Margaret Atwood: Die Zeuginnen

  • Wehmütige Erinnerungen


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    Ich habe mich lange dagegen gesträubt, dieses Buch in die Hand zu nehmen, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, wie eine Fortsetzung des kongenialen „Der Report der Magd“ funktionieren sollte (womit ich den Roman meine – und nicht etwa die Fernsehserie). Aber tatsächlich ist „Die Zeuginnen“ keine Fortsetzung, was Botschaft, Duktus, Erzähltechnik und Aufbau anbetrifft. Die beklemmende dystopische Erzählung aus Sicht der Magd „Desfred“ wird mit diesem Buch fast 35 Jahre später um ein Sequel ergänzt, um eine Rahmengeschichte, die anderen Prinzipien und Paradigmen folgt.


    Wir befinden uns einige weitere Jahre in der Zukunft. Das Land Gilead, das offenbar einen Großteil der Fläche der ehemaligen U.S. of A. einnimmt, ist eine extrem konservative, strikt patriarchalische, archaisch und brutal agierende Theokratie, basierend auf einem fundamentalistischen, bibeltreuen Christentum. Das Sagen haben die männlichen „Kommandanten“, denen die Frauen als Marthas (Gehilfinnen) dienen, als Mägde (Leihmütter) zugeordnet oder als Ehefrauen versprochen sind, und meistens wird schon geheiratet, wenn die Mädchen gerade die Pubertät erreichen. Alte, mächtige und meistens unansehnliche Männer werden mit blutjungen Frauen vermählt, und wenn sie später dann mehr oder weniger zufällig Witwer werden, bekommen sie eben neue. Die meisten Frauen sind aufgrund der einige Jahrzehnte zurückliegenden atomaren Katastrophe unfähig, Kinder zu gebären, oder wenigstens gesunde Kinder - deshalb die Mägde, bei denen die Herkunft egal ist, im Gegensatz zu den Ehefrauen.


    Die weibliche Sphäre des Landes wird von den sogenannten Tanten kontrolliert und organisiert, die - anders als die anderen Frauen - des Schreibens und Lesens mächtig sind. Geführt werden diese von Tante Lydia, die vor der Staatsgründung Juristin war und die anschließende gnadenlose Säuberung nicht nur überstanden, sondern zu ihrem Vorteil genutzt hat; der geneigte Atwood-Leser kennt sie aus „Der Report der Magd“. Die kluge, machtbewusste und zielgerichtete Frau ist jedoch keineswegs, wie alle glauben, eine vorbildliche und gottesfürchtige Beschützerin des Landes. Und außerdem ist da noch die „kleine Nicole“, die vor Jahren als Baby aus Gilead entführt wurde und nach der alle auf der Suche sind, nicht zuletzt, um die vom benachbarten Kanada aus operierenden Fluchthelfer moralisch in die Knie zu zwingen.


    Margaret Atwood lässt in diesem Buch drei Frauen ihre Geschichten erzählen – jene Tante Lydia, außerdem die junge Frau, die sich später als Nicole entpuppt (was für den Leser keine Überraschung ist) und eine werdende Tante, die auf diesem Weg eben noch so dem Schicksal als Gattin eines widerwärtigen, alten Kommandanten entkommen ist. „Die Zeuginnen“ besteht aus dem heimlich verfassten Geständnis von Tante Lydia und den späteren Zeugenaussagen der beiden anderen Frauen, weshalb schnell klar ist, dass zumindest sie die Geschichte überleben werden. Das nimmt ein wenig Spannung aus diesem Roman, bei dem es überraschenderweise tatsächlich vor allem um Spannung geht. Margaret Atwood bedient sich einiger Mittel und manchmal drastischer Effekte, um den Leser bei der Stange zu halten; „Die Zeuginnen“ ist beinahe ein Thriller, wenn auch ein verlangsamter.


    Leider aber auch ein ziemlich unlogischer und oft recht holpriger. Feministische, gesellschafts-, religions- und sozialkritische Aspekte, die u.a. „Der Report der Magd“ ausgemacht haben und hier durchaus auch nachdrücklich formuliert werden, leiden unter dem Versuch, ein spannendes, aber doch ziemlich vorhersehbares und manchmal ganz schön wackliges Handlungsgerüst um Elemente zu stricken, die man überwiegend bereits kennt oder in dieser Weise erwartet. Das Schicksal der drei Frauen bleibt dabei fast auf der Strecke, wird immer uninteressanter, zumal die ganze Geschichte wenig stimmig und die Motivationen der Figuren kaum überzeugend sind. Dazu kommen technische, medizinische und evolutionsbiologische Ungereimtheiten, die sich zuweilen nur schwer aushalten lassen. Die stilistische Schlichtheit einiger Abschnitte tut das ihrige - das Lesevergnügen hält sich oft in Grenzen.


    „Die Zeuginnen“ ist weder ein Pageturner, noch ein flammendes Manifest, dafür ist das Setting auch viel zu überzogen und klischeegeflutet. Es ist meistens ein recht lesbares Buch, das wehmütige Erinnerungen an einen der besten dystopischen Romane des vergangenen Jahrhunderts - nämlich „Der Report der Magd“ - wachruft, aber weder erzählerisch, noch dramaturgisch oder politisch auch nur entfernt anknüpfen kann.


    ASIN/ISBN: 3827014042