Das Fest des Ziegenbocks (und Herr B. von der NZZ)

  • ASIN/ISBN: 3518399276


    Ein Diktatorenroman. Vargas Llosas Roman spielt in der Dominikanischen Republik und hat die Diktatur von Rafael Leónidas Trujillo Molina ("Trujillo") zum Thema, von 1930 bis zu seiner Ermordung 1961. Ein paar Worte, bevor ich mich ärgere:


    In diesem Werk gibt es vier Komplexe von Perspektiven: Die des Diktators Trujillo, die seiner Minister und Senatoren, die seiner Attentäter und die seines Opfers Urania. Urania ist die einzige fiktive Figur, und sie ist die einzige, mit der man fühlt, die dreidimensional ausgestaltet ist, ein Mensch, den man vor sich sieht mit Stärken und Schwächen und Hoffnung und Hass und Zorn. Ihr Leiden ist das, das einem am meisten nahe gebracht wird. Sie ist die Tochter der Senators Cabral, eines glühenden Anhängers Trujillos, der gleichwohl irgendwann in Ungnade fällt. Der Diktator spielt mit solchen Entzügen seiner Gunst, um die Verstoßenen später wieder hochzunehmen und an sich zu binden. Dies tut er vorzugsweise dadurch, dass er sich die Frauen und Töchter seiner Minister zuführen lässt, damit er sie als Zeichen seiner Macht ge- und missbrauchen kann. (Ähnlich geht er in der Bevölkerung vor, wo er x-beliebige Frauen in sein Mahagonihaus bestellt und an ihnen seine Potenz - im Sinne von Macht - demonstriert.)


    So geschieht es auch mit Urania. Sie ist 14, als ihr Vater völlig verzweifelt ist über seiner Degradierung. Trujillo ist 70. Die Vergewaltigung Uranias zieht sich durch den ganzen Roman, bis sie im letzten Kapitel ausdrücklich geschildert wird. Man leidet mit ihr und hat bereits vorher mit ihr gefühlt. Sie kehrt nach 30 Jahren aus den USA zurück und erzählt ihre Geschichte.


    Das war die höchste Stufe der Empathie. Darunter leidet man mit den Attentätern, deren Motivation für den Tyrannenmord man im Einzelnen erfährt, die aber als Figuren nicht derart lebendig sind wie Urania. Wären sie es, man würde sich bei den Folterszenen nach dem Attentat wohl in hohem Bogen übergeben.


    Es ist erstaunlich, wie viel man über eine Figur erfahren kann, ohne dass sie einem nahe geht. Auf der Perspektiven-Stufe unter den Attentätern stehen die Mitglieder der Trujillo-Regierung. Insbesondere über das Innenleben von Uranias Vater liest man viel, des Senators Cabral. Es liegt also nicht an einem Mangel an Information, wenn man bei diesen Ministern und Senatoren Figuren aus Pappmaché vor sich sieht.


    Überhaupt weiß man am meisten über den Diktator Trujillo selbst. Aber wenn er am Schluss von Salven der MPs durchlöchert wird, dann liegt es nicht daran, dass man ihn für ein Monster hält, wenn man nicht mit ihm leidet. (Die Vergewaltigung Uranias wird erst nach dem Attentat geschildert.) Vielmehr bleibt der Diktator eine Mischung aus Prototyp und Fleisch und Blut.


    Nicht schlecht. Wirklich nicht schlecht geschrieben. Oder: Wow!


    Diese Perspektiven-Leiter lässt einen auf der einen Seite das konkrete Unrecht erleben, auf der anderen aber die Struktur von Diktaturen allgemein verstehen. Gerade wir in Deutschland kennen Sätze wie: "Es war eine andere Zeit damals.", "Damals herrschte noch Sicherheit auf den Straßen.", "Es war nicht alles schlecht damals.".


    Nun zu meinem Ärger: Bei Amazon steht unter "Pressestimmen" eine Rezension aus der NZZ. Andreas Breitenstein schreibt zuerst: "Vargas Llosa hat betont, es sei ihm drauf angekommen, Trujillo weder als «Dämon» noch als «Abstraktion» erscheinen zu lassen". Kurz danach schreibt er: "Gemessen am Charakterisierungsaufwand, der um sie betrieben wird, bleibt die Figur des Tyrannen dennoch eher flach. (...) So hat sich Vargas Llosa nicht zu jener poetischen Verfremdung entschliessen können, die den Fall Trujillo erst zum Exempel machen würde."


    Solche Kritiken fallen mir des Öfteren auf. Deshalb greife ich Herrn B. als exemplarisch heraus. Denn mich ärgert so etwas. Wie gesagt. Warum schreibt Herr Breitenstein dem Autor keinen Brief? Warum muss er sein Unverständnis dem breiten Publikum des NZZ-Feuilletons mitteilen? Wen interessiert es, ob ein Kritiker telepathische Kräfte beansprucht?


    Vargas Llosa konnte sich also nicht entschließen? Woher nehmen so viele Kritiker Einblicke in das Seelenleben von Autoren? Wahrscheinlicher ist, dass der Autor sich gottverdammt nochmal nicht entschließen wollte. Denn seine Charakterisierungen erfüllen im Kontext einen verfluchten Zweck.


    Das fiel mir also hier mal auf, was "den Fall zum Exempel" macht, aber nicht zum Exempel der Diktatur Trujillo, sondern einer selbstverliebten Feuilleton-Kritik, die schreit: "Ha! Da ist ein Fehler!" und sich gar nicht vorstellen kann, dass ein Autor lange, sehr lange nachgedacht hat über so einen Roman, jedenfalls länger als der Kritiker, und dass es daher gut möglich ist, dass der Pseudo-Kritikpunkt etwas ist, was der Autor mit guten Gründen genauso beabsichtigt hat und nicht anders.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Denn seine Charakterisierungen erfüllen im Kontext einen verfluchten Zweck.

    Annahme gegen Annahme. Woher weißt Du, dass sie einen Zweck erfüllen, einer Absicht folgen? Warum schreibst Du Vargas Llosa keinen Brief? ;)


    Und was soll das bringen, über ein Werk der Weltliteratur mit dem Autor zu korrespondieren (der sicher nur auf diese Gelegenheit wartet), statt, wie allgemein üblich, einen Diskurs über derlei anzustrengen, und zwar zwischen den Rezipienten? Und übrigens muss es der Autor auch nicht notwendigerweise besser wissen.


    Ich verstehe Deinen Ärger nicht. Du meinst, etwas erkannt zu haben, und Herr Breitenstein hat etwas anderes erkannt. Was ist falscher, was ist richtiger? (Antwort: Keines von beidem.)


    Aber, hiervon abgesehen: Danke für die Rezension. Hat mein Interesse geweckt. Und vielleicht bin ich nach der Lektüre auch so wütend wie Du über vermeintliche Fehlinterpretationen.

  • Ich habe mich schon in den 70ern geärgert über Lauter Verrisse von Herrn Reich-Ranicki. Nicht über das „verreißen“, sondern das er den Autoren vorschreiben wollte, was sie schreiben dürfen und was nicht, fand ich unangemessen. Das Ärgern über so etwas habe ich mir aber inzwischen abgewöhnt. Meinetwegen können Kritiker in der Öffentlichkeit Bücher zerreißen oder in die Tonne kloppen – das ist ihr Job. Ich muss ihre Meinung ja nicht teilen. Manchmal tue ich das dennoch.

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    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hi Linda, hi Tom,


    freut mich, dass ich Euer Interesse am Roman geweckt habe. Er lohnt die Lektüre. :-)


    Tom: Dein Statement wundert mich. Meine Frage: "Warum schreibt Herr Breitenstein dem Autor keinen Brief?" war natürlich Polemik. (Nein, ich erwarte nicht wirklich, dass ein Kritiker es bleiben lässt, eine Rezension zu schreiben, und sich direkt an den Autor wendet. ;-) )


    Und nein: Hier steht nicht Annahme gegen Annahme. Denn ich behaupte nicht, in Vargas Llosas Kopf schauen zu können. Die unterschiedlichen Arten, mit denen er die Figuren charakterisiert, ergeben einen Sinn, eine Funktion - oder einen Zweck, für mich als Leser der Geschichte.


    Mein Ärger entlädt sich auch nur exemplarisch an Herrn Breitenstein. Was er schreibt, ist ja keine Fehlinterpretation. Er sagt: Trujillo ist eine Figur, die gemessen am Charakterisierungsaufwand eher flach wirkt. Sie wirkt auf der anderen Seite auch noch nicht poetisch verfremdet. Und genau das entspricht Vargas Llosas Zitat, das Herr B. voranstellt.


    Da könnte und sollte man sich doch als Kritiker fragen: Hat der Autor nicht vielleicht genau das, was ich kritisiere, beabsichtigt? Und weil man das am Schreibtisch nicht feststellen kann, ohne telepathisch begabt zu sein: Ist das, was ich moniere, wirklich ein "Fehler", oder ergibt es Sinn im Kontext des Romans?


    Solche Floskeln und Unterstellungen liest man des Öfteren in Literatur-Kritiken. Wenn ich Formulierungen lese wie "Der Autor hat sich nicht entschließen können", frage ich mich: Woher weißt Du das? Hast Du nachgedacht? Gibt es nicht (objektiv) einen guten Grund, warum etwas genau so in einem Roman steht und nicht anders? Hier ist das jedenfalls so.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Textkritik jedweder Art besteht in der Hauptsache aus Annahmen, die man glaubt, aus dem zu kritisierenden Text ableiten zu können. :achsel

  • Ich denke, beide Positionen stimmen. Und stimmen auch nicht.

    Es kommt tatsächlich vor, dass ein Kritiker in seiner Rolle als Leser, der weit mehr Abstand zum Text hat, als der Autor selber ihn hatte, Unstimmigkeiten entdeckt, die dem Verfasser selber nicht aufgefallen sind.


    Andererseits hat jede Art von Kulturkritik "ex cathedra" schnell etwas Borniertes. Ich, der große Kritiker, sage Dir, Künstler, und Euch, dummes Publikum, was ihr alle von dem zu halten habt, das ihr gerade gesehen/gehört/gelesen habt bzw. selber geschaffen habt.

    Da diese Kritiken aber auch jedesmal mit Namen gezeichnet sind, zeigt der Kritiker auch, dass es sich bei seinem Text (eigentlich) um eine ganz persönliche Stellungnahme handelt. Die aber von vielen als allgemeingültig verstanden wird, was wiederum nicht Schuld des Kritikers ist.


    Aber, klar, in der Kritikerszene gibt es durchaus einige, die glauben, ihr Urteil sei allgemeingültig und ihre Kennerschaft unantastbar.

  • Brecht lässt Galileo Galilei sinngemäß sagen: "Wir werden davon ausgehen, dass die bisherige Anschauung die Wahrheit ist. Und erst wenn wir zweifelsfrei bewiesen haben, dass sie es nicht ist, werden wir unsere Meinung ändern."


    Auf Literaturkritik übertragen, sollte das bedeuten: "Ich gehe erst mal davon aus, dass die Worte in einem Roman einen Sinn erfüllen." Und erst, wenn ich etwa denke: "Das passt nicht zusammen. Das hätte man anders schreiben müssen, dann wäre die Wirkung viel besser." Dann könnte man von einem Fehler sprechen.


    Hier ist das Gegenteil der Fall. Der Roman ist besser dadurch, dass Vargas Llosa nicht so verfahren ist, wie der Kritiker es wünscht.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Der Roman ist besser dadurch, dass Vargas Llosa nicht so verfahren ist, wie der Kritiker es wünscht.

    Das ist in den meisten Fällen so. Wüssten die Kritiker, wie man einen Roman schreibt, dann würden sie das tun, anstatt Schriftstellern vorzuhalten, wie sie hätten schreiben müssen.

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