Deniz Yücel: Agentterrorist

  • Über Journalismus. Und Petersilie.


    fuenfsterne.gif


    Es geschieht nicht sehr häufig, dass Journalisten weltberühmt werden, oder dass wenigstens in den Heimatländern viele Menschen ihre Namen kennen - oder sogar ihre Gesichter. Deniz Yücel gehört ohne Zweifel zu diesen seltenen Fällen. Im Jahr 2017 wurde er in der Türkei, wo er als Korrespondent für die „Welt“ tätig war, aus fadenscheinigen Gründen verhaftet, erst ein Jahr später kam er aus der U-Haft frei, ohne dass es bis zu diesem Zeitpunkt eine Anklage gegeben hätte; sein Fall beschäftigte Diplomaten und Regierungen, aber auch die Öffentlichkeit. Die Kampagne „FreeDeniz“ und die dazugehörige Welle der Solidarität, die - ganz unüblich für unsere Zeit - monatelang anhielten, suchen ihresgleichen. Yücel war während seiner Haftzeit Dauerthema bei nahezu sämtlichen deutsch-türkischen Konsultationen.


    Mit „Agentterrorist“ - ein Etikett, das ihm höchstpersönlich von Recep Tayyip Erdoğan, dem derzeitigen Präsidenten der türkischen Republik, angeheftet wurde - legt Deniz Yücel nun ein Buch vor, in dem er die Geschichte dieser Inhaftierung und des Haftverlaufs, seine eigene Vorgeschichte, die aktuelle Geschichte der Türkei, außerdem die der deutsch-türkischen Beziehungen und ein bisschen auch diejenige Europas erzählt. In erster Linie ist das spannende, enorm wissensreiche und überraschend sachliche Buch aber ein Text über den Journalismus und seine gesellschaftlichen, sozialen und politischen Implikationen, denn die Causa Yücel steht zwar insbesondere für die Bedeutung der Pressefreiheit unter schwierigen Bedingungen, vor allem aber zeigt der gesamte Komplex, wie unglaublich wichtig es ist, dass es gute, engagierte Journalisten gibt, die ihren Job ernstnehmen, die Haltung demonstrieren, die sich nicht korrumpieren lassen, die Fakten über Emotionen und potentielle Sensationen stellen - und Einschüchterungsversuchen widerstehen. In Zeiten des abnehmenden Qualitätsjournalismus‘ steht diese Botschaft über allem anderen.


    Es ist nahezu unglaublich, was Yücel da erzählt, aus diesem Land, das noch immer EU-Beitrittskandidat ist, und dessen Staatsbürgerschaft er neben der deutschen besitzt. Ein Land, das sich damit brüstet, über die größten Justizpaläste (und Gefängnisse) der Welt zu verfügen. Ein Land, in dem ein narzisstischer, cholerischer Despot mit seiner Clique herrscht, Wahlen manipulieren lässt und die Kontrolle über alle Instanzen des zivilen Lebens an sich gerissen hat, darunter auch über die Justiz. Viele Episoden dieser langen Erzählung sind erschütternd, andere auf makabre Weise komisch, bei einigen bleibt einem sprichwörtlich das Lachen im Hals stecken. Als Yücel erzählt, wie er willkürlich die Texte seiner gerichtlichen Widersprüche zum Beispiel mit zusammenhangslosen Abhandlungen über Fußball gespickt hat, um zu beweisen, dass die Richter nichts lesen, sondern vorgefertigte Urteile absondern - das ist einerseits lustig, andererseits schmälert es die Hoffnungen für all jene, die weiterhin inhaftiert sind. Wie er davon berichtet, mit welchen Tricks riesige Textmengen ins Hochsicherheitsgefängnis Silivri hinein- und wieder herausgeschmuggelt wurden; Yücel hat im Knast ein ganzes Sachbuch („Wir sind ja nicht zum Spaß hier“, Edition Nautilus) zusammengestellt und mehrere Fassungen davon überarbeitet, während die Herren in der Brief-Lese-Kommission des Knasts glaubten, deutschsprachige Texte vor sich zu haben, die an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gerichtet waren, wo Yücel, seine Anwälte und Weggefährten gleich in mehreren Prozessen aktiv waren. Wie er den Versuchen widerstanden hat, seine Geiselnahme, wie er die Haft von Anfang an bezeichnet hat, zum Instrument des politischen Geschachers werden zu lassen, wie er sich - sehr zu Erdoğans Missfallen - geweigert hat, über Deals zu diskutieren, die auch nur entfernt Zweifel an seiner Integrität hätten aufkommen lassen.


    Dieser akribische, manchmal pedantische, nachdenkliche, kampflustige, kluge, witzige, fraglos auch etwas eitle, jederzeit selbstkritische und für seine Haltung bewundernswerte Deniz Yücel ist einer, der den Gedanken aufkommen lässt, dass man gerne jemanden wie ihn im Freundeskreis hätte, während die hohe Beanspruchung, der er seine realen Freunde unaufhörlich aussetzt, vom gleichen Gedanken abschreckt. Ein Gutteil der Erzählung wird von der Liebesgeschichte zwischen ihm und seiner Freundin Dilek eingenommen, die während der Knastzeit zur Ehefrau wurde, und obwohl sich Yücel hier im Detail vermutlich ein wenig zurückgenommen hat, ist seine Gattin für ihre Beharrlichkeit, ihr Durchhaltevermögen und ihre Belastbarkeit nur zu bewundern, und die beim Happy-End überreichten Petersilien-Sträuße haben das vermutlich nicht in Gänze wiedergutmachen können. Yücel hat im Gefängnis nicht wenige Entscheidungen ohne übermäßige Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten getroffen, und auch die Freilassung stand auf der Kippe, weil der Journalist bis zuletzt nicht sicher war, dass es ohne heimliche Absprachen abgelaufen ist.


    „Agentterrorist“ ist ein gelungenes, klug konzipiertes und durchaus sehr persönliches Buch, aus dem jene Ermahnung herauszulesen ist, die angesichts der Entwicklungen nicht nur in der Türkei, sondern auch in vielen westlichen Staaten, eigentlich aber auf der gesamten Welt von erheblicher Relevanz ist: Es ist gut möglich, dass es nicht mehr viele Journalistengenerationen vom Schlag eines Deniz Yücel geben wird, weil wir nicht nur die Pressefreiheit, sondern die Presse insgesamt leichthin unserer Mausklick-Bequemlichkeit opfern. Ohne eine freie, engagierte Presse werden es jene aber noch leichter haben, die längst dabei sind, die Wertegemeinschaften auszuhöhlen, Verschwörungstheorien zu verbreiten, ihren tumben Nationalismus zu etablieren und die Welt um hundert Jahre in die Vergangenheit zu versetzen.


    Dringende Leseempfehlung, und sei es auch „nur“ aus Solidarität (Solidarität ist keine Nur-Sache, sondern ein solides Argument).


    ASIN/ISBN: 3462052780

  • Danke für den Tipp, Tom, ich glaube, das wäre nen Buch für mich.


    Vom Gefühl her stimme ich allerdings nicht ganz mit dir überein, was den Qualitätsjournalismus angeht, wenn ich das jetzt zwischen den Zeilen richtig rauslese. Ich glaube sogar, dass der, falls es mal eine Talfahrt gab, grad eine Art Renaissance erlebt. Ich jedenfalls fühle mich besser mit Informationen versorgt als noch vor nen paar Jahren. :)