Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder

  • „Als sein Vater ihn fragte, was er sich zum Geburtstag wünsche, erlegte Norbert Paulini ihm auf, seinem Sohn endlich eine Jahreskarte der staatlichen Kunstsammlungen zu kaufen.“


    Soll heißen: Norbert wünscht sich von seinem Vater ... Nun muss Literatur gerade nicht ökonomisch sein, aber was, frage ich mich, ist Sinn und Zweck solch um die Ecke geleiteter Sätze?


    Und vor allem: Warum wird der Name der Hauptfigur ein ums andere Mal in erschöpfender Vollständigkeit gebraucht, gefühlt ungefähr fünfhundertmal? Viola Paulini geborene Henschel ist meistens Viola. Norbert Paulini ist so gut wie immer Norbert Paulini. Warum? Weil ein „Anker“ anders behandelt wird als ein „Geistesmensch“? Um Distanz des Icherzählers zu seiner Hauptfigur zu betonen? (Oder sich aufzuerlegen?) Oder dessen Relevanz? Um den Namen den Lesern in den Kopf zu hämmern und sie in den Wahnsinn zu treiben?


    Klappt! Zusammen mit jener Susanne Moppel, deren Namen ich vor ungefähr 25 Jahren ein einziges Mal gehört habe, als die im Nachmittagsprogramm von Radio Erft einen Musikwunsch äußerte, ist Norbert Paulini wahrscheinlich auf Jahrzehnte ein Platz in meinem Namensgedächtnis sicher – leider auf Kosten der Handlung, in der sich der Mann bewegt. Wie bei einem unregelmäßig tropfenden Wasserhahn habe ich irgendwann nur noch gelauert, dass der Name fällt – und bin fast erschrocken, wenn es plötzlich, ich glaube, in Kapitel 13, nur Paulini hieß. Wieso das denn jetzt?! Hat sich etwas Entscheidendes im Verhältnis des Icherzählers zu Norbert Paulini geändert, und ich hab‘s nicht mitgekriegt? Sind andere Paulinis mittlerweile tot, und ich hab‘s nicht mitgekriegt?


    Nicht nur deshalb hatte ich keinen guten Einstieg in den Roman. Der Tonfall war mir zu märchenhaft, es gab wenig Dialoge, sehr traditionell kam das daher, sehr gemächlich, behäbig gar. Tatsächlich dauerte es bis Kapitel 12, ehe mich das Buch „hatte“ – dann allerdings auch richtig!


    Ungefähr da beginnt das Leben des Paulini als Dresdner Antiquar. Wie sich dieser Büchermensch sein Leben mit Büchern und für Bücher gestaltet, das liest sich so, dass ich ganz darin eintauchen wollte. Da ist einer, der sich alles erlesen möchte, das Gesamtwerk „seiner“ Schriftsteller, und in den Dingen, die nichts mit Büchern zu tun haben, halb pragmatisch, halb naiv ist. So erkennt er erst, als er sich mit dem Gedanken trägt, sich eine Frau zu suchen, dass eine von zweien, die ihm dafür geeignet erscheinen, weil sie aus Passion im Antiquariat helfen, bereits hochschwanger und die andere (Elisabeth/Lisa) mit einem seiner Bekannten, dem Dramatiker und Essayisten Gräbendorf, verbandelt ist. Bereits erwähnte Viola erobert ihn schließlich im Friseursalon; zum Haareschneiden geht dann selbst ein Geistesmensch. So organisiert sich Paulini sein Geschlechtsleben, nimmt auch eine Affäre mit, wenn sie sich denn ergibt, zwischen Bücherstapeln des verschiedenen Gatten, wird Vater, lebt aber eigentlich für seine Bücher.


    Umso härter trifft ihn die Wende. Ein Besuch in Westberliner Antiquariaten offenbart ihm, wie anders deren Geschäftsmodell ist, zum Beispiel mit ihren remittierten Büchern, deren einziger Makel der Remittendenstempel ist. Paulini will aber keine Buchhandlung führen, keine Kochbücher und keine Schulbücher und erst recht keine Schreibwaren verkaufen, seine Welt sind die Erstausgaben und die Gesamtausgaben, die Kunden, die er an der Tür empfängt, als würde er erwarten, dass diese eine Parole flüstern, um eingelassen zu werden. Damit jedoch scheint es dann mit der Wende schnell vorbei zu sein. Er kämpft. Gegen großspurige Westdeutsche, verzichtet auf Einnahmen, wenn ihm nicht behagt, in wessen Hände er seine Bücher geben soll. Gegen die Bank, die ihm vor Augen führt, dass seine Bücher keiner mehr haben will. Er pfeift auf Reisefreiheit, reisen kann einer wie er seit jeher in Büchern. Gegen Unsitten wie die, ihm „Schuld und Sühne“ wie Müll auf der Türschwelle zu verklappen – und weiß da noch nichts von Bücherbergen, die eigene Müllkippen füllen sollen. Während Viola als Stasimitarbeiterin enttarnt wird und Elbeschlamm in seine Bücher zu sickern droht, wird Paulini mit jedem weiteren Schlag im Inneren mürbe. Nach einem Umzug in ein entkerntes Bauernhaus und einem Sprung in der Zeit steht die Kriminalpolizei vor Paulinis Tür, die ihn mit einem Vorwurf konfrontiert, der mittendrin abbricht und den Leser im Ungewissen hält.


    Und damit beschränke ich auch diese Rezension auf den ersten Teil von dreien, und eigentlich bin ich hier im Zwiespalt, ob man weiteres hinzufügen soll oder gar muss. Wie dem auch sei: Das „Literarische Quartett“ hat’s im März schon getan, und daneben bestimmt viele andere mehr. Also sei noch erwähnt, dass der Icherzähler – nein, die Stimme des Icherzählers – im zweiten Teil wechselt, nämlich zu der eines (zunächst namenlosen) Schriftstellers, der davon erzählt, wie er begonnen habe, eine Novelle über jene (in seiner Realität) real existierende Person Norbert Paulini zu schreiben. Er erzählt von der Liebe zu Lisa, die er als Quelle benutzt und die er ausnutzt, mit der er eine Beziehung anfängt, die aber auch mehr mit Paulini verbindet als bloße Bewunderung und Freundschaft, und die ihm zunehmend zur Obsession gerät. Vielleicht gilt die eigentliche Obsession auch Paulini, jedenfalls bis zu dem Grad, wie ein Schriftsteller seiner Hauptfigur womöglich immer auch ein Stückweit verfallen ist.


    Im dritten Teil übernimmt dann eine Icherzählerin, nämlich die Lektorin des Schriftstellers (der, zu allem Überfluss, Schultze heißt), die nun von zwei Todesfällen berichtet und allem bis dahin Gehörten, im ersten wie im zweiten Teil, eine weitere Deutungsebene hinzufügt. Kleine bis große Details kippen die Handlung jeweils in die eine oder andere Richtung. Man weiß ja, dass Literarisierung Charaktere und Handlung beeinflusst. Diese unglückliche Liebesgeschichte zwischen dem Schriftsteller und Lisa, führte die womöglich zu Unterstellungen und zu Lügen, hat sich der (imaginäre) Schriftsteller vielleicht an seiner Hauptfigur gerächt, ihn erst zu einem Helden aufgebaut und dann zerstört? – So meine Gedanken, so ist’s gemeint oder noch ganz anders!


    Man kann das auch ganz anders lesen, sich als Leser verraten fühlen, weil die Illusion kippt, die im ersten Teil aufgebaut wird, weil man an einen Roman schließlich mit einer Art Vertrauensvorschuss herangeht, dass einem eine „wahre – erfundene – Geschichte“ erzählt wird. Man kann das Buch als bemühtes Konstrukt lesen.


    Bleibt immer noch eine sehr dicht erzählte Geschichte im ersten Teil vor dem geschichtlichen Hintergrund der „beiden Deutschlands“ und ihrer Wiedervereinigung. Bleibt auch eine Geschichte über die Radikalisierung eines bis dahin rechtschaffenen Menschen. Und ein Roman über Bücher, wie bereichernd sie sein können, wie mit ihnen Geschäfte gemacht werden, über das Schreiben dieser Bücher und über Schriftsteller.


    Von mir bekommt das Buch die volle Punktzahl. Meine Probleme vom Anfang werden im Nachhinein nichtig. Hätte ich das Buch nicht gehört, sondern gelesen, wäre mir das mit dem Namen womöglich gar nicht aufgefallen. Es muss am Leser liegen, nicht am Autor.


    ASIN/ISBN:

    ASIN/ISBN: 3103900015

  • Was für eine hinreißende und zugleich anstrengende Rezension, Petra! :) Danke!


    Übrigens, und das ist kein Witz, kenne ich einen Nolberto Paulini (der in der Dominikanischen Republik lebt) persönlich.


    Und ist dieser Name "Susanne Moppel" nicht von Susanne Fröhlich in "Moppel-Ich" verarbeitet worden? Ach nee, das war ja ein autobiografischer Ratgeber. 8)

  • Anstrengend? Das liegt am Buch 😎


    Vielleicht hat Susanne Fröhlich an dem Tag auch Radio Erft gehört 😆 (Tatsächlich habe ich den Namen gegoogelt - wollte doch mal sehen, was sie so macht mittlerweile ... Dabei bin ich zwar auf das Buch von Susanne Fröhlich hingewiesen worden, Susanne Moppel hingegen trat nicht in Erscheinung; vermutlich hat sie irgendwann geheiratet 🙂)