Schreiben in Zeiten von Corona

  • Jedes Mal, wenn ich während der vergangenen Wochen einen Blick auf meine bisher geschriebenen Geschichten geworfen habe, kam es mir so vor, als fehle diesen Geschichten etwas. Etwas, das mir zuvor nie aufgefallen war. Das gilt sogar für mein aktuelles Work in progress, an dem ich noch im Januar mit der für eine neue Geschichte typischen Begeisterung geschrieben habe.


    Schließlich ist der Groschen gefallen, wurde mir klar, was diesen Geschichten fehlt. Corona. Nicht als Thema. Aber mir kommt es so vor, als wäre die Zeit aufgespalten worden in eine Vor-Corona-Zeit und eine Corona-Jetztzeit, und alles Geschriebene, das nicht auf irgendeine Weise diese Corona-Jetztzeit reflektiert, und das betrifft die eigenen Geschichten ebenso wie die anderer Autorinnen und Autoren, wirkt jetzt auf mich wie aus der Zeit gefallen, manches mehr, bei anderen Texten ist der Eindruck etwas schwächer. Vorhanden ist er aber immer. Dabei sind die relevanten Themen doch noch immer dieselben, die ewigen Themen sowieso, Verliebtsein, Liebe, Eifersucht, Hass, Macht- und Geltungsstreben, Gier, um nur diese wenigen zu nennen, desgleichen die drängenden Themen unserer Zeit wie die nahende Klimakatastrophe, Überbevölkerung, die ungezügelte Ausbeutung menschlicher wie materieller Ressourcen, Migration, die fortschreitende Konzentration von materiellem Reichtum in immer weniger Händen, eine damit einhergehende Verarmung auf der anderen Seite bis hin zu Massenverelendung, die noch immer nicht vollendete Gleichstellung der Geschlechter, die Diskriminierung von Minderheiten, Missbrauch und sexuelle Gewalt, Gewalt überhaupt, Vereinsamung et cetera et cetera ... und was all das mit und aus einem Menschen macht.


    Wie empfindet ihr das?

    Hat sich eure Wahrnehmung von Geschichten verändert?

    Wie sieht das mit euren vor Corona begonnenen Geschichten bzw. euren neuen Plotideen aus? Arbeitet ihr daran unbeeindruckt von Corona weiter?

    Glaubt ihr, dass es von nun an noch möglich sein wird, Leserinnen und Leser für in der Gegenwart angesiedelte Geschichten zu gewinnen, die ohne jeglichen Bezug auf Corona auskommen?

    Oder meint ihr, dass solche Fragen nur einer vorübergehenden Verunsicherung geschuldet sind, es mit dem Finden einer neuen Normalität also schon bald zu einer Rückkehr zum business as usual kommen wird, zumindest, was das Schreiben betrifft?


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

  • Über das, was durch Corona (und vor allem danach) passieren oder nicht passieren könnte, erlaube ich mir derzeit kein Urteil. Wenn solche Fragen auftauchen, schalte ich in den Modus "mich-überraschen-lassen-wollen". ;)


    Ich arbeite an meinen Projekten nicht anders als zuvor. Tatsächlich habe ich weniger Zeit, als vor der Pandemie. Die letzten drei Tage haben wir die Küche renoviert. Wir sehen zu, dass wir täglich für eine Stunde oder mehr vor die Tür kommen (nicht nur in den Garten). Ich habe angefangen, den Keller auszumisten und es gibt tausend Pläne, was noch alles zu tun ist. Ich bin mir sicher, dass dies nicht in diesem Maße und in dieser Intensität passiert wäre, hätten wir die Pandemie nicht. Es ist plötzlich mehr Zeit da, weil man sich nicht mehr treffen kann und will man nicht depressiv werden daran (zum Beispiel am Enkelentzug) dann muss das in Aktivität umgesetzt werden.


    Über die Pandemie zu schreiben oder diese in Erzählungen zu berücksichtigen habe ich überlegt, aber schnell verworfen. Das ist nichts für mich, können andere sicher besser. Langfristig wird das Thema aber vermutlich auch in meinen Texten auftauchen, mehr oder weniger stark (vermutlich weniger). Ich lasse es einfach auf mich zukommen.

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    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Prinzipiell arbeite ich weiter wie vorher - mein Romanprojekt steht ja dadurch, dass es die Geschichte eines realen Menschen nachempfindet.

    Allerdings vermute ich inzwischen, dass Corona dem ganzen - leider - noch eine Wendung geben wird, denn nach allen diversen Wechseln seiner Lebensumstände hatte mein Held ja nun mit etwa Mitte 60 scheinbar einen Ort und ein Auskommen und eine Aufgabe für den Rest seines Lebens gefunden: Als Tourismus-Guide in seiner Heimat Äthiopien, womit er die Ausbildung von 13 seiner Nichten und Neffen finanzierte. Das wird aber auf absehbare Zeit wohl eher schwierig werden, auch wegen Corona (auch, weil ansonsten die politischen Verhältnisse nicht so stabil sind, wie Touristen es gern hätten, aber das war zumindest in den letzten Jahren noch halbwegs okay und es gab Hoffnung, dass es so bleiben würde).


    Ich bin zwar traurig, dass alle meine Reisepläne dieses Jahr ins Wasser fallen und auch ans Nachholen im Moment nicht wirklich zu denken ist, vielleicht Ende des Jahres, vielleicht aber auch erst in zwei Jahren. Aber das ist - ich sage es oft - eine Luxussorge, verglichen mit denen meines Romanhelden, dem schlicht die Lebensgrundlage wegbricht. In einem Land, in dem es natürlich keine Rettungsschirme oder ähnliches gibt.


    Ich bin also ängstlich-gespannt, wie das letzte Kapitel meines Romans sein wird - ich hatte es mir immer so hoffnungsvoll vorgestellt: Adane in relativer Sicherheit und mit relativem Wohlstand. Ich hätte es ihm gern erspart, dass er noch einmal eine solche Wendung mitmachen muss :down

  • Corona ist nicht nur etwas, es bewirkt und zeigt auch etwas. Viel spannender - wenn man diese Wortwahl zulässt - als die Pandemie selbst finde ich den Umgang der Menschen mit ihr und ihren Folgen. Wir erleben eine Extremsituation, die wir für ausgeschlossen gehalten haben, wir ziehen nach, was Kriegserlebnisse und ähnliches anbetrifft, natürlich längst nicht in dieser Härte, bei weitem mit (vorläufig) nicht so extrem drastischen Folgen, aber plötzlich, im Jahr 2020, sind Anpassungsfähigkeit, Krisenmanagement, Solidarität, aber auch selbstbewusster Egoismus, etwas, das man "Überlebenskampf" nennen könnte, und viele andere Eigenschaften wieder gefordert. Menschliche Existenzen sind gefährdet, ohne dass die Menschen dafür selbst verantwortlich wären, und es sterben Leute, ohne dass man viel dagegen tun kann. Und niemand weiß, was noch auf uns zukommt. Oder was nicht.


    Ich habe so meine Zweifel, was ich als Tom Liehr den Leuten über die Situation erzählen könnte, das sie nicht selbst wissen. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass zwischen 1933 und 1945 besonders starkes Interesse an Kriegsliteratur geherrscht hat - oder dass Tsnunamibücher im Jahr 2004 besser liefen als sonst. Und auch unmittelbar danach nicht. Ich werde Corona sicher reflektieren, kurzfristig in Form von kleinen Texten, mit denen ich nichts weiter mache als sie zu schreiben, und langfristig ohnehin, wenn die Folgen absehbar sind, die Art und Weise, wie sich unsere Welt verändert hat - oder eben nicht. Aber so richtig Thema ist das nicht, noch nicht oder vielleicht nie; Katastrophen sind untypisch, und Menschen in Katastrophenzeiten auch. Dass ich das jetzt schreibe und damit sage, liegt aber auch daran, dass ich optimistisch bleiben und hoffen will, dass wir da ohne extreme bleibende Blessuren wieder rauskommen. Bis dahin überlasse ich den Millionen Bloggern, die aus der "Schreibquarantäne" berichten, ihren täglichen Wutausbruch über die Ignoranz der Mitmenschen - und die Überraschung darüber, wie wenig anders als eine ganz normale Schreibklausur das gerade für viele Autoren ist.

  • Ich arbeite an meinen Projekten nicht anders als zuvor.

    Und eben das ist mir unmöglich geworden. Meine Geschichten und ihre Figuren ohne Coronafilter zu betrachten. Bei den vor einigen Jahren geschriebenen Geschichten nehme ich es noch schulterzuckend hin, sage mir, nun gut, sie entstammen einer Realität, die so nie wieder sein wird. Betrachte ich sie dann jetzt halt als historische Romane.

    Aber bei meinen aktuellen Projekten funktioniert das nicht. Mein eigenes Fühlen und Denken hat sich seit zwei Monaten spürbar verändert und wandelt sich jeden Tag noch ein wenig mehr. Bei meinen Freunden, Bekannten und Nachbarn ist es nicht anders. Deshalb denke ich, dass auch den Figuren einer Geschichte, die in der Jetztzeit angesiedelt ist, zumindest eine Verunsicherung anzumerken sein sollte, die sie ohne Corona nicht zeigen würden, sowie ihr Suchen und Tasten im Wunsch, ein paar Orientierungspunkte zu finden, sichtbar zu machen.

    Über die Pandemie zu schreiben oder diese in Erzählungen zu berücksichtigen habe ich überlegt, aber schnell verworfen. Das ist nichts für mich, können andere sicher besser.

    Aber so richtig Thema ist das nicht, noch nicht oder vielleicht nie; Katastrophen sind untypisch, und Menschen in Katastrophenzeiten auch.

    Seltsamerweise empfinde ich bereits die Vorstellung, über Corona zu schreiben, als überraschend reizlos, aller vermeintlich zu erwartenden Verlockungen zum Trotz, die einem Thema von solcher Wucht doch eigen sein müssten.

    Aber ich gehe davon aus, dass Corona von nun an in meinen Geschichten als ein Hintergrundrauschen wahrnehmbar sein wird.

    Ich bin also ängstlich-gespannt, wie das letzte Kapitel meines Romans sein wird - ich hatte es mir immer so hoffnungsvoll vorgestellt: Adane in relativer Sicherheit und mit relativem Wohlstand. Ich hätte es ihm gern erspart, dass er noch einmal eine solche Wendung mitmachen muss :down

    Mit dem Roman, an dem ich derzeit arbeite und der sich bereits in einem fortgeschrittenen Stadium befindet, geht es mir bis zu einem gewissen Punkt ähnlich. Auch die Figuren dieses Romans werden nicht ungeschoren davonkommen können. Geplant war ein Hoffnung machendes Ende. Ganz vom Tisch ist es noch nicht. Aber die Geschichte dort hinzubringen wird unter Berücksichtigung der durch Corona veränderten Realität nicht einfach. Zudem ist die Geschichte einmal mehr eine Roadnovel. Und einen Roadtrip durch halb Europa mit seinen derzeit geschlossenen Grenzen und allen möglichen Quarantäneverordnungen glaubhaft zu erzählen wird eine echte Herausforderung werden.

    Dass deine Adane-Geschichte einem real existierenden Menschen nachempfunden ist, stellt dich natürlich noch vor ganz andere Probleme, und ich kann gut nachvollziehen, dass du dem realen Adane wie dem Protagonisten deiner Geschichte einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft schenken möchtest. Aber warum sollte das nicht auch in Coronazeiten möglich sein?

    Dass ich das jetzt schreibe und damit sage, liegt aber auch daran, dass ich optimistisch bleiben und hoffen will, dass wir da ohne extreme bleibende Blessuren wieder rauskommen.

    Genau. Hoffnung ist derzeit alles, was wir haben. Und das ist mehr, als uns vielleicht manchmal scheinen will.

  • Ich schreibe über eine vergangene Zeit. Ich schreibe über eine Familie, die es einmal gab, deren Nachkommen es noch gibt.

    Ich schreibe gerade über eine jüdische Familie, die ab 1935 plötzlich nicht mehr in Theater und in die Oper durften. Sie durften nicht mehr in Restaurants und Cafes. Schwimmbäder und Sportplätze waren verboten. Wettbewerbe, öffentliche Verantsaltungen - waren verboten. Und dann durften sie sich noch nicht mal mehr treffen.

    Damals hat es nur einen Teil der Gesellschaft betroffen. Nur die Juden durfte das alles nicht mehr. Sie fanden Auswege - es war keine Krankheit, kein Virus, das sie einengte, es waren die Nazis.

    Aber noch nie habe ich etwas so nachvollziehen können wie heute.

    Vorher waren es Berichte, Erzählungen, Tagebucheintragungen ... schrecklich, aber für MICH als Person nicht realisierbar. Mir würde so etwas nie passieren können. Never. Und auch niemanden in Deutschland würde so etwas jemals wieder passieren. Das würden wir nicht zulassen.

    Wer rechnet schon mit einer Pandemie?

    Das ist doch Thema amerikanischer Filme, die man mit einem leichten Schauer und Grusel schaut und dennoch weiß, das es ein Film ist - Fiktion - und das gleich ein Held hervorspringt und alle sofort rettet.

    Ich schreibe gerade über eine Familie die 1940 in das lebendige und lebhafte New York kommt, nach Chicago. Eine Familie, die eine andere Welt erlebt - ohne Lebensmittelmarken, Verdunkelung und Gasmasken. Und gleichzeitig habe ich die Bilder aus den Nachrichten vor Augen - von einem New York mit leeren Straßen, mit Massengräbern, ein Chicago mit Ausgangsperren und voller Angst. Bilder von Kühltransportern voller Leichen.

    Diese Diskrepanz macht mir zu schaffen und ich finde es nicht leicht, diese Geschichte zu schreiben.

  • Ich würde auch nicht über Corona schreiben und auch nichts darüber lesen wollen. Eine Bekannte hatte ein derartige Umfrage bei Facebook gestartet, und nur ein Drittel der Antwortenden (aber immerhin) hatte Interesse an solchen Geschichten.


    Mir fällt es gerade schwer, überhaupt fiktional zu schreiben. An meinem Roman weiterzuschreiben und das Personal einander naherücken und ungetrübt feiern zu lassen, ist irgendwie befremdend. Ich bin auch optimistisch, dass wir die Pandemie überstehen werden, aber die Eindrücke werden sich in unseren Geschichten wiederfinden. Wir haben auf einmal ganz unmittelbar mit Beschränkungen, Existenzängsten und Angst um unsere Gesundheit und die unserer Lieben zu tun. Die meisten von uns kannten das bisher nicht in der Tragweite. Die Eindrücke werden sich in unserem Unterbewusstsein einnisten und das Schreiben beeinflussen. Vielleicht ist es ein guter Weg, mit dem Monströsen um uns herum umzugehen.

  • Und da die sogenannte jüdische Weltverschwörung ja die Mutter aller Verschwörungstheorien ist, werden sicher bald von rechts außen entsprechende Framings angeboten werden. Geschichten über jüdische Opfer im Nazireich von einer nicht ganz unbekannten 42er klauen denen vielleicht den einen oder anderen potenziellen Zuhörer. Find ich super.


    Bei mir ändert das Virus ganz wenig. Ich beschäftige mich bisschen mit den Virologen, bin froh, dass man mehr auf Wissenschaftler hört, schreibe aber wie vorher. Und: Sind Pandemien und Katastrophen nicht schon seit Jahren bis zum Abwinken auf allen Kanälen zu sehen? The Walking Dead, Fear The Walking Dead, World War Z, etc. Ob da noch Platz für Corona bleibt? :kratz2

  • Ich schreibe gerade über eine Familie die 1940 in das lebendige und lebhafte New York kommt, nach Chicago. Eine Familie, die eine andere Welt erlebt - ohne Lebensmittelmarken, Verdunkelung und Gasmasken. Und gleichzeitig habe ich die Bilder aus den Nachrichten vor Augen - von einem New York mit leeren Straßen, mit Massengräbern, ein Chicago mit Ausgangsperren und voller Angst. Bilder von Kühltransportern voller Leichen.

    Diese Diskrepanz macht mir zu schaffen und ich finde es nicht leicht, diese Geschichte zu schreiben.

    Ausgerechnet New York, für viele Generationen von Auswanderern, Verfolgten und Hungrigen das Symbol der Hoffnung auf ein besseres Leben schlechthin. Ja, und die Bilder, die jetzt von dort kommen, lassen eher an eine Todesfalle denken.

    Am Ende einer Geschichte möchte ich auch immer, dass es meinen Romanfiguren gut geht, will sie zumindest in Sicherheit wissen. Und die sind ja „nur“ fiktiv. In deinen Geschichten aber geht es um Menschen, die tatsächlich gelebt haben sowie um ihre Nachfahren. Die Diskrepanz, von der du sprichst, bekommt dadurch noch einmal eine ganz andere Dimension. Und dass dir das beim Schreiben zu schaffen macht, kann ich sehr gut verstehen.

    Mir fällt es gerade schwer, überhaupt fiktional zu schreiben. An meinem Roman weiterzuschreiben und das Personal einander naherücken und ungetrübt feiern zu lassen, ist irgendwie befremdend.

    Ab der letzten Februarwoche bis weit in den März hinein habe ich mehrere Wochen lang überhaupt nicht schreiben können. Nicht ein einziges Wort. Ich war wie gelähmt. Und dann, Ende März, sind die Dinge wieder in Bewegung geraten. Aber anstatt an meinem aktuellen Romanprojekt weiterzuarbeiten, habe ich etwas getan, das ich noch nie zuvor in meinem Leben gemacht habe. Ich habe mir selber Geschichten erzählt. Geschichten, die von vornherein ausschließlich an mich selbst adressiert waren, ohne jeden Gedanken an Zielgruppen und etwaige Leserwartungen und ohne mir den Kopf über Political Correctness und Ähnliches zu zerbrechen. Das war eine unglaublich positive Erfahrung, und ich hoffe sehr, ein wenig von dieser nie zuvor erfahrenen Freiheit und Power beim Schreiben mit hinüberzunehmen in die gerade wieder aufgenommene Arbeit an meinem aktuellen Roman.

    Und: Sind Pandemien und Katastrophen nicht schon seit Jahren bis zum Abwinken auf allen Kanälen zu sehen? The Walking Dead, Fear The Walking Dead, World War Z, etc. Ob da noch Platz für Corona bleibt? :kratz2

    Ganz sicher ist das so. Offensichtlich hat diese Art von Entertainment aber eine treue Stammkundschaft, denn es hört ja nie auf. Und was Corona betrifft, bin ich mir ziemlich sicher, dass zumindest einige der Megabestsellerautoren jenseits des Atlantiks bereits heftig mit den Hufen scharren, um als erste mit dem ultimativen Thriller zur großen Coronaverschwörung auf dem Markt zu sein.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

  • Mir fällt es gerade schwer, überhaupt fiktional zu schreiben. An meinem Roman weiterzuschreiben und das Personal einander naherücken und ungetrübt feiern zu lassen, ist irgendwie befremdend.

    Ja, diese Hürde muss ich auch überwinden, wenn ich derzeit schreiben will, soll oder muss. Die Normalität, die man thematisieren will, ist gleichsam entrückt, und ich muss auch ein wenig gegen das Gefühl ankämpfen, die Akteure der aktuellen Situation - also uns alle - irgendwie ungerecht zu behandeln, wenn ich über diese Welt und Zeit außerhalb der Krise schreibe. Es geht, aber es fühlt sich seltsam an. Es erfordert mehr Überwindung. Dadurch macht es auch weniger Spaß.

  • Zitat
    Hat sich eigentlich eure Wahrnehmung auch so geändert? Sehe Werbung oder Filme, denke ich immer - ABSTAND, ihr müsst ABSTAND halten. WAS? Ihr küsst euch? Nicht die Hand geben, bloß nicht die Hand geben ...

    Das ging mir die ersten Tage nach meiner Rückkehr auch extrem so, dass ich immerzu dachte: Dürfen die das überhaupt?

    Eine Freundin erzählte mir, dass sie das auch von verschiedenen Leuten gehört hätte, also eigentlich meinte sie, das hätten alle irgendwann gehabt.


    Bei mir geht das inzwischen wieder besser, als ob sich mein Geist irgendwie ausreichend klar gemacht hätte, dass jetzt eine andere Zeit ist, aber dass es früher eine andere Zeit gegeben hat, in der das alles erlaubt war.


    Interessant finde ich zu der momentanen Situation noch ein Zitat von Barlach, der mal über die unwirkliche, stillstehende Zeit des Krieges gesprochen hatte. Ich hatte das Zitat in meinem Mecklenburgbuch verwendet und meine Mutter (die das Quasi-Erstlektorat gemacht hat) meinte damals, sie würde das nicht verstehen und könne sich nicht vorstellen, warum Kriegszeit stillstehend sei. Im Moment kann ich das sehr, sehr gut nachvollziehen, es ist eine Art Stillstand, weil ich so wenig beeinflussen und eben nur abwarten kann, was passiert. Aber ich gebe zu, dass ich das gerade ganz gern mag.

  • Gerade erscheint ein Roman des amerikanischen Journalisten und Romanautors Lawrence Wright über eine Pandemie. Er hat den Roman nach ausgiebigen Recherchen vor der Corona-Pandemie geschrieben. Letzten Freitag stand in der SZ dazu ein Interview. Lesenswert.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Mich beeinflußt das alles nicht weiter. Da ich ohnehin das Leben einer Auster führe, hat sich für mich eigentlich kaum etwas geändert, außer, daß ich auf gewisse Produkte verzichten muß, weil einige Geschäfte geschlossen haben. Anderen Leuten die Pfoten zu geben, habe ich schon immer verabscheut. Heute habe ich endlich einen Vorwand das nicht mehr zu tun, und auch im Sommer Handschuhe zu tragen. :) Meinen Nachbarn, (die ich eh nicht ausstehen kann), gehe ich noch mehr aus dem Weg. Statt mit der Straßenbahn fahre ich nur noch mit dem Rad. Das spart Geld und ist erst noch gesünder. Nein, ich kann mich wahrlich nicht beklagen.


    Ich hatte mir übrigens schon vor Jahren Szenarien ausgedacht, bei denen eine Seuche große Teile der Bevölkerung dahin rafft. (Wobei die eigentliche Geschichte sich mit der Zeit nach der Pandemie beschäftigt.) Über aktuelle Dinge, Politik oder vitale soziale Anliegen und Zeug schreibe ich aber grundsätzlich nicht. Ich bin ein Geschichtenerzähler, kein Modeautor, der immer dem Zeitgeist hinterher rennt, oder jemand, der glaubt die Menschen zu erziehen, belehren oder zu bekehren zu müssen.

  • Ich schreibe grade gar nicht. Ich komme aus dem beobachten gar nicht raus.

    Letzteres ist bei mir nicht anders. Aber nur das Schreiben hilft mir derzeit, ein wenig Struktur in die Kakophonie der Informationen, Bilder und Eindrücke zu bringen, und um nicht aus einer sowieso schon prekären Balance zu kippen.

    Über aktuelle Dinge, Politik oder vitale soziale Anliegen und Zeug schreibe ich aber grundsätzlich nicht. Ich bin ein Geschichtenerzähler, kein Modeautor, der immer dem Zeitgeist hinterher rennt, oder jemand, der glaubt die Menschen zu erziehen, belehren oder zu bekehren zu müssen.

    Ob jemand dem Zeitgeist hinterherrennt, wird in vielen Fällen maßgeblich davon abhängen, ob sie oder er von seinen Geschichten leben will oder leben muss. Das hat zunächst einmal nichts mit der Epoche zu tun, in der die Handlung spielt. Dystopien oder Vampirromane zum Beispiel haben zu bestimmten Zeiten häufig mehr dem jeweiligen Zeitgeist entsprochen, und tun dies zum Teil immer noch, als viele Geschichten, die in der Gegenwart und nahe an der Realität angesiedelt sind. Und viele Autorinnen und Autoren, die Gegenwartsliteratur schreiben, sind ganz hervorragende Geschichtenerzähler.

    Und wer meint, die Menschen mit seinen Geschichten erziehen, belehren oder bekehren zu müssen, sollte vielleicht über einen Berufswechsel nachdenken. Jedenfalls kann ich mir nicht vorstellen, dass heutzutage solche Geschichten noch eine Maus hinter dem Ofen hervorlocken.



    Ich danke allen, die hier bislang ihre Gedanken zum Thema geteilt haben und will versuchen, für mich ein vorläufiges Resümee der Diskussion zu ziehen.


    Corona ist für mich kein eigenständiges Thema. Andererseits wüsste ich derzeit aber nicht, wie und über was ich zu schreiben vermöchte, ohne dass darin nicht die vielfältigen und massiven Veränderungen mitschwingen, denen unser aller Leben durch Corona unterworfen wird.


    Manchmal reflektiere ich schreibend eine Nachricht. Zum Beispiel die, dass Virologen, die lediglich versuchen, ihren Job zu machen, Morddrohungen erhalten.

    Ein andermal lasse ich fiktive Figuren in Dialogszenen über Beobachtungen und Erfahrungen reden, die ich selber gemacht habe. Zum Beispiel darüber, mit welch atemberaubender Geschwindigkeit seit einigen Tagen Solidarität und Miteinander der ersten Wochen aufgekündigt werden. Dass ich seit einigen Tagen in halbe Gesichter blicke, und wie sich daraufhin der Teil oberhalb der Maske abwendet, sobald er meinen Blick bemerkt. Ich, der andere, bin zur Bedrohung geworden. Darüber schreibe ich. Wie Menschen ihren inneren Kompass verlieren, einen Kompass, der ihnen bisher half, gesellschaftliche Übereinkünfte zumindest nicht grundsätzlich in Frage zu stellen. Denn man braucht nicht lange zu suchen, um zu erkennen, wie der zivilisatorische Lack an vielen Stellen abzublättern beginnt. Eine gesamtgesellschaftliche Triage scheint jeden Tag ein paar Anhänger mehr zu finden. Wer leidet am meisten unter Corona? Wer bringt die größten Opfer? Wer sollte stattdessen die größten, das größte Opfer bringen? Der Ruf nach der Eisscholle erklingt immer ungenierter.

    Fast alle wollen ihr Leben zurück. Will ich auch. Geht nur gerade nicht. Und nur die Naiven können glauben, wir bekämen unser Leben, so wie wir es kannten, jemals zurück. Einige gehen sogar so weit, Polizisten ihren Hass und ihre Viren ins Gesicht zu schleudern, während sie schreiend ihre Freiheit einfordern. Pochen auf ihre Grundrechte. Welche Freiheit? Welche Grundrechte? Das Grundrecht, regelmäßig um die halbe Welt zu düsen und auch noch die entlegensten Winkel dieser Welt zuzumüllen, nur um ein paar geile Urlaubsfotos auf Instagram hochzuladen? Und was sind schon die Leben von ein paar Alten, die vermutlich ja sowieso beim nächsten Windstoß tot umfallen würden oder die Leben all derer, auch die vieler jüngerer Menschen, die einer Risikogruppe angehören, gegen die Freiheit, bei einem gepflegten Pils im Biergarten Verschwörungstheorien und Coronaviren auszutauschen? Oder zusammen mit ein paar Kumpels endlich wieder mit angekokelten Spareribs und Schweinebäuchen die eigene Gesundheit ruinieren zu dürfen?

    Ungezählte Menschen leben in schlimmster Existenzangst, wissen nicht, wie es weitergehen kann. Viele Selbstständige und Freiberufler stehen vor den Trümmern ihres Lebenswerks, Start-Ups vor dem Aus. Und fast alle haben Angst, Angst sich zu infizieren, Angst um ihre Angehörigen, Angst vor der Menschheit, die wir nach Corona sein werden.


    Über all das schreibe ich, will ich schreiben. Warum sollte ich ausgerechnet jetzt über die Vor-Coronazeit schreiben? Gar von der unheilen Welt jener Epoche als heiler Welt erzählen in der vagen Hoffnung, damit möglicherweise den Eskapismus einiger Menschen bedienen zu können? Warum mich an einer Utopie oder Dystopie versuchen? Wir stecken doch in einer solchen mittendrin. Wobei lediglich noch nicht ausgemacht ist, als welche von beiden sich die aktuelle Situation und die nähere Zukunft aus einer zukünftigen Perspektive betrachtet herausstellen wird.


    Herzliche Grüße,


    Jürgen

  • Juergen P. Mich würde mal interessieren, wie es dir inzwischen damit geht?


    Bisher beeinflusst Corona mein aktuelles Buch nicht. Nur, als ich neulich eine Szene in einem Café geschrieben habe, musste ich kurz an die Maskenpflicht denken und habe mich gefragt, ob irgendwann mal Änderungen an dem Manuskript nötig werden – je nachdem, wie sich das alles entwickelt (nicht nur wegen Maskenpflicht sondern auch in Bezug auf Reisen etc.). Aber das kann man ja jetzt noch nicht absehen. Im nächsten Buch werden Reisen allerdings eine Rolle spielen ... von daher bin ich mal gespannt. ;)

  • Juergen P.: Mich würde mal interessieren, wie es dir inzwischen damit geht?

    Soweit es das Schreiben betrifft, bin ich mittlerweile wieder deutlich entspannter, als ich es damals im April war.

    Am Anfang hatte ich die Befürchtung, meine beiden letzten Geschichten, eine beendete sowie eine in Arbeit befindliche, komplett eindampfen zu müssen. Beide spielen ursprünglich unmittelbar vor Corona und sind in weiten Teilen Roadnovels. Schwierig, wenn nicht gar unmöglich, habe ich zunächst gedacht, während einer Pandemie eine Roadnovel zu schreiben, in der sich der Handlungsort über mehrere Landesgrenzen hinweg ständig verlagert. Ich habe mich dann für die optimistische Annahme entschieden, dass es schon bald sowohl Impfstoffe wie auch wirksame Medikamente gegen Covid-19 geben wird und „siedele“ deshalb kurzerhand beide Geschichten ins Jahr 2021 um.

    Corona erwähne ich dabei mit keinem Wort und flechte in den ursprünglichen Text nur hier und da ein paar dezente Anspielungen ein. Das sieht konkret dann zum Beispiel so aus, dass eine Nebenfigur während des Betrachtens eines unbeschreiblichen Tohuwabohus auf Strand und Uferpromenade eines belgischen Küstenstädtchens zum Protagonisten der Geschichte sagt: „Wenigstens haben alle wieder ihr Leben zurück.“ Ich denke, das versteht zumindest noch während der kommenden Jahre jeder.


    Falls deine Frage allerdings mehr auf die gesamtgesellschaftlichen Implikationen der Pandemie abzielt sowie auf das, was sie mit dem Denken und Fühlen des Einzelnen macht, dann werde ich dir (die) eine Antwort schuldig bleiben müssen, bzw. fällt diese, gemessen an meinen Hoffnungen des Frühjahrs, deutlich pessimistischer aus. Die Frustrationstoleranz vieler Menschen ist letztendlich doch erschreckend schwach ausgebildet und immer häufiger tritt wieder blanker Egoismus an die Stelle der Solidarität und Hilfsbereitschaft, für die wir uns im Frühjahr noch gegenseitig gefeiert haben. Viele legen zudem ein seltsam paradoxes Verhalten an den Tag, indem sie zwar einerseits ihre Angst vor einer Ansteckung zugeben, um dann anzufügen: „Awer irjendwann is et och jenuch mit dem Corona.“ Und sich daraufhin entsprechend sorglos verhalten, frei nach dem Motto: "Es reicht! Corona go home!" Und in ein paar Monaten schubsen die Coronaleugner und Maskenverweigerer diejenigen, die sich die ganze Zeit über verantwortungsvoll verhalten haben, aus den Intensivbetten.X(


    Du siehst, ein wenig fehlt mir derzeit die Zuversicht. Aber auch deshalb schreiben wir ja. Und eine gute Geschichte wird nie aus Wohlempfinden geboren. Wer weiß? Vielleicht wird sich das Coronajahr ja als exzellenter Jahrgang für Bestseller entpuppen.;)


    Herzliche Grüße,:)


    Jürgen

  • Ich bezog es vor allem auf das Schreiben. Schön zu hören, dass du da wieder entspannter bist.

    Was das Genre angeht, ist es sicherlich eine gute Idee, die Geschichten dann später spielen zu lassen.


    Das mit den Bestsellern ist eine interessante Theorie. ;) Ich könnte mir zumindest vorstellen, dass – aufgrund der eingeschränkten Freizeitmöglichkeiten und Kurzarbeit – viele so manch ein Hobby neu angefangen oder wiederbelebt haben.

    Die um sich greifende Coronamüdigkeit ist ja verständlich, viele sind frustriert von den täglichen Nachrichten dazu. Aber ich stimme dir zu, dass es ein Problem ist, wenn dann nicht mehr auf andere geachtet wird.