Eine Figur in einer Geschichte, die in den späten Sechzigern/Anfang der Siebziger des vergangenen Jahrhunderts beginnt, hat etwas, das man heute „Nahrungsmittelunverträglichkeit“ nennen würde - sie reagiert auf bestimmte Fleischproteine mit Durchfall und Magenschmerzen. Weiß jemand, ob man derlei damals schon diagnostizieren konnte? Und wie hat man das genannt? Allergie? Danke vorab.
Nahrungsmittelunverträglichkeiten in den späten Sechzigern
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Weiß offenbar niemand so recht … Nur aus dem Bauch: Wahrscheinlich hätte ein Arzt es diagnostizieren können, wäre aber nicht auf die Idee gekommen. Er hätte dem Patienten wohl eher gesagt: Wenn Sie Hühnchen nicht vertragen, lassen Sie's lieber weg. Auch Laien werden von "nicht vertragen" gesprochen haben. Bei Medizinern untereinander kann es natürlich auch in der Zeit schon anders gewesen sein. Und nee, "Allergien" gab es in meinen Siebziger Jahren im Volksmund nicht, höchstens "Heuschnupfen".
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Danke, Kristin!
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Zu Allergie:
Im Sprachbrockhaus von 1949 fehlt A., ab 1951 ist sie als "Überempfindlichkeit gegen bestimmte Stoffe" notiert. In dem Großen Wörterbuch von Duden (1976) steht unter anderem, dass dieses Wort schon 1906 geprägt worden sei und auch im übertragenen Sinne gebraucht wird: Allergisch "gegenüber abgerundeten Bildecken", aber auch: "meine Haut ist a. gegen das Waschmittel". "Nahrungsmittelunverträglichkeit" finde ich allerdings erst in meiner 25. Auflage des Rechtschreibduden (2011).
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Danke, Jürgen. Das deckt und bestätigt meine eigenen Recherchen und Vermutungen. Müssen wir also ohne ärztliche Validierung auskommen; die Figur "verträgt" Fleisch einfach nicht.
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Es gab schon damals den "Reizdarm" oft gekoppelt mit der Vermutung, dass es spinnert (also psychisch, aber eher eingebildet) sei.
In den 10ern und 20ger Jahren des letzten Jahrhunderts gab es schon vegetarische Bewegungen, die sich nicht nur auf das Tierwohl gründeten, sondern auch auf Unverträglichkeiten - Beweise gab es nicht, nur Selbstversuche. Da aber "ich habe Fleisch (wahlweise Milch/ Eier ... name it) weggelassen und mir geht es seitdem viel besser" auch auf Einbildung und Überzeugung geschoben wurde, gab es keine medizinische Anerkenntnis.
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Einer der bekanntesten Protagonisten der Vegetarierszene Anfang des vergangenen Jahrhunderts war John Harvey Kellogg, der Erfinder der gleichnamigen Flakes. Er gehörte zu den Verfechtern des holistischen Menschenbildes, in das die Ernährung mit Fleisch nicht passte. Das wusste ich schon, Ulli. Aber Reizdarm ist vielleicht ein Stichwort, allerdings ginge es bei mir um unmittelbarere Reaktionen. Trotzdem danke!
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Ich denke auch, dass der Sprachgebrauch eher sagte: Ich vertrage das nicht/ mein Magen/Darm reagiert empfindlich. Ich darf das nicht essen. Ich habe einen empfindlichen Magen .... Und die nächste Stufe, aber erst Ende der 70iger, Anfang der 1980iger war eher "Lebensmittelallergie" oder "Lebensmittelunverträglichkeit" (so Anfang der 80iger bei meinem Sohn ärztlich diagnostiziert). Nahrungsmittelunverträglichkeit kam - wie Jürgen schon bestätigte - noch später.
Ich habe es Mitte der 80iger in Berlin als erste Mutter eines Neurodermitis-Kindes geschafft, die hohen Kosten der Ernährung im Falle von Lebensmittelunverträglichkeiten, beim Finanzamt als besondere Belastung anerkannt zu erhalten (worauf ich damals sehr stolz war ). Bis dahin wurden vom Finanzamt diese nicht als Krankheit anerkannt. Allein daraus können Rückschlüsse gezogen werden, dass zu dem Zeitpunkt gerade mal die Ärzte der Meinung waren, dieses Thema als Krankheit ernst zu nehmen. Bis dahin waren eigentlich nur Kontaktallergien übliche behandlungsbedürftige Erkrankungen. Oder allergische Reaktionen des Körpers/Kreislaufes auf z.B. Bienen- oder Wespengifte.
Auch die ärztliche Fachrichtung Allerlogie gab es erst frühestens in den Siebzigern. Davor ging man mit allergischen Reaktionen zum Hautarzt. Mit allem anderen zum Hausarzt.
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Danke, Cordula! Das hilft mir sehr weiter - es geht vor allem um das Ernstnehmen, denn die fraglichen Szenen spielen in einer dieser Familien, für die ab den Fünfzigerjahren starker Fleischkonsum ein Zeichen von Wohlstand war (was zu jener Zeit für viele galt), während die Tochter vor allem mit Rindfleisch ein Problem hat. Wenn es auch gegen Ende der Sechziger so überhaupt keine Diagnostik in diese Richtung gab, wird es beim "Sie verträgt das nicht" bleiben können, was den Vorteil hat, dass die Schwäche dieser Position noch weiter gestärkt wird (was eine interessante Formulierung ist). Danke!
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… in einer dieser Familien, für die ab den Fünfzigerjahren starker Fleischkonsum ein Zeichen von Wohlstand war (was zu jener Zeit für viele galt), …
In den Fünfzigern und frühen Sechzigern war es bei uns so, dass Fleisch nur am Wochenende auf den Tisch kam, Freitags Fisch, aber auch nicht jeden Freitag. In der Woche war dann Fleisch eher rudimentär enthalten, etwa in der Suppe (manchmal auch nur der Knochen mitgekocht). Erst in den Sechzigern, vor allem in der zweiten Hälfte, wurde Fleisch etwas alltägliches. Ich komme aus einer Arbeiterfamilie (mein Vater war Bergmann, meine Mutter Schneiderin), möglicherweise war das in bessersituierten Familien anders. Es galt noch der Grundsatz: Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Abweichungen davon wurden als "nicht normal" eingestuft, an Unverträglichkeiten bei der Nahrung schlichtweg nicht geglaubt.
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Das ist genau das Szenario, Horst-Dieter. Der Gedanke, Fleisch nicht essen zu wollen oder zu können, ist völlig absurd, und es wird gegessen, was auf dem Tisch steht, vor allem aber das Fleisch. Danke!
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Standardsatz meiner Mutter: "Iss doch wenigstens das Fleisch auf"
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Das Wort "Sonntagsbraten" habe ich noch immer von dieser Zeit in meinem Kopf.
Ein neues Wort habe ich erst gerade gelernt: "Fleischindustrie". So ändert sich die Zeit und auch die Sprache, die Gewohnheiten.
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Meine Mutter erzählte immer die Geschichte, wie sich alle über ihre verwöhnte Klassenkameradin Sybille lustig machten, deren Mutter in Zeiten, in denen man wirklich nicht wählerisch sein durfte (ca. 40er) immer sagte: "Billchen kann kein Fleisch essen!" Das war sogar ein geflügeltes Wort bei uns, und noch in den Siebzigern waren wir überzeugt, dass sich das arme Billchen wirklich nur geziert hatte und albern war. Eigentlich geht mir jetzt gerade erst auf, dass möglicherweise ein Unverträglichkeit dahintersteckte.