellwitts Stern" empfehle ich heute noch gern.

    „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“

    Samuel Beckett (1906–1989)

  • Also, so mies, wie das jetzt rüberkommt, sind seine Enden auch nicht. Er liebt halt die Geschichten (und die Figuren!) mehr als ihre Auflösungen, und obwohl ich Andreas' Schreibtipps jedem nur empfehlen kann, hat auch er natürlich seine kleinen Schwächen. Die aber die Stärken bei weitem ausgleichen, und eine seiner größten Stärken besteht darin, dass er so vereinnahmend erzählt, dass man sogar über seine zuweilen suboptimalen Enden hinwegsehen kann. ;)

  • Den Einstieg in einen Roman beherrscht er grandios.


    Er liebt halt die Geschichten (und die Figuren!) mehr als ihre Auflösungen


    Damit habt ihr beide Recht. Nach dem ersten Kapitel hat er einen am Haken und man kann nicht mehr aufhören. Nur finde ich Enden eben auch wichtig. Wenn man die ganze Zeit überlegt hat: "Was liegt dem Ganzen zu Grunde?" oder "Wie kommt das jetzt zu einem guten Ende?" und dann ... "Pfff, na ja, ach so ..." - Mich stört's schon sehr.

    „Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei. Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“

    Samuel Beckett (1906–1989)

  • Den Schluss von Quest fand ich extrem enttäuschend, aber nach einigen Diskussionen mit unserem Sohn über das Buch und das Ende hatte ich plötzlich eine andere Sicht auf Handlung und Schluss und kann seither damit leben. Ich stehe nicht (mehr) so auf Space Opera, aber diesen könnte ich sogar noch einmal lesen. Den Schluss von NSA kann man nicht als misslungen bezeichnen, selbst wenn er nicht gefällt - aber das liegt dann nicht am Autor. Den Schluss von Jesus Video finde ich so enttäuschend, dass ich mir den zweiten Band dazu gespart habe. Aber auch dieser Roman hat einen großartigen Anfang, ist super recherchiert und führt Archäologen nicht so brachial und völlig daneben wie Indian Jones & Co. vor. Andreas Eschbach kann was und gehört sicher zu den besseren deutschen Autoren. Seinen Erfolg hat er verdient und solange man sich nur über unbefriedigende Romanenden auslässt, gibt es eigentlich nicht viel zu meckern.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Bezug zu dieser unterschwellig faschistoiden Coverfigurine

    Bezug gefunden.
    Ausgelesen.
    Ich bin sehr zufrieden mit dem Ende. Also aus dramaturgischer Sicht.
    Auch bei NSA.
    Es ist folgerichtig und nachvollziehbar.
    Genauso nachvollziehbar und unbefriedigend menschliches Verhalten tw. auch ist.
    Seit zwei Jahrzehnten habe ich keine Fantasie-Saga-Schinken mehr angefasst. Diese Geschichte tarnt sich zu Beginn als solche.
    Ein Wolf im Engelsfell;)
    Ich werde es weiterverschenken und empfehlen.

  • Ist aus Dschonn tatsächlich ein Mädchenhändler/vermittler/Kontaktmann geworden?

    So hatte ich das meiner Erinnerung nach auch verstanden, ja.