Helmut Krausser: Für die Ewigkeit - Die Flucht von Cis und Jorge Jega

  • Furios!


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    "Für die Ewigkeit" ist der vierte Roman von Helmut Krausser, den ich bislang gelesen habe (wodurch ich in der exzellenten Position bin, noch einiges an Auswahl zur Verfügung zu haben), aber es fühlt sich in gewisser Weise an, als hätten vier unterschiedliche, jedoch gleichermaßen begabte - nein: beseelte - Autoren diese Bücher verfasst. Die Hauptfigur von "Für die Ewigkeit", Jörg Jäger alias Jorge Jega, ist ein talentierter Pianist. Krausser selbst erinnert mich an einen Jazzpianisten, an einen Musiker, der sowohl das Standardrepertoire aus dem Eff-Eff beherrscht, als auch mit jedem hingeworfenen Motiv eine beeindruckende Improvisation präsentieren kann. Seine Bücher haben eine große stilistische Konsistenz, lesen sich, als hätte der Mann nie Texte anderer Art geschrieben, dabei sind beispielsweise "Einsamkeit und Sex und Mitleid", "Geschehnisse während der Weltmeisterschaft", "Alles ist gut" und jetzt dieser Roman, der im Südamerika des Jahres 1902 spielt, so unterschiedlich wie die Novellen von Lernet-Holenia und die Romane von Philip Roth. Gemeinsam haben sie den enormen, meistens unterschwelligen Witz, jene Lässigkeit im Erzählen, die so mühelos daherzukommen scheint, und damit einhergehend eine stilistische Kunstfertigkeit, die bei zeitgenössischen deutschsprachigen Autoren nur sehr eingeschränkte Vergleichsmöglichkeiten bietet. Und, ja, es geht bei Krausser fast immer um Liebe, Sex und zum Scheitern verurteilte Lebensträume.



    So auch in "Für die Ewigkeit", einer eher kurzen - das Buch hat leider nur 190 Seiten -, sehr dichten und viel zu rasch, aber in jeder Hinsicht stimmig endenden Geschichte, die damit beginnt, dass ein dürrer, abgerissener, hungriger junger Mann, blondhaarig und blauäugig, bei einem reichen Unternehmer in Buenos Aires vorstellig wird, weil dieser einen Klavierlehrer für seine Tochter Francisca - genannt "Cis" - sucht. Der junge Mann kommt eigentlich aus Deutschland, wo er Jörg Jäger hieß, und ist sozusagen nach Südamerika geflüchtet, wo er zuerst in Uruguay gelebt hat, was aber schiefging, weil ihm eine Botschaftergattin, der er ebenfalls Unterricht erteilte, Avancen gemacht hat und Jäger den Botschafter beim anschließenden Duell versehentlich verletzt hat. Deshalb nennt er sich jetzt Jorge Jega, und natürlich wird es auch mit der siebzehnjährigen Unternehmertochter Schwierigkeiten geben, zumal die junge Frau abenteuerlustig, intelligent und bildschön ist. Jäger alias Jega verliebt sich umgehend, und auch wenn ihm klar ist, dass eine Affäre mit der Schülerin kein gutes Ende nehmen kann, fällt seine Verteidigung gegen ihre irren Ideen schon nach kurzer Zeit. Verfolgt von einem Cousin der schönen Francisca, flüchtet das Paar über den halben Kontinent. Wieder gerät Jega in Schwierigkeiten, weil ihn die Leidenschaft gepackt hat, aber andererseits ist er, wie er glaubt, eigentlich Komponist, und auf der Suche nach einem Stoff für eine Oper. Musik spielt eine große Rolle in diesem Buch.



    Helmut Krausser hat kein Mitleid mit seinen Figuren - was geschehen muss, muss geschehen, schließlich bezeichnet man es deshalb ja auch als das Unausweichliche. Aber der Weg dorthin ist für die Leser und für das Personal gleichermaßen ein furioses, leidenschaftsvolles, abenteuerliches und originelles Vergnügen. Okay, für das Personal mindestens bis zu dem Zeitpunkt, als die Schwierigkeiten überhand nehmen.



    Keine Ahnung, ob der Berlin Verlag "Für die Ewigkeit" beim Deutschen Buchpreis 2020 eingereicht hatte, dessen Longlist von Geschlechterproporz, Mittelmaß und Langeweile beherrscht wurde, aber nach meiner Überzeugung gehört dieser Roman, der viel von einer Novelle hat, zu den zwei, höchstens drei besten deutschsprachigen Neuerscheinungen dieses Jahres.


    ASIN/ISBN: 382701204X