"Anatevka", um wachzurütteln

  • Zu Herrn Ernst, zu Rico Beutlich und ähnlich gestrickten Gestalten komme ich weiter unten.


    Grundsätzlich, Anja, hast du natürlich recht. Über Emotionen sind Menschen leichter zu packen als über den Verstand. Aber auch das setzt eine zumindest latent vorhandene Bereitschaft voraus, sich „packen“ zu lassen, sei es, weil das bisherige Welt- und Menschenbild eh schon ein paar Risse bekommen hat oder sich jemand eines diffusen Gefühls des Unbehagens an der eigenen Gleichgültigkeit bewusst wird.

    Dennoch ist meine Hoffnung, dass dies in einer relevanten Zahl von Fällen gelingen könnte, sehr begrenzt. Und das ist noch vergleichsweise optimistisch formuliert.

    Menschen glauben, was sie glauben wollen. Fakten sind dabei weder erwünscht noch von Belang und finden allenfalls dann Beachtung, wenn sie den eigenen Glauben stützen. Und was Kinder und Heranwachsende betrifft, so sind für die siebzig oder achtzig Jahre eine unvorstellbare Zeitspanne, gehört das, was damals geschehen ist, schon zur Frühgeschichte der Menschheit. Ansonsten gilt, was Sting in seinem History will teach us nothing besingt.


    Die Leugner und Relativierer werden immer unerreichbar bleiben, es sei denn, sie würden durch ein massives eigenes Betroffensein aus ihrer Blase geschleudert und auf diese Weise gezwungen ihre Faktenresistenz aufzugeben. Die, über die wir in diesem Thread reden, gehören also einer bereits quantitativ schwer fassbaren heterogenen Gruppe von Menschen an, die „selbstverständlich“ gegen Antisemitismus sind, sich selber frei von Rassismus und Homophobie wähnen und die auch den Klimawandel für weitgehend menschengemacht halten, in ihrer Selbstwahrnehmung rechtschaffene Menschen somit, die es andererseits aber auch bei dieser Feststellung belassen wollen, frei von jeder Motivation für eine weitergehende Beschäftigung mit jenen Themen.

    Früher habe ich dann manchmal die Moralkeule rausgeholt oder zumindest an die Verantwortung des Einzelnen appelliert. Mittlerweile mache ich das nur noch ausnahmsweise. Denn häufig stoße ich beim Reden mit solchen Menschen auf ein Gefühl der Überforderung, das sehr schnell hinter all dem Lavieren, sich winden, um den heißen Brei reden, dem resignativen Schulterzucken und dem zuletzt eingestandenen Wunsch nach einem Rückzug ins Private spürbar wird. In meinem persönlichen Umfeld sind das vorwiegend Menschen, die morgens um fünf aufstehen, um zur Arbeit zu pendeln, die Angst um ihren Job haben, die Verantwortung für eine Familie tragen oder die sich um schwerkranke Eltern oder andere Verwandte zu kümmern haben, und das Tag für Tag, oder sie sind gar selber ernsthaft erkrankt, Menschen allemal, die sich im Zustand einer dauerhaften Überforderung sowie einer anhaltenden tiefen physischen wie psychischen Erschöpfung befinden. Und denen soll ich empfehlen, sich neben dem Dauerbombardement der Bilder einer aktuell auseinanderbrechenden Welt auf allen Kanälen auch noch der Verfilmung des Tagebuchs der Anne Frank auszusetzen? Oder sich Anatevka anzuschauen, trotz des tollen Darstellerensembles, trotz allen Humors und Witzes und trotz der berührenden Musik? Denn alles in allem ist es eine traurige Geschichte mit einem traurigen Ende.

    Irgendwann machen die Menschen einfach dicht, bewirkt die gutgemeinte Absicht, wachzurütteln, das Gegenteil, wird die erhoffte Sensibilisierung zur Desensibilisierung.


    Ich denke, wenn bei alldem „Kultur“ überhaupt eine Hilfe sein kann, vermag sie das am ehesten noch über die Vermittlung von Lebensfreude. Mehr als es jede Hardcore-Dokumentation je vermocht hätte, haben bei mir selbst insbesondere jene Geschichten und Filme ein nachhaltiges Problembewusstsein gefördert, bei denen ich mindestens ebenso oft laut gelacht habe, wie mir das Lachen im Halse stecken geblieben ist. Das Lachen stärkt meine Bereitschaft und meine Belastbarkeit, mich gleichzeitig oder in der Folge auch mit dem Horror all dessen auseinanderzusetzen, was Menschen anderen Menschen antun.

    Weshalb, wollte ich in diesem Zusammenhang eine Empfehlung aussprechen, ich eher an den Ernst-Lubitsch-Film To be or not to be aus dem Jahre 1942 denken würde, den ich überdies auch für eine erstklassige Quelle der Inspiration für das von euch angedachte Rico-Beutlich-Sequel halte. Überhaupt scheint mir das der Königsweg zu sein: Wenn man es schafft, jemanden der Lächerlichkeit preiszugeben, geschieht Gleiches automatisch auch mit seiner Botschaft.:evil

  • Hallo Jürgen,


    Du hast recht in so gut wie allen Punkten.


    Allerdings denke ich, dass gerade dieses eher harmlose Musical viele der Anforderungen erfüllt, die Du für den Zweck an Kultur stellst. Man lacht und man weint (wenn man denn dazu neigt, so etwas bei Filmen zu tun).


    Es ist allerdings tatsächlich nicht das Lachen, das einem im Hals stecken bleibt. Vielmehr ist es hier so, dass aus dem Lachen ganz langsam immer mehr Weinen wird, um einmal in dem Bild zu bleiben.


    Unterhaltung mit ... nennen wir es mal ... Tiefgang. Aber eben doch Unterhaltung. Das wollen und brauchen viele Menschen ganz sicher, statt sich am Abend im Fernsehen freiwillig noch weitere Probleme vor die Füße kippen zu lassen.


    Ich finde nur, genau diesen Ansprüchen genügt genau dieses Musical.

    Was aber nicht heißen soll, dass es der Film, den Du nennst, nicht genauso genügt. Ich kenne ihn nur nicht, darum kann ich wenig dazu sagen:).

  • Hallo Anja,


    ich habe Anatevka zweimal im Fernsehen gesehen, und auch das zweite Mal liegt bereits mehrere Jahrzehnte zurück. In der Erinnerung ist es mir trotz allen Humors und der schönen Musik als eine recht traurige Geschichte haften geblieben.

    Aber im neuerlichen Nachdenken darüber muss ich zugeben, dass ich vielleicht ein wenig voreilig war, dass Anatevka tatsächlich nicht allzu weit von den Forderungen entfernt ist, die ich in diesem Kontext an „Kultur“ richte.:)


    Wichtig ist mir vor allen Dingen die Feststellung, dass über eine intelligente Verknüpfung von Tragik und Komik ungleich mehr Menschen zu erreichen sein werden als durch eine weitgehende Fokussierung auf Leid und Schrecken. Natürlich bedeutet das jedes Mal eine Gratwanderung, aber wenn sie gelingt, ist es in meinem Empfinden hohe Kunst, auch wenn manche Menschen über solche Geschichten und Filme die Nase rümpfen und meinen, mit Entsetzen könne man nun mal keinen Scherz treiben. Doch, kann man. Darf man. Und soll man. Überdies ist Humor, so wie ich ihn mag, zu einem gewichtigen Teil gut abgehangene Trauer.

  • Hallo Jürgen,


    endlich mal (wieder) jemand, der das genauso sieht wie ich.

    Ich finde, eine gute Komödie sollte einen tragischen Kern haben. Man geht aus dem Theater und denkt sich, worüber habe ich da eigentlich die ganze Zeit gelacht? Das war doch eigentlich überhaupt nicht lustig.

  • Den Artikel im Spiegel las ich heute auch zuerst, bevor ich die Nachricht im Deutschlandfunk las. Beide Medien setzen ganz unterschiedliche Schwerpunkte.


    Der Spiegel schreibt im Lead: "Die neue Shell-Jugendstudie zeigt, dass auch junge Menschen anfällig für Rechtspopulismus sind. Manche Aussagen sind erschreckend - die Ergebnisse sollten Eltern und Lehrern zu denken geben." Der Deutschlandfunk leitet ein: "Jugendliche in Deutschland haben einer Studie zufolge die größte Sorge vor Umweltzerstörungen."


    In der DLF-Nachricht findet sich auch ein Satz, den Kevin-Lukas in einem Musical wiedergeben könnte, natürlich als eigene Erfindung und im Indikativ. Es geht schließlich nichts über nette Provokation: "Graduell seien Jugendliche aus Westdeutschland und höher gebildete eher weltoffener als Jugendliche aus Ostdeutschland und weniger gebildete, hieß es." Als jahrelanger Gast-Ossi male ich mir die Reaktionen hübsch aus.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)