Johan Harstad: Max, Mischa und die Tet-Offensive

  • Glücklichmachziegel


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    Fast anderthalb Kilo bringt es auf die Waage, knapp 1250 Seiten ist es stark, dieses eckige, gleichsam scharfkantige, ziegelförmige Buch. Die etwas irritierende, von einem Eye-Catcher weit entfernte Coverillustration ist schwarz-weiß, der sperrige, unlyrische Titel in zurückhaltenden Versalien und mit dem kaufmännischen Und dazwischen wirkt wie drübergestreut, und wenn man das Buch in die Hände nimmt, scheint es zu sagen: Kauf mich besser nicht. Lies lieber etwas anderes. Du weißt ja nicht einmal genau, was die "Tet-Offensive" war oder ist.

    Aber wenn man ganz genau hinhört, dann murmelt es leise und mit anheimelnder Stimme: Doch, kauf mich unbedingt. Du wirst mich aus anderen Gründen als aus denen, die du siehst, lieben lernen.


    Und von diesen anderen Gründen gibt es viele.


    Ich weiß nicht, ob Marathonläufer so nach fünfzehn, zwanzig Kilometern zu bedauern beginnen, fast die Hälfte geschafft zu haben, ob sich Bergsteiger auf halber Höhe wünschen, dass der Gipfel noch weiter weg wäre, sie also traurig darüber sind, dass es bald vorbei ist, dieses großartige Erlebnis, über 40 Kilometer auf den eigenen Füßen zurückzulegen oder mehrere tausend Meter senkrechtes Gestein zu überwinden. Ich nehme eher an, dass sie das Ende herbeizusehnen beginnen, dass sie zum x-ten Mal die Entscheidung bereuen, diese Tortur auf sich genommen zu haben, dass sie umstandslos jede Ausrede akzeptieren würden, um den Lauf oder die Besteigung abzubrechen.


    Beim Lesen dieser anderthalb Kilo allerfeinster, unterhaltender, dramatischer, origineller, schillernder, fantasie- und wissensreicher, komischer, tieftrauriger, optimistischer und nicht zuletzt wahnsinnig kluger Literatur habe ich ungewöhnlich oft geprüft, wie viele Seiten es noch sind, wie lange mir dieses Buch noch bleibt, es mich noch begleiten wird. Um im Marathon-Vergleich zu bleiben: Ich wäre auch tausend Kilometer gelaufen. Mit seiner Länge macht dieser Roman auch physisch auf das aufmerksam, worum es in ihm geht, nämlich um die genaue Bedeutung der Dinge, um die Wirkung von Leben, um die Nachhaltigkeit unseres Daseins, um die Nutzung der Zeit, um das intensive Sich-Vertiefen. Um die Liebe. Um Kunst, Musik, Theater, um Ausdrucksformen und Selbstverwirklichung. Um Freundschaft. Und Trauer. Und, vor allem, darum, was es bedeutet, irgendwo oder bei irgendwem zu Hause zu sein.


    Max Larsen ist ein Teenager im norwegischen Stavanger. Wir befinden uns in den Achtzigern. Sein Leben wird unspektakulär und vorhersehbar verlaufen, glaubt er, aber eigentlich macht er sich noch nicht viele Gedanken über solche Dinge, obwohl Max sehr klug ist und eine hohe Auffassungsgabe besitzt. Er ist ein glühender Fan von Francis Ford Coppola und dessen bahnbrechendem "Apocalypse Now". Mit seinen Freunden spielt er im Wald Vietnamkrieg. Aber Max wird aus dem übersichtlichen, beschaulichen Leben gerissen, als die Eltern beschließen, in die U. S. of A. auszuwandern, weil dem Vater, der Pilot ist, ein Job bei American Airlines angeboten wurde. So landen sie auf Long Island im Staate New York. Aber Max will dort nicht sein, zieht und hält sich zurück, bis er beim Schulschwimmen Mordecai begegnet - und sich augenblicklich eine Seelenverwandtschaft offenbart. Wer das Glück hat, über einen im Wortsinn besten Freund, einen intimen, verlässlichen Vertrauten zu verfügen, wird sofort verstehen, wovon Johan Harstad hier sehr ausführlich und anschaulich erzählt. Aber das ist nur der Anfang.


    Max und Mordecai entwickeln eine Leidenschaft für das Theater, während Max' Familie ganz allmählich zerbricht, sich die Eltern voneinander entfernen, sich vor allem der Vater zurückzieht, der aber sowieso pausenlos in der Luft und außerdem dadurch belastet ist, dass sein Bruder Ove Jahre vor ihm nach Amerika ging und vermutlich im Vietnamkrieg gefallen ist. Zu diesem Zeitpunkt weiß noch niemand aus der Familie, dass Ove inzwischen Owen heißt, nach dem Krieg eingebürgert wurde und ganz in der Nähe lebt.

    Und dann, eines Sommers, lernen die beiden jungen Männer Mischa kennen, die junge Frau, die der Schauspielerin Shelley Duvall ähnelt, die auch auf dem Buchcover zu sehen ist - eine eigenwillige, ambitionierte Frau, deren Attraktivität sofort spürbar, aber nicht gleich sichtbar ist. Es wird der Beginn einer sehr, sehr großen Liebe sein, die sich durch das gesamte Buch zieht. Mischa ist Malerin, die mit hyperrealistischen Gemälden von Waschmaschinen ihre ersten Erfolge feiern wird. Sie ist sieben Jahre älter als Mischa und Mordecai.


    "Max, Mischa und die Tet-Offensive" spielt vor allem in Nordamerika, und es fühlt sich an wie ein Roman, der den amerikanischen Erzähltraditionen im besten Sinne folgt - also in der Nähe von Upike, Roth, DeLillo und anderen angesiedelt ist, obwohl Harstad moderner und oft viel eindringlicher zu erzählen scheint, was sich auch in endlosen, in endloser Schönheit dahinmäandernden Sätzen niederschlägt. Sprachlich und bezogen auf die Bildhaftigkeit ist dieser Roman allerdings jenseits von vielem, das ich bisher gelesen habe. Er ist einfach ein Genuss von hoher Dichte und großer aromatischer Bandbreite. Er macht Lust auf Kunst und Theater und Musik, Lust auf das Leben und seine intensivere Wahrnehmung, unter Einsatz aller Nerven und der gesamten Sensorik. Aber "Max, Mischa und die Tet-Offensive" ist auch ein politisches Buch, und eigentlich ist es ein Über-Buch, ein Metaroman, eine Gussform für die gesamte Welt in der zeitgenössischen Literatur.


    Man hätte die ganze Geschichte fraglos auf viel weniger Seiten erzählen können. Aber anders als bei Romanen, die zweifellos einfach zu lang geraten sind, bietet diese Geschichte zwischen ihren Höhe- und Wendepunkten eine ganze Welt an, die zu erfahren und zu erleben ist, das Universum von Max, dem Theaterregisseur, Owen, dem Pianisten, Mordecai, dem Schauspieler - und Mischa, der Malerin. Ein Universum voller Bedeutung im Kleinen und vielen Gedanken, die sich endlich mal jemand macht. Johan Harstad ist kein zu langer Roman passiert, sondern ein Bild, ein literarisches Gemälde gelungen, an dem man sich, wenn es wirklich ein Bild wäre, nie sattsehen könnte. Aber Romane sind nun einmal leider keine Bilder, sondern Kunstwerke, die der Wahrnehmung eine Chronologie aufzwingen, weshalb es am Ende nur die Entscheidung geben kann, dieses ganz wunderbare Buch schnellstmöglich noch einmal zu lesen - und nicht zum letzten Mal.


    ASIN/ISBN: 3498030337

  • Tom

    Jedesmal wenn ich eine Rezension von Dir lese, weiß ich danach sofort, ob ich das Buch auch lesen möchte oder nicht. Im positiven Fall wurde ich noch nicht enttäuscht. Du hast einen guten Blick, das wichtigste und nötigste zu einem Buch zu erkennen und dann zusammen zu fassen. Ob ich in den Fällen, wo ich entscheide, das Buch nach deiner Rezension (die durchaus positiv sein kann!) nicht zu lesen, etwas verpasse, weiß ich natürlich nicht. Aber es ist auch nicht wichtig - es gibt sowieso viel zu viel Bücher. Dieses Buch jedenfalls "muss" ich lesen und ich weiß auch jetzt schon genau, wann ich dafür Zeit habe.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Ich bin mir sicher, dass Du diesen Roman sehr mögen wirst, Horst-Dieter. Nicht nur wegen des hohen Anteils, in dem es um Jazz und das Musikmachen in all seinen Facetten und mit all seinen Nuancen und diese Dinge geht. Aber auch deswegen.

  • Tom

    Von gesundheitlichen Problemen außer Gefecht gesetzt, die vor zwei Wochen begonnene Schmerztherapie bislang ohne Wirkung, das eigene Schreiben in dieser Situation weitgehend zu einer Unmöglichkeit geworden, das Wenige, das ich dennoch schaffe, ist Schrott, allenfalls Premium-Futter für den virtuellen Schredder, und überhaupt scheint die einzig sinnvolle Tätigkeit darin zu bestehen, Dinge, irgendwelche Dinge, ihrer finalen Bestimmung zuzuführen ...


    Und dann kommst du mit deiner Rezension des Romans Max, Mischa und die Tet-Offensive von Johan Harstad.


    1248 Seiten. Bereits die Tatsache, dass hierzulande ein Verlag ein Buch mit einer solchen Seitenzahl jenseits des historischen Genres oder ohne den Vermerk Achtung: Hochliteratur auf den Markt bringt, macht neugierig. Und dann beginnst du auch noch von "endlosen, in endloser Schönheit dahinmäandernden Sätzen" zu schwärmen, wo kurz, kürzer, am kürzesten derzeit doch eines der beliebtesten Mantren ist, berichtest vom Inhalt des Buches, in dem es um nichts weniger geht als "um die genaue Bedeutung der Dinge, um die Wirkung von Leben, um die Nachhaltigkeit unseres Daseins, um die Nutzung der Zeit, um das intensive Sich-Vertiefen. Um die Liebe. Um Kunst, Musik, Theater, um Ausdrucksformen und Selbstverwirklichung. Um Freundschaft. Und Trauer. Und, vor allem, darum, was es bedeutet, irgendwo oder bei irgendwem zu Hause zu sein" und später dann, dass dieses Buch Lust macht "auf Kunst und Theater und Musik, Lust auf das Leben und seine intensivere Wahrnehmung" ...


    Ich habe noch nie ein Buch ausschließlich aufgrund einer Rezension gekauft. Kein Scherz. Aber morgen werde ich Max, Mischa und die Tet-Offensive kaufen.

    Ich kann es kaum erwarten, endlich wieder ein Buch zu lesen, in dem man für eine Weile einfach verschwinden kann.


    Danke für diese Rezension, Tom.


    Vielleicht werde ich mich später noch einmal in diesem Thread melden, sobald ich zumindest eine substanzielle Anzahl Seiten des Buches gelesen habe.


    Liebe Grüße,


    Jürgen

  • Ich freue mich sehr über diese Art von Resonanz. Und viel Freude mit und an diesem Buch!

    (Und gute Besserung, falls noch nötig.)

  • Es wäre schön, wenn diejenigen, denen diese Rezension zugesagt hat, bei ihrer Kopie auf Amazon die "Hilfreich"-Schaltfläche betätigen könnten. Es geht um nix - nur um einen kleinen, internen Wettstreit mit einem anderen Menschen, der ambitionierte Buchrezensionen schreibt. Danke!


    https://www.amazon.de/gp/custo…l?ie=UTF8&ASIN=3498030337

  • Danke für die Rezension,

    Gerne! Ich habe mir den Glücklichmachziegel für den Spätherbst zur abermaligen Lektüre hingelegt. Ich schaffe es bei nicht sehr vielen Büchern, sie ein zweites Mal zu lesen, weil einfach zu viel guter Nachschub kommt (u.a. endlich ein neuer Roman von Harstad, siehe unten), aber dieser Trumm muss in diesem Jahr unbedingt noch einmal her.


    ASIN/ISBN: 3498001418