Heike Duken: Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt

  • Zuerst kam mir Leo Tolstoi in den Sinn: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“


    Ich würde ihn abwandeln wollen in: "Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich und glücklich.“


    Der Roman "Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt" handelt von so einer Familie. Die Autorin erzählt die Entwicklung über vier Generationen. Thematisiert werden: Krieg, häusliche Gewalt, Vergewaltigung, Homosexualität, dramatische Unglücke, Panikattacken, Krebs, Trennung, Selbstmordversuch, Immigrationshintergründigkeit, Alzheimer, Adoptionsprobleme, Geschwistertwist usw usf, der Wahnsinn einer ganz normalen Familie eben. Wer meint, dass so viele "Konflikte" in keinen Roman dieser Welt passen, dem sei dieser anempfohlen. Ich denke, der Spagat ist der Autorin bestmöglich geglückt, ohne allzu sehr durch Klischees oder Stereotypen verkürzen zu müssen. Alle Figuren haben ihre eigenen Probleme und ihren eigenen glaubhaften Charakter und wirken nicht konstruiert. Das schafft Heike wohl auch, weil sie die Geschichten mit wechselnden personalen Erzählern und auch episodenweise in der Ich-Perspektive erzählt.

    Dieses Buch ist ein Aufruf zur Toleranz, es zeigt, dass es gut ist, wenn man auch mal durch den Weitwinkel auf all das familiäre Gewusel schaut und auch die Größe hat, andere sein lassen zu können wie sie eben gerade sind, nicht alle gleichmachen zu wollen, weil die vermeintlich glücklichen Familien nach Tolstoi so zu sein haben.

  • Etwas überdosiert, aber sehr liebenswürdig


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    Der episodisch aufgebaute und nicht nur zwischen seinen Figuren, sondern auch zwischen den Jahren und Jahrzehnten hin- und herspringende Roman mit dem wahrlich denkwürdigen Titel erzählt die Geschichte einer Familie, beginnend bei Frieda, der nicht mehr ganz jungen Mutter von Nele, Karen und Mattis. Frieda hat soeben ihren Ehemann Karl im "Turm" besucht, dem Trakt des Krankenhauses, aus dem niemand mehr lebend herauskommt. Das spielt in den Siebzigerjahren. In der Jetztzeit ist Frieda mit Heinrich liiert; die Familie ist um eine dritte Generation gewachsen. In dieser Jetztzeit ist außerdem soeben Charly gestorben, die Schildkröte, die die Kinder damals als Versöhnungsgeschenk bekommen haben, als Heinrich in die Familie eintrat und einen eher unguten Einstand hatte. Charly, der ein Bein abgebissen wurde, und die seither eine Lego-Rolle als Prothese am Panzer trug. Zur Beerdigung der Schildkröte wollen alle nach Murnau zu den Großeltern kommen, die Familie wird seit langer Zeit zum ersten Mal wieder beieinander sein.


    Auf dem Weg dorthin erzählt Heike Duken von den größeren und großen Päckchen, die jeder von ihnen zu tragen hat. Heinrich, der Choleriker. Frieda, die immer besser darin wird, Dinge zu vergessen. Mattis, der im eigenen Haus im Keller wohnt und ein Geheimnis hat, das er nur selbst für eines hält. Karen und Nele, die Schwestern, die einander nie ihre Zuneigung gezeigt haben. Max, der korpulente, adoptierte Enkel, der Verletzungen so liebt, weil er dann nicht mehr in die Schule muss, und der in seine Cousine Lena verliebt ist. Ben, der einer Frau zugetan ist, die sich seit ihrer Vergewaltigung unter einem Niqab versteckt, einem Ganzkörperschleier. Thomas, der seinen Freund David heiraten möchte, der sich aber nicht zu fragen traut. Und, und, und. Sie alle werden älter, sie reifen, sie wachsen oder scheitern an ihren Aufgaben.

    Eine solche Aufgabe hat die Geschichte auch, woran sie an keiner Stelle einen Zweifel zulässt. Heike Duken erzählt einfach, aber kunstvoll, in sehr feiner, achtsamer Sprache, doch sie kann auch anders, wenn sie in die Ich-Perspektive wechselt und beispielsweise die Sicht des pubertierenden Max oder der überforderten Nele einnimmt. Aber selbst in den personal erzählten, etwas distanzierteren Kapiteln vermittelt der Roman überdeutlich seine Botschaft: Stelle Dich! Du bekommst Probleme nicht weg, wenn Du Dich in Deinen Panzer zurückziehst. Und so steht am Ende eine sehr faktische Familienauf- und -gegenüberstellung mit vielen Überraschungen.


    Die knapp 280 Seiten gehen schnell vorbei. Einige Episoden fühlen sich dichter, komprimierter, stärker und durchdachter an, andere sind eher beiläufig, manches überrascht und amüsiert - Max ist eindeutig mein Favorit -, anderes ist ein wenig vorhersehbar oder in die Dramaturgie gezwungen. Aber "Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt" ist eben nicht einfach nur ein Roman, sondern in Prosa gegossene Lebenshilfe, von der jeder Leser profitieren kann. Wer sich seinen Dämonen stellt, wer sich blicken lässt, dem wird vielleicht vom wilden Nachbarshund ins Bein gebissen, wie das Charly passiert ist, aber sehr viel schlimmer (im metaphorischen Sinn) wird's definitiv nicht werden. Eher besser. Auf jeden Fall irgendwie gut.


    Die Menge an Problemen, die die Autorin auffährt, kommt zuweilen etwas überdosiert daher - das hätte nicht sein müssen, aber immerhin funktioniert es noch. "Wenn das Leben dir eine Schildkröte schenkt" ist ein origineller, liebenswürdig erzählter, sehr lesbarer Familienroman, in dem sich der eine oder andere wiedererkennen dürfte. Ein schönes Buch ist es zudem.