Ann Patchett: Die Taufe

  • Wo sich zwei Wege kreuzen, entstehen zwei Abzweigungen


    fuenfsterne.gif


    Als der Stapel bislang ungelesener Bücher allmählich abgetragen war, fiel mir dieser Roman in die Hände, den ich vor plusminus zwei Jahren aufgrund des Klappentextes als Urlaubslektüre gekauft, dann aber immer wieder vor mir hergeschoben habe, weil ich Cover und Titel doch eher unspannend fand. Der Roman heißt im Original allerdings „Commonwealth“, also sinngemäß „Gemeinwesen“ – der deutsche Titel „Die Taufe“ fokussiert lediglich auf das Ereignis, mit dem die Geschichte beginnt. Hier werden zwar sämtliche Voraussetzungen für die folgenden Ereignisse geschaffen, aber die Taufe selbst ist für den Rest der Story belanglos. Anders gesagt: Es geht nicht um eine Taufe in „Die Taufe“.


    Im Jahr 1964 feiern die Keatings – der Polizeidetective Fix und seine hinreißend schöne Frau Beverly – besagte Taufe ihrer zweiten Tochter Frances, genannt Franny. Das Haus ist voll, viele Nachbarn, Freunde, Verwandte und Arbeitskollegen sind gekommen. Und irgendwann am frühen Nachmittag klingelt Albert Cousins an der Tür, bewaffnet mit einer großen Flasche Gin als für eine solche Gelegenheit eher ungewöhnliches Mitbringsel. Der gutaussehende stellvertretende Bezirksstaatsanwalt, der selbst Familienvater ist, ist zwar nicht eingeladen, aber der Tag ist heiß und man ist gesellig. Aus der Feier wird ab diesem Punkt eine Party, die Nachbarn schaufeln frisch gepflückte Orangen herbei (dieser Anfang spielt in Los Angeles), dazu Tequila und Wodka - und was sonst noch so in den Hausbars herumsteht. Aber daran liegt es nicht, dass sich der ungebetene Besucher und die Mutter des Täuflings irgendwann heimlich sehr intensiv küssen. In der Folge zerbrechen zwei Ehen, aber es entstehen neue Verbindungen und Verstrickungen. Die Taufe ist der Ausgangspunkt einer Vielzahl von Geschehnissen, Wendungen und Begegnungen, die es allesamt nicht gegeben hätte, wenn Albert „Bert“ Cousins nicht einer Laune nachgegeben und diese Feier aufgesucht hätte.


    Der Roman endet viele Jahre später fast in der Jetztzeit, aber dazwischen hat er es wahrhaftig in sich. Ann Patchetts Erzählstil und ihre Sprache sind zum Niederknien – von wuchtiger Präzision, zugleich aber auch hinreißend schön, sehr bildhaft, und über die Maßen zwingend. Wenn man sich an ihre Eigenart gewöhnt hat, Rückblenden und (jeweilige) Gegenwartshandlung sehr abrupt zu mischen, entfaltet sich eine starke, beeindruckende, spannende und vielschichtig aufgebaute Erzählung, die ohne Zweifel als „Great American Novel“ bezeichnet werden kann, als einer jener (wenigen) Romane also, die es schaffen, das Wesen der amerikanischen Gesellschaft anhand einiger Schicksale nachzuzeichnen und exemplarisch für alles Mögliche zu stehen. Und sozusagen den Stand der Dinge, was die literarische Qualität anbetrifft, abzubilden.


    Vor allem aber macht es großen Spaß, die oft tragische, jedoch sehr optimistisch erzählte Geschichte von Franny und ihren Geschwistern, Ehegatten, Kindern, Eltern, Verwandten und Freunden zu lesen, von Begegnungen, die große Wirkung in der Zukunft haben, und anderen, die es nie gegeben hätte, wenn nicht vor langer Zeit irgendwas Bestimmtes geschehen wäre. Ann Patchett zeichnet das Leben ihrer Figuren als ein Geflecht von Pfaden, die sich gekreuzt haben, und jede der sich daraus ergebenden Abzweigungen hätte in ein anderes Leben geführt als dasjenige, von dem wir hier zu lesen das Vergnügen haben (oder umgekehrt). Es ist, einfacher gesagt, eine Geschichte darüber, wie sehr ein Leben das andere beeinflussen kann.


    Ich freue mich über die späte Zufallsentdeckung und habe sofort „Bel Canto“ – für den die Autorin den PEN/Faulkner Award erhalten hat – auf die Leseliste genommen. Ann Patchett gehört für mich in eine Reihe etwa mit Annie Proulx und John Updike.


    ASIN/ISBN: 3492312888