"Anatevka", um wachzurütteln

  • Hallo,


    wir haben hier zu Hause den Anschlag in Halle zum Anlass genommen, uns mit meinem Sohn das Musical "Anatevka" anzuschauen. Ich denke, die meisten von Euch werden das Stück kennen, es wird ja immer wieder an den Theatern gespielt. Nicht, dass es bei meinem Sohn notwendig wäre, ihn für die Themen Antisemitismus und/oder Flucht zu sensibilisieren, aber ich dachte mir, das Stück bietet sich in diesem Zusammenhang an. Wir haben den berühmten Film mit dem Schauspieler Topol in der Hauptrolle gesehenm, vielleicht kann den ja jemand hier mit Bild verlinken, ich schaffe das immer noch nicht.


    Klar, "Anatevka" ist über Strecken kitschig bis rührselig, es sind so ziemlich alle Klischees über jüdisches Leben eingearbeitet, die es gibt (außer dem so häufig verwendeten Topos vom reichen Juden, denn hier wird eine arme jüdische Gemeinde in der Ukraine gezeigt).


    Aber wahrscheinlich gerade deshalb erreicht es die Zuschauer. Über die Emotionen, nicht über die Ratio.


    Mein Sohn war nach dem Schluss ganz traurig, und sogar Alexander und mir, die wir die Mechanismen, mit denen hier gearbeitet wird, durchschauen und Anatevka auch beide nicht zum ersten Mal gesehen haben, ist die Geschichte nahegegangen.


    Später kamen die Fragen: Warum werden die Juden denn vertrieben? Was wird jetzt aus den Menschen des Dorfes? Kann sowas heute wieder passieren?


    Und da hatte ich die Idee: Warum wird nach einem Attentan wie dem in Halle in den Schulen nicht einfach mal ein DVD-Player geholt, und die Klassen schauen sich dieses Stück an? Warum werden die ganzen Diskussionsrunden über Rechtsradikalismus heute im Fernsehen nicht einfach mal um dieses rührselige, kitschige und gleichzeitig wirklich hübsche Musical erweitert?


    Ich glaube nämlich, dass man über die Emotionen, die hier ausgelöst werden, vielleicht sogar mehr Menschen einsammeln könnte, als man jetzt erreicht. Vielleicht sogar Gespräche anregt. Die ganz verrohten wird niemand erreichen. Aber es gibt vermutlich einen nicht ganz kleinen Anteil in der Bevölkerung, die gar nicht wissen, wovon sie reden, wenn sie antisemitische oder xenophobe Parolen wiederkäuen. Die keine Vorstellung davon haben, dass sie immer über Menschen und Schicksale reden. Da könnte so ein kitschig-nettes Musical möglicherweise gut ansetzen.


    Gut, das war jetzt nicht so ganz eng am Thema "Literatur". Aber immerhin Kultur:).


    Was meint Ihr dazu?

  • Anja

    Hat den Titel des Themas von „"Anatevka" um wachzurütteln“ zu „"Anatevka", um wachzurütteln“ geändert.
  • Hallo Jo und TWJ,


    das sind natürlich auch Möglichkeiten. Mein Sohn hat selber auch schon vorher "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" gelesen oder "Der Junge im gestreiften Pygama". Und sie waren mit der Schule auch in Mauthausen.


    Diese Bücher und der Besuch im ehemaligen KZ stehen aber eben in direktem Bezug zur NS-Zeit.


    Und genau das ist in "Anatevka" anders. Das Stück spielt im Jahr 1905, und von den Massenmorden wenige Jahrzehnte später weiß hier noch niemand.

    Aber zum einen finde ich das Stück gerade deshalb gut geeignet, denn hier werden Antisemitismus und Flucht eben auf einer ganz anderen, vielleicht könnte man sagen: viel allgemeineren Ebene behandelt.


    Zum anderen emotionalisiert die Musik. Mir ist schon klar, dass jiddische Folklore und Musical nicht gerade zu den Hits der Kinder zählen, meinem Sohn geht es da nicht anders. Aber da er mit klassischer Musik aufwächst, auch wenn er sie selber inzwischen nur noch hört, wenn ich das "verordne":), blockiert er auch nicht völlig.


    Ich glaube, dass man mit diesem Stück einen ganz anderen, sicher auch klischeehaften Eindruck von der jüdischen Religion bekommt. Es gibt Trinklieder, Hochzeitslieder, aber auch sehr wehmütige Lieder. Und - natürlich - das ewigei "Wenn ich einmal reich wär".

    Es öffnet sich durch die Musik möglicherweise ein ganz anderer Zugang. Besonders stark ist mir das bei dem Abschlusslied aufgefallen, dem, in dem die Bewohner des Dorfes Anatevka Abschied nehmen. Klar ist das sentimental, aber gerade dadurch kann man meiner Ansicht nach eine ganz andere Art von Mitfühlen erreichen.


    Ich will mal schauen, ob es mir gelingt, das Lied hier zu verlinken.


    Würde man dieses Musical von Zeit zu Zeit und gerade jetzt mal wieder den Schülern oder einem Fernsehpublikum zeigen, würde man vielleicht sogar diejenigen erreichen (wohl vor allem unter den Erwachsenen), die sich sofort sperren, wenn man sich direkt auf die Vernichtungslager bezieht. Aber das ist nur eine Vermutung.

  • Ich kann mir denken, dass man mit „Holocaust“ und „Anne Frank“ die Jugendlichen unter einem anderen Aspekt erreicht. Bei beiden wird die technokratische Vernichtung durch die Nationalsozialisten thematisiert und die jüdische Bevölkerung ist ein Teil des gesamten deutschen Volkes. Bei Anatevka handelt es sich um Ostjuden , die einer ganz anderen Kultur angehören und übrigens auch von den oft sozial höhestehenden westlich geprägten Juden nicht geachtet wurden. Natürlich spricht Anatevka Gefühle an, soll es auch. Aber bei der wachsenden Zahl der Neonazis bei uns halte ich es für wichtig, die Jugendlichen - und leider auch die älteren Leute - über die Massenvernichtung der „echten“ Nazis zu informieren. Viele scheinen dieses Kapitel der Geschichte der Deutschen nicht mehr zu kennen.

  • Viele scheinen dieses Kapitel der Geschichte der Deutschen nicht mehr zu kennen.


    Kennen tut es jeder. Aber viele leugnen oder verdrängen es. Mit


    "Es muss ja mal gut sein."

    "Vogelschiss der Geschichte"

    "Mahnmal der Schande"


    wird auf dieses düstere Kapitel reagiert. Es stört vor allem Menschen, die ein übertriebenes Nationalgefühl an den Tag legen.

  • Nichts wird wachrütteln. Menschen sind egoistische Arschlöcher, oder die meisten Menschen, eigentlich aber (fast) alle. Klar kann man in KZs rennen und sich drastische Bilder anschauen und Anne Frank lesen und all das tun, und möglicherweise wird das die Hemmschwelle beim einen oder anderen ein klitzekleines bisschen anheben, aber dieses Bedürfnis, sich über andere zu stellen, der stärkeren Gruppe anzugehören, den Egoismus ausleben zu können, das ist so fest verwurzelt, dass es m.E. keinen Zweifel daran geben kann, dass die erneute politische Katastrophe kommt, möglicherweise nicht in den nächsten zwei Jahren, aber spätestens in einer Dekade.


    Ich lese gerade "Im Licht der Zeit" von meinem Freund Edgar Rai. Das Buch spielt im Jahr 1929, und Edgar hat den gesamten fraglichen Jahrgang der "Berliner Volkszeitung" gelesen. Jedem Kapitel ist ein Ausschnitt aus der Zeitung vorangestellt. Die Kommentare über die Aktivitäten der NSDAP lesen sich exakt so wie die Kommentare über die Aktivitäten der AfD. Die Reaktion darauf, die Fragen nach dem Umgang, das Verhalten der politischen Gegner, all das gleicht sich. Und die Art des Wachstums hat ebenfalls viele Ähnlichkeiten.


    Den meisten Menschen ist die Geschichte völlig egal, und die Zukunft übrigens auch. Ich habe da nicht viel Hoffnung.

  • Erst mal Christian: Tut mir leid, dass ich Dich mit Joachim verwechselt habe :)

    bettina: Genau das war ja mein Ansatz: Einmal nicht über die NS-Geschichte die Menschen zu erreichen zu versuchen, sondern auf einem anderen Weg, auf einem, bei dem vielleicht wenigstens ein paar nicht sofort dichtmachen.


    Und das führt gleich weiter zu Tom und Christian: Ich glaube auch, die meisten kennen die Geschichte. Aber sie ist ihnen entweder egal oder sie negieren die Tatsachen sogar. Allerdings habe ich die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass man vielleicht den einen oder anderen noch erreichen kann. Sonst können wir der AfD gleich die Politik überlassen.


    Allerdings erschreckt mich auch, wie weit wir schon gekommen sind. In der Klasse meines Sohnes hat auch ein Mitschüler gemeint, es sei doch blöd, dass der Attentäter in Halle nicht in die Synagoge hineingekommen wäre. Was er daran so toll gefunden hätte ... so weit ist er dann nicht mehr gekommen, denn er ist zurückgerudert und hat gemeint, das sei "natürlich ein Witz" gewesen. Merkwürdiger Humor.

    Und offenbar doch schon wieder gesellschaftsfähig.

  • Aber Hr. Liehr. So pessimistisch? Wo doch gerade alle voll froher Hoffnung sind auf die kommende multikulturbereicherte, politisch korrekte, nachhaltig klimageschützte, weil batteriebetriebene, genderfreie, vegane und glutenfreie Gesellschaft.

    Und du schreibst von egoistischen Arschlöchern, die sich nur für die Gegenwart interessieren und von der historischen Schuld Deutschlands nichts mehr wissen wollen. How dare you?

  • Mir kommt's etwas humorvoller und entspannter vor. Ich würde eher auf Didi tippen, müsste ich tippen. Und wäre sicher, dass es sich um einen Wiedergänger handelt.

    Oder auf jemanden, der einfach so unter einem Pseudonym hier mitmachen will, was nach aktueller Regelung zulässig ist, auch ohne mit unserer Paranoia konfrontiert zu werden. ;)

  • Bei der Gelegenheit noch eine Bitte an den/diejenige, der oder eben die sich hinter dem Pseudonym verbirgt: Mir ging es bei meinem Ausgangsbeitrag um die Frage, ob man sich nicht der Fiktion, in diesem Fall eines Musical bedienen könnte, um Menschen zu erreichen. Mir ging es ausdrücklich nicht um die Diskussion, ob jetzt insgesamt alles besser oder schlechter wird und was man von AfD und Co halten kann.


    Ich finde es wirklich wichtig, dass wir hier bei dem Thema "Kultur als Hilfe" (etwas Besseres ist mir auf die Schnelle als Motto nicht eingefallen) bleiben und uns nicht wieder in politischen Grundsatzgesprächen verzetteln.

    :)

  • Nun, Lakedaimon, auch Multikultiviertheit und die Freiheit von glutenfreier Nahrung sind Ziele, die nach meinem Dafürhalten überwiegend egoistischer Motivation entspringen, oder purer Blödheit, beispielsweise im Fall des Glutens (außer bei den ungefähr 0,5* Prozent der Menschen, die an Zöliakie leiden). Nicht nur das Ziel selbst markiert die moralische Qualität, sondern auch und in einigen Fällen sogar überwiegend die Intention derjeniger, die es auf ihren Fahnen notiert haben.


    (* Korrektur. In Deutschland ungefähr eine von 300 bis 500 Personen)

  • Nichts wird wachrütteln. Menschen sind egoistische Arschlöcher, oder die meisten Menschen, eigentlich aber (fast) alle. Klar kann man in KZs rennen und sich drastische Bilder anschauen und Anne Frank lesen und all das tun, und möglicherweise wird das die Hemmschwelle beim einen oder anderen ein klitzekleines bisschen anheben, aber dieses Bedürfnis, sich über andere zu stellen, der stärkeren Gruppe anzugehören, den Egoismus ausleben zu können, das ist so fest verwurzelt, dass es m.E. keinen Zweifel daran geben kann, dass die erneute politische Katastrophe kommt, möglicherweise nicht in den nächsten zwei Jahren, aber spätestens in einer Dekade.

    Hallo Tom,


    Ich kann diese pathetisch vorgetragenen Bekundungen eines Spenglerschen Kulturpessimismus - das ist es nämlich - nichts abgewinnen. Im Endeffekt ist das nur Stammtisch.


    Wir sind nicht auf dem Weg in eine politische Katastrophe, wir haben eine gut funktionierende Demokratie mit i.G.u.G. gut funktionierenden Institutionen. Wer behauptet, daß wir vor einem neuen Weimar stehen oder gar einem neuen 1933, der weiß wahrscheinlich zu wenig über die Geschichte.


    Manche Menschen sind egoistische Arschlöcher, das ist ja klar – aber nicht alle. Nicht einmal die Mehrheit. Die allergrößte Mehrheit sind brave Steuerzahler, die ihr Auto korrekt parken und sich meistens an die meisten Regeln und Gesetzte halten. Sonst sähe es hier ganz anders aus.


    Ich habe zwei Jahre in einem sozialistischen Land (Beijing, China) gelebt und ich weiß, wie es aussieht, wenn Recht und Gesetzt über Nacht (Tiananmen 1989) außer Kraft gesetzt werden und Despotie und Willkür herrscht. Das, mein lieber Tom, willst du gar nicht wissen.


    Es ist schon klar, daß es in Moment in Deutschland ein bißchen politisch rumpelt, aber deswegen sind wir noch lange nicht auf dem Weg in einen neuen Faschismus.

  • Das hat nichts mit Stammtischpessimismus zu tun, lieber TWJ, sondern mit Lebenserfahrung, kritischer Umwelt-/-feldbetrachtung, aufmerksamem Zuhören und einigen anderen Aspekten. Es hat etwas damit zu tun, dass die Theorie vom Fremdlernen wackelt. Menschen lernen nur sehr eingeschränkt aus Erfahrungen, die andere (vor ihnen) gemacht haben - und je weiter diese Ereignisse in der Vergangenheit liegen, umso geringer fällt der Effekt auch noch aus. Und dass sich Leute "brav" an Gesetze halten, die ja nicht nötig wären, wenn sie keine Arschlöcher wären, sagt überhaupt nichts aus. Gerade diese braven GZSZ-Zuschauer wählen dann braun, weil sie unter der oktroyierten Bravheit zu leiden glauben. Womit ich nichts gegen GZSZ sagen will. Super Serie. Müsste rund um die Uhr laufen.


    Und, ja, wir sind auf dem Weg in einen neuen Faschismus, oder diese Gefahr ist zumindest sehr akut. In anderen europäischen Ländern ist er bereits etabliert, Polen hat ihn gestern erneut gewählt. Viele Menschen suchen diese selbstsüchtige, zivilisationsverneinende Stärke, diese kleingeistige, kleinkarierte und mit simplen Feindbildern agierende Ideologie, weil sie ihrem von der Zivilisation gedeckelten Naturell entspricht. Und die Ideologen verkaufen das in kleinen Häppchen - ganz genau, wie das früher schon passiert ist, und "erfolgreich" war.


    Ich habe auch die Hoffnung, dass die Klugen in der Mehrheit sind. Aber für Hoffnung kann man sich nichts kaufen.