Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

  • Ein Gebäude wie einen lebenden Organismus zu beschreiben, ist nicht neu, im Falle des Beginns von „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ aber treffend und gut gemacht, nicht zuletzt, weil der Ich-Erzähler Paul Hansen einst verantwortlich für eine Wohnanlage mit 68 Eigentumswohnungen vermögender Senioren namens Excelsior zeichnete, während er im Gegenwartsstrang im Gefängnis sitzt und sich dort eine Zelle mit einem Hell‘s Angels-Mitglied teilt. Unsichtbare weitere „Bewohner“ dieser Zelle - ironischerweise Condo genannt - sind Pauls Frau Wynona und die Hündin Nouk, seine Mutter Anna und sein Vater Johan.


    Paul wird als Sohn eines dänischen Pastors und einer rebellischen Französin geboren, die das Programmkino ihrer Eltern fortführt. Johans Haus ist die im Sand zu versinken drohende Kirche bei Skagen, Annas Haus ist das Spargo. Als Anna sich ab 1968 zunehmend zur revolutionären Avantgarde hingezogen fühlt und das Kino nicht länger nur Filme zeigt, sondern auch immer mehr linken politischen Statements eine Bühne bietet, gerät die Ehe ins Wanken. Der Pastor beginnt im beständigen Kampf gegen den „Sand“ nicht nur an seiner Ehe, sondern auch an seinem Glauben zu zweifeln. Als Anna einen Low Budget-Porno ins Programm aufnimmt, der einen weltweiten Skandal ausgelöst hat, ist der Bruch zwischen den Eheleuten nicht länger zu umgehen: Der Pastor trennt sich von seiner Frau und übernimmt eine Gemeinde im kanadischen Thetford Mines, einer Stadt, die ihren Reichtum einem Asbestvorkommen im Boden, auf dem sie steht, verdankt. Paul, inzwischen erwachsen, folgt seinem Vater nach Kanada.


    „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ ist kein Kriminalroman, und wenn eine gewisse Vorhersehbarkeit demnach auch nicht unbedingt schlimm ist, fand ich das Ende leicht enttäuschend. Wie Pauls Frau Wynona, halb Irin, halb Algonquin, Pilotin eines Wasserflugzeuges, ums Leben kommt, liegt von vornherein auf der Hand. Das Rätsel, was einen in sich ruhenden Mann wie Paul Hansen dazu gebracht hat, straffällig zu werden, wird schließlich auf fast banale, letztendlich aber auch ebenso stimmige Weise gelöst. So schwarz-weiß sympathisch Paul gezeichnet ist, so gesichtslos unsympathisch kommt der Gegenspieler daher. Hinzu kommt eine Detailvernarrtheit in technische Zusammenhänge, sei es im Zusammenhang mit einem NSU Ro80, einer Harley Davidson, einer Hammondorgel oder einem Swimmingpool. Dieses an sich ist in Anbetracht seiner Hauptfigur völlig berechtigt, mir als nicht sehr technikaffinem Leser bescherte es einige Längen.


    Dennoch: Der Roman - ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt 2019 - lebt von seiner Sprache, nicht zuletzt den lebendigen Dialogen, und seinem Humor, trotz des unwirtlichen Gefängnismilieus, trotz der Trauer, die seinen Ich-Erzähler (und seinen Vater) melancholisch umhüllt, trotz der Verluste, die er erleidet.


    ASIN/ISBN:

    ASIN/ISBN: 3423282401

  • Ist notiert. Hatte ich schon von gehört (über den Prix Concourt wird ja derzeit viel diskutiert), aber jetzt geht's auf die Leseliste.

  • Fein! Dein Eindruck würde mich interessieren, gerade auch, weil ich mir uneins bin: Ich glaube, ich habe noch nie ein Buch gelesen, wo ein Ich-Erzähler als Person derart „unscheinbar“ bleibt. Tatsächlich meine ich, viel mehr „Äußerlichkeiten“ über seine Eltern erfahren zu haben als über Paul Hansen selbst. Von ihm kommt dafür aber natürlich die Innensicht, wie er das Leben und die Dinge sieht, und darüber lernt man ihn natürlich sehr gut kennen.


    Was den Prix Goncourt angeht, interpretiere ich es so, dass die Vergabe in diesem Fall überrascht hat, jedenfalls gab es Stimmen, dass der Roman an vorher mit diesem Preis ausgezeichnete Werke nicht heranreichen soll.

  • Asynchrone Brillanz


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    Der spektakuläre Titel dieses Buchs gibt einen Vorgeschmack auf den Text, der darin enthalten ist. Jean-Paul Dubois ist ohne Zweifel ein Meister der Metaphern und präzisen Vergleiche, findet jederzeit wohlklingende, treffende Worte; seine Erzählsprache und Erzählweise insgesamt sind beeindruckend und von einer ruhigen, ergreifenden Schönheit. „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ ist anspruchsvoll, aber nicht verkopft oder larmoyant. Der Spannungsbogen ist eher flach, und dennoch packt und vereinnahmt der Roman.



    Paul Hansen, der erwachsene Sohn eines dänischen Pfarrers und einer französischen Schönheit, die aus einem Provinz-Programmkino eine revolutionäre Zelle geformt hat, sitzt in einem Knast in der kanadischen Millionenstadt Montréal. Er hat zwei Jahre ohne Bewährung erhalten, für ein Verbrechen, von dem der Leser erst ganz am Ende der Geschichte erfährt, und er meint, diese Strafe verdient zu haben. Pauls Frau Winona ist tot, wie wir früh erfahren, und ebenso steht es um den geliebten Hund Nuok, aber wie es dazu gekommen ist, auf diese Information muss man ebenfalls bis zum Ende warten. Bis dahin lesen wir viel über den Knastalltag im kalten und von Ratten heimgesuchten Gefängnis, in dem sich Paul eine „Condo“, wie die Zwei-Mann-Zelle scherzhaft genannt wird (englisch für „Eigentumswohnung“), mit einem Hell’s Angel namens Patrick Horton teilt, der nach dem Kacken das Klo mit einem Tuch bedeckt und panische Angst vor dem Haareschneiden hat. Diese Erzählung wechselt sich ab mit der Vorgeschichte, als Paul Hansen Hauswart und später Verwalter eines 68-Parteien-Wohnhauses namens „Excelsior“ war, und mit der Geschichte seiner Eltern, seiner Kindheit, dem Scheitern der elterlichen Ehe und dem Niedergang des väterlichen Glaubens. Es gibt dänische, kanadische und französische Kulturgeschichte, und immer wieder spielen technische Entwicklungen eher diffuse Rollen.



    So schön sich dieser Text liest, so wenig kann die Erzählkunst darüber hinwegtäuschen, dass die Geschichte oft vorhersehbar ist, und die Auflösung gleichsam lapidar und unoriginell. Die Selbstkasteiung - Hansen verweigert sich jeder Chance auf vorzeitige Haftentlassung - ist nur begrenzt glaubwürdig, und der mächtige innere Gegner, auf den man gespannt wartet, entpuppt sich als äußerer Schurke von der Stange. Über allem aber schwebt die Frage, wie diese Einfachheit im Dasein, die Paul Hansen für sich gelebt hat, mit dieser überbordenden Sprachgewalt, der beneidenswerten Weisheit und intensiven Klugheit des Ich-Erzählers zu synchronisieren wäre. Diese Asynchronität blieb bis zum Ende und darüber hinaus: Hansen und Dubois passen irgendwie nicht unter denselben Hut.



    Aber „Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise“ ist auch mit diesem Makel ein äußerst lesenswerter und aus gutem Grund vielfach preisgekrönter Roman.

  • Noch ein kleiner Nachklapp: Worauf der Titel sich bezieht und worum es im Buch (natürlich) auch geht, das ist die Tatsache, dass unsere Lebensentwürfe sehr unterschiedlich sind, zuweilen sogar auf komplett unterschiedlichen Fundamenten ruhen, andere Paradigmen und Modelle als Grundlage haben, und dass es einerseits trotz allem immer Annäherungsmöglichkeiten gibt (wie etwa zwischen Paul und seinem Zellengenossen Patrick), dass es aber andererseits ein beinahe schon unfassbares Glück ist, wenn man jemanden findet, bei/mit dem es viele Gemeinsamkeiten in diesem Bereich gibt (und nicht etwa "nur" an der Oberfläche). Der Trick dabei, ein gutes Leben zu leben, besteht darin, das zu erkennen, more or less. Ich bin nicht sicher, ob es das präzise trifft bzw. zusammenfasst, aber es geht in diese Richtung. Wir müssen nach den Anknüpfungspunkten suchen und diese pflegen, uns aber zugleich im klaren darüber sein, dass es oft einfach nicht zusammenpasst, nicht vermittelbar ist, aber unbedingt toleriert werden muss. Sowas. Das klingt jetzt ein wenig lapidar und esomäßig, ist aber wesentlich vielschichtiger.