Grenzen der Aneignung - worüber "dürfen" Autoren schreiben und worüber nicht?

  • Ich finde nicht, dass die Parteinahme für Minderheiten automatisch Propaganda ist. Es ist eine Frage der Perspektive, was und wie erzählt wird. Von wessen Warte aus spreche ich? Wem gebe ich das erlebende Ich? Es bleibt wichtig, den Benachteiligten das Wort zu geben.


    Vertreter von Minderheitengruppen dramaturgisch als Schießbudenfiguren einzusetzen, finde ich in der Tat nicht richtig, solange es noch zu viele Menschen gibt, die von den Ressourcen abgeschnitten sind und somit zu den Minderheiten gehören.

  • Werde ich dann mitangeklagt, weil Acki Strunzböld aus Jena-Paradies nach der Axt gegriffen hat, nachdem er zuvor einen satirischen Text von mir über einen vergleichbaren Vorgang gelesen, aber nicht verstanden hat?

    Damit befändest Du dich, wenn auch in etwas anderer Form, in ziemlich prominenter Gesellschaft: Nachdem Goethe seinen "Werther" geschrieben hatte, kam es zu einer Suizidwelle unter jungen Männern. Goethes Schuld?

    Ich würde sagen, nein.


    Andererseits kann man ja durchaus einen Zusammenhang bemerken zwischen Gewaltfilmen oder -videos und der Verrohung der Gesellschaft. Da wäre vielleicht manchmal eine Art Selbstzensur der Filmemacher oder Spieleerfinder gar nicht so schlecht. Es hat eben doch alles zwei Seiten.

  • Ich finde nicht, dass die Parteinahme für Minderheiten automatisch Propaganda ist.

    Doch, das ist sie, wenn sie erzwungen wird, wenn man dazu genötigt wird, wenn Repressalien drohen. Dann ist es nichts weiter als ein Baustein in einer Propagandamauer. Und es macht Künstler zu Handlangern. Die, wenn sie dieser Linie nicht folgen, aussortiert werden.


    Um nicht missverstanden zu werden. Es gibt viel zu tun, wir haben in vielen Bereichen noch eine Menge Luft nach oben, und gerade von gesellschaftlicher Gerechtigkeit sind wir noch eine gute Strecke entfernt, auch wenn schon sehr viel Weg geschafft wurde. Aber diese Gerechtigkeit erreichen wir nicht, indem wir erzwingen, dass (nicht nur) in der Kunst Leute zwangsweise heroisiert werden, weil man sie als Figuren als repräsentativ missverstehen könnte, weil man jedem auf Basis seiner Merkmale Stellvertreterqualitäten zumisst, also sich ohne Wenn und Aber identitätspolitischen Paradigmen unterwirft. Das ist eine so absurde - aber inzwischen beinahe alltägliche - Forderung an die Kunst, dass es wirklich schwerfällt, ihr argumentativ zu begegnen. Was nichts daran ändert, dass sie immer häufiger kommt.

  • @ Tom: Du sagst, Du lässt Dir nicht vorschreiben, wie Du über wen zu schreiben hast und ich sage, ich verstehe, wenn „wer“ moniert, dass über „ihn“ verstärkt mit einer gewissen Tendenz z. B. geschrieben wird. Wer das missbrauchen wollte, um Stimmung zu machen, könnte das tun, indem er z. B. Transsexuelle nicht als z. B. Postbote, Lehrer, was auch immer, vorkommen lässt, sondern meinetwegen als serienmörder. Das bedeutet aber nicht gleichzeitig, dass ich Deine Sichtweise nicht nachvollziehen könnte.

  • Petra: Nun, aber nicht jede*:*r, derdiedas eine*:*n Transsexuelle*:*n als Serienmörder*:*in zeigt, möchte notwendigerweise transphobe Stimmung machen. Die Verkürzung, die hinter diesem - mit Verlaub, bescheuerten - Gedanken steht, ist aber offenbar immer zulässig. Genau wie die hinter der Forderung, Kunst habe jederzeit divers und tolerant und vorbildhaft und alles zu sein (darf aber zugleich nur den sozialen Hintergrund der Künstler zeigen, alles andere wäre unzulässige Aneignung - ein schwieriger Spagat, gell?). Da wird im negativen Fall die Wirkung der Kunst deutlich überschätzt (nicht jeder, der je Xavier Naidoo gehört hat, ist dadurch automatisch zum Idioten geworden - viele waren es vorher schon ;) ), und im positiven ihre didaktische Wirkung. Beides sind auch nur Randaspekte von Kunst - und für Künstler unterschiedlich bedeutungsvoll. Die anmaßende und widerwärtige Form von Kritik und Bevormundung, die sich hier etabliert, hat tatsächlich vor allem zum Ziel, Kunst zum Propagandawerkzeug zu machen. Es soll eine Gleichschaltung erfolgen. Und sie findet bereits statt, weil in den Verlagen, Redaktionen, Konferenzen usw. usf. der Weg des geringsten Widerstands gewählt wird.


    Ich komme mir dabei umso blöder vor, da ich keine Bevormundung dieser Art brauche, um meine Themen auch in diesem Bereich zu finden. Wer meinen letzten Roman gelesen hat, hat vielleicht eine Ahnung davon, was ich meine. Mir ist der respektvolle Umgang wichtig. Aber das, was hier geschieht, hat damit nichts zu tun. Weniger als nichts.

  • Hallo Tom,


    das Problem daran ist auch, dass wir, wenn auch unter der Forderung nach Berücksichtigung von Minderheiten, auf diese Weise (wieder) in einer Gleichschaltung der Medien landen können. Ob das dem Grundgedanken von Toleranz entspricht, wage ich zu bezweifeln.

  • @ Tom: Nein, natürlich nicht jeder! Bestimmt nicht mal die meisten. Ich bin auch unbedingt dafür, dass Angehörige von Minderheiten als Charaktere in Büchern oder im Film unbedingt auch mit negativen Eigenschaften belegt werden sollen. Es macht einen ja nicht zum Märtyrer, nur weil man mit einer Eigenschaft geboren wurde, die einem eher Nachteile als Vorteile beschert. Wenn aber eine Tendenz erkennbar sein würde, in der Art z. B., wie man nicht weiße Schauspieler besetzt, dann wird es für mich klar problematisch. Denn dann ist man bei der von Dir im Gegenzug ins Feld geführten Propaganda, nur, dass sie keiner „verordnet“ hat, sondern weil manche Rollenverteilung dem Durchschnittskonsumenten halt allzu gut „einleuchtet“.„Verordnen“ will ich jedenfalls gar nichts, auch keine Quotenregelung, wie oft einer Schurken und wie oft Normalos spielen „darf“.

    Wie auch immer: Solange ich mit keiner Statistik dienen kann, die womöglich aufzeigt, wie oft welcher Typ Mensch positiv und negativ dargestellt wird - ganz „natürlich“, ohne dass irgendwer dazu aufgefordert hätte - drehen wir uns im Kreis.

  • Solange ich mit keiner Statistik dienen kann, die womöglich aufzeigt, wie oft welcher Typ Mensch positiv und negativ dargestellt wird - ganz „natürlich“, ohne dass irgendwer dazu aufgefordert hätte - drehen wir uns im Kreis.

    Das verstehe ich nicht (das meiste andere schon). Worauf willst Du hinaus? Auf eine Art Quote? Auf einen Maßstab für Diskriminierungspotential in der Literatur? Auf so eine Art ADSK (antidiskriminierende Selbstkontrolle), die Prädikate vergibt? ;)


    Es ist so, dass Menschen hierzulande diskriminiert werden. Ohne jeden Zweifel. Geschlecht, Herkunft, körperliche Merkmale, Geschichte, sexuelle Orientierung, was weiß ich. Viele Menschen müssen viel aushalten, werden benachteiligt, erleben im Kleinen wie im Großen eine Beurteilung, die über Merkmale erfolgt, die immer noch viele Leute für qualitative Aspekte halten. Das steht fest. Das muss sich ändern, das muss weg.


    Aber. Das ist hier überhaupt nicht die Frage. Siehe oben.


    Edit: Es gibt meines Erachtens mehrere Forschungsprojekte, die die Darstellung von Personen in der fiktionalen Unterhaltung - vor allem in Film und Fernsehen - betrachten und auswerten. Da müsste man mal nach suchen. Nach meinem Eindruck kommt es insgesamt ziemlich ausgewogen rüber, eher sogar mit einer Tendenz zum angestrengten Positivismus inzwischen. Wenn ich überlege, welche Hintergründe die Angeklagten so hatten, die ich in meiner Schöffenzeit vorgeführt bekam, und das auch nur ungefähr mit den Täterhintergründen in Fernsehkrimis vergleiche, die ich so gelegentlich konsumiere, kann sich, glaube ich, niemand ernsthaft beklagen. Aber es wäre tatsächlich interessant, hier mal evidente Infos zu erhalten - nicht als Handlungsgrundlage, sondern aus Interesse.

  • Ich rufe nicht nach Kontrolle. Ich meine, dass manche Klischees verfestigt werden, wenn man bestimmte Typen Mensch vermehrt in bestimmte Rollen castet. Dass nicht jeder ob seiner körperlichen Statur dafür geschaffen ist, eine Primaballerina oder Trapezartistin, einen Jockey oder Boxer im Superschwergewicht darzustellen, versteht sich ja von selbst. Das würde ich nun nicht diskriminierung nennen. Nicht von selbst versteht es sich aber z. B., wenn manche vornehmlich als Freaks/Kriminelle/Verrückte gecastet werden, nur wegen körperlicher Merkmale oder ihrer Herkunft (oder der ihrer Familie). Und wenn Berichte darüber nicht völlig aufgebauscht sind, dann passiert so was. Natürlich gibt es Freaks/Kriminelle/Verrückte, die genau dem Bild entsprechen - es wäre ja weltfremd, das zu bestreiten. kritisch sehe ich das, wenn’s überproportional so dargestellt wird.