Stewart O'Nan: Emily, allein

  • Der Titel ist Programm


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    Gute Geschichten erzählen von Menschen und nur in zweiter Linie von Ereignissen – die Ereignisse bringen uns diese Menschen, von denen da erzählt wird, lediglich auf sehr plastische Weise näher. Es wären auch ohne die Ereignisse dieselben und genauso interessante Menschen, aber wir würden ihre Geschichten nicht hören, weil wir so sehr auf das Geschehen fokussiert sind.


    Der Amerikaner Stewart O’Nan hat sich das gleichsam statische Erzählen auf die Fahnen geschrieben, das Erzählen ohne großes Spektakel, sehr dicht an seinen Figuren und etwas weiter weg von der dramaturgischen Kulisse – etwa im Vermisstenroman „Alle, alle lieben dich“ oder im sehr leisen, ergreifenden Ehedrama „Die Chance“. In „Emily, allein“ (2011), das in der Chronologie zwischen „Ganz alltägliche Leute“ (2001), „Abschied von Chautauqua“ (2002) und dem kürzlich (2019) erschienenen „Henry, persönlich“ steht, berichtet O’Nan zum dritten von bislang vier Malen von Emily Maxwell aus Pittsburgh, Witwe von Henry, Schwägerin von Arlene, Mutter von Margaret und Kenneth – und Besitzerin von Rufus, dem Hund. „Emily, allein“ ist aber gut verständlich auch ohne Kenntnis der anderen Romane.


    Der Ehemann Henry ist schon seit einer Weile tot. Im Mittelpunkt von Emilys Leben stehen die Telefonate mit der Familie, die über die Staaten verstreut ist, das Warten auf den Frühling, die wöchentlichen Frühstückstreffen im „Eat’n Park“ mit der Schwägerin, der Hund Rufus, das noch immer verwaiste Haus der Millers gegenüber, Klassik im Radio, das sonntägliche Rätsel in der „Times“, die Veränderungen in Pittsburgh und andere Kleinigkeiten, die sich wie Belanglosigkeiten anhören, aber natürlich keine sind, wenn sie das eigene Leben ausmachen. Höhepunkte sind die Woche im Sommer in Chautauqua, wenn sich die Familie in einem gemieteten Ferienhaus trifft, aber Thanksgiving und Weihnachten erfüllen die hochgesteckten Erwartungen kaum noch. Es ist sehr anstrengend geworden, sich um so viele Leute kümmern und allen gefallen zu müssen.


    Emily ist eine nachdenkliche, behutsame, planvolle Frau. Sie ist klug und sehr aufmerksam, aber sie ist nicht nur gut im Sinne einer positiven Heldin. Sie ist Republikanerin. Sie ist argwöhnisch. Sie ist routiniert, aber sie stellt auch zur Disposition – etwa den mächtigen, benzinschluckenden Oldsmobile in der Garage, ganzer Stolz seines verstorbenen Besitzers. Emily stößt das Auto schließlich ab und tauscht es gegen einen flotten, neuen Subaru.


    In diesem Roman geschieht tatsächlich nicht sehr viel, und umso bemerkenswerter ist, wie all die Kleinigkeiten, die O’Nan aus dem Alltag seiner Hauptfigur berichtet, im Gedächtnis bleiben. Es spielt auch keine Rolle, ob man Emily am Ende (oder schon am Anfang) mag oder nicht, denn das ist kein Roman, der für etwas wirbt, der einem etwas oder jemanden verkaufen will. Urteilen und entscheiden darf man ganz allein, aber auch das ist kein Muss. Die ruhige, fast andächtige, akribische und ungeheuer empathische Erzählweise vermittelt etwas, das den spektakulären, sich an Hooks und Cliffhangern abarbeitenden Romanen vollständig fehlt, nämlich das Gefühl, die Figur in der Geschichte richtig kennengelernt zu haben.


    ASIN/ISBN: 3499256290