Als Willy Brandt vor bald fünfzig Jahren vor dem Ehrenmal für die Opfer des Warschauer Ghetto-Aufstands niederkniete, kam es in der Folge jenes Ereignisses - zu dem Zeitpunkt war ich neunzehn - in meiner damaligen Freundesclique zu äußerst hitzigen Diskussionen, in deren Verlauf wir manchmal einander Ausdrücke an den Kopf warfen, die heutzutage viele Menschen als Beleidigung empfinden würden. Die Heftigkeit der Diskussionen war nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass wir eine sehr heterogene Gruppe waren, in der von ziemlich weit rechts bis sehr weit links inklusive Anarchisten und Spontis das gesamte damalige politische Spektrum vertreten war. Und so war für die einen Willy Brandt ein Held, für andere ein Vaterlandsverräter und für wieder andere nur ein berechnender Schauspieler. Irgendwann im Verlauf einer solchen Diskussion mündeten Argumente und wechselseitige Unterstellungen in einen ermüdenden Kreisverkehr, bis jemand in die Runde fragte: „Wie isses, Leute, trinken wir erst hier noch ’n Bier oder gehn wir jetzt gleich in Theos Pinte ein Gyros essen?“ Ja, und von dem Moment an haben wir noch stundenlang über dieses und jenes gequatscht und gelacht, und keinem von uns wäre es in den Sinn gekommen, einem anderen die Freundschaft nur deshalb aufzukündigen, weil er hin und wieder eine andere Meinung vertrat.
Solch heterogene Gruppen gibt es heute kaum noch. Stattdessen wird „geliked“, wer so denkt wie ich und ruckzuck „entfreundet“, wer vermittels einer abweichenden Meinung das eigene Wahrnehmungsfenster zu beschmutzen wagt, so als wäre dieser Mensch nichts weiter als ein Fliegenschiss.
Natürlich hat die Toleranz eines jeden Menschen ihre Grenzen, gibt es immer auch Themen, die uns näher, Themen, die uns nahe gehen und infolgedessen die Messlatte für zu verteilende „Likes“ höher legen lassen als üblich. Aber warum sollte das ein Grund dafür sein, sich frühzeitig aus einer Diskussion zu verabschieden, nur weil andere die eigene Meinung nicht zu hundert Prozent teilen, oder sich hinter der resignativen Feststellung zu verschanzen, es lohne einfach nicht mehr, sich an dieser oder jener Diskussion zu beteiligen, was vielfach sogar dann geschieht, wenn zwischen den Teilnehmenden Übereinstimmung im Grundsätzlichen sowie in der Benennung von Zielen besteht. Oft wird sich an einzelnen Formulierungen gerieben oder über den „Ton“ gestritten und nicht selten kommt es zu einem Rückzug auf Meinungsinseln und zu einer Abnahme der Beschäftigung mit Argumenten, bis hin zu der faktischen Weigerung, die eigenen Argumente derselben permanenten Prüfung auf Plausibilität zu unterwerfen wie die der anderen. Parallel dazu scheint sich die Tendenz herauszubilden, Behauptungen und Meinungen von vornherein mit moralisch begründeten Wertungen zu befrachten. Aber wer glaubt, die Moral für sich gepachtet zu haben, lässt dem abweichend Argumentierenden zwangsläufig nur die Rolle des moralisch Anzuzweifelnden, unabhängig davon, ob diese Diskreditierung beabsichtigt ist oder nicht.
Erklärungen für diese Empfindlichkeit einerseits sowie der selektiven Intoleranz andererseits lassen sich stets auch aus der eigenen Biographie herleiten. Aber eben nur zum Teil. Und es trägt nichts Wesentliches zur Beantwortung der Frage bei, warum es vielen unter uns seit einiger Zeit so schwer fällt, anders Gedachtes als bedenkenswert zu achten und den Andersdenkenden als einen uns gleichwertigen Menschen zu respektieren, statt ihn auf seine Meinung, eine Meinung zu reduzieren. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Ich rede hier weder von faschistoiden Geschichtsleugnern noch von Hypermoralisten, deren Menschenbild in Bezug auf Andersdenkende hier und da gleichfalls bereits totalitäre Züge trägt - nein, ich meine hier ausschließlich die geschätzten 80 Prozent diesseits der beiden genannten Gruppen, ich rede von denen, die auf der Basis eines gemeinsamen Wertekanons bislang den Zusammenhalt unserer Gesellschaft gesichert haben, so sehr sie sich auch in der Analyse eines Problems sowie hinsichtlich der zu dessen Lösung als zielführend erachteten Herangehensweise uneins waren und sind.
Manchmal kommt es mir so vor, als würden wir einer nach dem anderen von einem Virus befallen, der uns in den Wahn eines unbedingten Rechthabenmüsssens treibt. Schwarz oder weiß. Us or them. Oder wir mutieren in der sprachlichen Kommunikation zu Autisten, die einander nicht mehr zuzuhören wissen, die in parallel gesprochenen Monologen aneinander vorbeireden und das Missverständliche mit unfehlbarer Zwangsläufigkeit tatsächlich missverstehen.
Woher kommt mit einem Mal dieses Bedürfnis, sich vorzugsweise nur noch mit gleich oder ähnlich Denkenden abzugeben? Die zuweilen besserwisserische Arroganz? Woher die große Empfindlichkeit, die eine abweichende Meinung häufig bereits als einen Angriff auf die eigene Person interpretiert und mit einem Beleidigtsein ahndet, das sich mir hier und da fast schon aus einem Beleidigtseinwollen zu speisen scheint?
Was also hat sich geändert? Nein, früher war nicht alles besser. Ganz gewiss nicht. Aber seit dem NATO-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 habe ich zum ersten Mal wieder richtig Angst. Angst, dass schon bald nur noch die Stimmen derer zu hören sein werden, die am lautesten schreien. Angst, dass der Zusammenhalt unserer Gesellschaft zerbricht und an deren Stelle eine Gesellschaft tritt, in der vermutlich niemand von uns leben möchte.
Reden löst nicht alle Probleme. Weder in der Paartherapie noch im Austarieren der Interessen vieler verschiedener Gruppen innerhalb einer mittlerweile sehr heterogenen, einer sehr bunt gewordenen Gesellschaft. Aber miteinander zu reden ist die grundlegende Voraussetzung dafür, dass wir uns nicht gänzlich fremd werden, fremd bleiben.
Aus Sprachlosigkeit kann nichts Gutes erwachsen.
Wie seht ihr das?