"Unsere Schriftsprache kennt keine Gesetzgebung" (Wilhelm Grimm)

  • In seiner Rede "Über das deutsche Wörterbuch" auf dem Germanistentag in Frankfurt am Main 1846 geht Wilhelm Grimm u.a. darauf ein, wie in Frankreich und Deutschland die Sprache "gepflegt" wird. In Frankreich gibt es das Wörterbuch der Akademie, das eindeutig vorschreibt, wie Orthografie und Stil zu sein haben. So "schreibt man korrekt und ist gegen jeden Tadel gesichert". Die "Sprache zeigt sich in letzter Vollendung, niemand kann ihr etwas anhaben". Dies scheint aber nur auf dem ersten Blick ein glücklicher Zustand zu sein. Denn auch "geistig ausgezeichnete Männer" beherrschen selber die Sprache nicht richtig, stattdessen geben sie ihre Manuskripte "jenen Handlangern, die das Unzulässige streichen (...) kurz, die Sprache auf gesetzlichen Fuß bringen." Man könnte versucht sein, solche Verhältnisse auch der deutschen Sprache angedeihen zu lassen, und diese "verwahrloste(), hingesudelte() Sprache" unter "polizeiliche Aufsicht" stellen. Aber zum Glück kann sich die Sprache in Deutschland frei entwickeln:

    Zitat

    Unsere Schriftsprache kennt keine Gesetzgebung, keine richterliche Entscheidung über das was zulässig und was auszustoßen ist, sie reinigt sich selbst, erfrischt sich und zieht Nahrung aus dem Boden, in dem sie wurzelt. Hier wirken die vielfachen Mundarten, welche der Rede eine so reiche Mannigfaltigkeit gewähren, auf das wohltätigste.

    Goethe wird als Vorbild genannt, der in seiner Dichtung den Dialekt und die Umgangssprache zur Hoch- und Standardsprache erhoben hat.

    Dies ist eine grundsätzliche Frage: Wollen wir heutzutage unsere Sprache wirklich von oben und durch eine Polizei reinigen lassen?


  • Was die Historie unserer Sprachen angeht, interessant. Was ich nicht ganz verstehe, aber vielleicht habe ich auch etwas überlesen - von welcher Sprachpolizei in der Republik geht aktuell Reinigungsgefahr aus?

  • Zur "Sprachpolizei" gehören alle Organisationen, Institutionen, Verwaltungen, Vereine, Einzelpersonen, die der Mehrheit der Sprachnutzer vorschreiben wollen, wie und was sie zu schreiben und zu sprechen hat. Es gibt eine Ausnahme: die Deutschlehrer, aber die dürfen (auch im Sinne der Grimms) bei den Sprach- und Schreiblernern ihre Autorität ausnutzen, nicht um ihre selbst ausgedachten, nur als richtig gefühlten privaten Normen (die deshalb im eigentlichen Sinne auch keine Normen sind), sondern um nur geltende, das heißt von der Sprachmehrheit bereits angenommene und praktizierte Normen durchzusetzen.

  • Wenn Jacob Grimm diesen Vortrag aufgeschrieben hätte, dann wären 98 % aller Wörter darin klein geschrieben.

    Und statt "ss" gerne "sz". Aber im Wörterbuch hat sich Wilhelm der Fuchtel Empfehlung Jacobs gebeugt und kleingeschrieben.

    kannst du mal ein konkretes Beispiel geben? So erschließt sich mir nicht ganz, welche Frage du in die Runde wirfst.

    Es geht um die grundsätzliche Frage, ob wir das häufig zitierte Frankreichvorbild der staatlich gelenkten Sprachpflege wollen (was in Wirklichkeit natürlich nicht funktioniert, darüber sagt Wilhelm Grimm auch was) oder ob sich unsere Sprache frei, ohne besserwisserische Eingriffe von außen entfalten soll, wie im Grimmschen Wörterbuch zugrunde gelegt.

  • Jetzt habe ich es verstanden. Und doch denke ich, dass wir als AutorInnen doch unsere Sprache frei Schnauze entfalten können., geradezu sollten, das ist originärer Teil unserer Arbeit. Und diesbezüglich bin ich in meinen Arbeiten jedenfalls noch keiner Sprachpolizei begegnet. Wenn du allerdings den Duden meinst, ja ok, das ist eine Instanz. In Frankreich hat die Wahrung und Pflege der eigenen Sprachkultur weit über die Académie Française hinaus eine immense Bedeutung. Abzulesen auch daran, dass viele Franzosen es für überflüssig halten, eine andere als die eigene Sprachen zu sprechen.

  • Ich finde die Grimmsche Sichtweise interessant, dass unsere Standardsprache, mit der wir uns hier im Forum unterhalten, nur Teil eines größeren Sprachprozesses ist, der sich zwischen der standardisierten Sprache einerseits und andererseits den vielen Varietäten der Dialekt- und Umgangssprachen entfaltet. Meine These: Der Sascha Stanisic ist deshalb ein so wunderbarer Autor deutscher Sprache, da er Deutsch als Fremdsprache auf der Straße, in der Gesamtschule, im gymnasialen Zweig und im Universitätsstudium gelernt hat. Sein Vorteil: Er konnte Deutsch als Umgangsprache und als Standard gleichzeitig lernen, während wir beim Erlernen der Standardsprache häufig die prägende Erfahrung gemacht haben, dass wir von Haus aus "falsch" und "fehlerhaft" sprechen - eben im Hinblick auf den Standard. Meine zugespitzte These: Diese negativen, frustrierenden Erfahrungen verunsichern uns im Gebrauch der Schriftsprache, so dass wir nicht so frei, ungezwungen und sprachgewandt drauflos schreiben können, wie die jungen Migranten. Ich bin gespannt, welchen Aufschwung unsere Literatur in den nächsten Jahren noch nehmen wird.:)

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

    Einmal editiert, zuletzt von Jürgen ()

  • Die Frage, ob sich eine Sprache frei entwickeln oder wie in Frankreich von einem Hohen Komitee zur Verteidigung und Verbreitung der französischen Sprache sanktioniert in ein starres Korsett gepresst werden soll, stellt sich in der Praxis nicht, nicht wirklich jedenfalls, weil Letzteres auf Dauer schlicht und ergreifend nicht funktioniert. Wie sollte eine von wem auch immer gewollte offizielle Sprachregelung im Falle einer Missachtung überhaupt durchzusetzen sein? Per Bußgeld, öffentliche Auspeitschung, gesellschaftliche Ächtung oder Berufsverbot?

    Jedenfalls haben sich die Franzosen damals krummgelacht, als man ihnen behördlicherseits vorschreiben wollte, einen DJ in Zukunft einen animateur zu nennen, oder dass ein Skateboard im täglichen Sprachgebrauch zukünftig gefälligst eine planche acrobatique terrestre und ein Airbag ein sac gonflable zu sein habe. Mittlerweile erkennen auch höchste staatliche Stellen die Unmöglichkeit eines solchen Unterfangens ein: „Französisch ist nicht in Gefahr, und meine Aufgabe als Ministerin ist es nicht, nutzlose Dämme gegen andere Sprachen zu errichten, sondern allen unseren Staatsbürgern die Mittel zu geben, Französisch lebendig zu erhalten.“ - Fleur Pellerin, französische Kulturministerin im März 2015.

    Auch wenn es in diesem Fall vornehmlich um den Kampf gegen Anglizismen ging, ist es erstaunlich zu sehen, mit welcher Penetranz von unterschiedlichsten Seiten trotzdem immer wieder versucht wird, Sprache als Kampfplatz gesellschaftspolitischer und kultureller Auseinandersetzungen zu missbrauchen. Die meisten Menschen reagieren auf solche Versuche mit Ablehnung und oft auch auf eine sehr emotionale Weise, vielleicht auch deswegen, weil sie die Ungeheuerlichkeit der Frage spüren, mit der jeder, der über diese Dinge nachdenkt, eher früher als später konfrontiert wird: Wem gehört Sprache?

    Ich bin ohne Wenn und Aber für die Anwendung grammatikalischer Regeln und eine korrekte Orthografie. Das eröffnet zumindest auf einer grundlegenden Ebene die Möglichkeit, sich einigermaßen effizient zu verständigen. Darüber hinaus aber schränkt jeder Versuch, anderen Menschen einen eng definierten Sprachgebrauch aufoktroyieren zu wollen, deren Möglichkeit ein, sich auf eine schöpferische Weise zu artikulieren.

    Was dabei für uns letztendlich auf dem Spiel steht, hat die amerikanische Jazzsängerin Nina Simone sehr schön in Worte gefasst. Und wenn sie sich mit diesen auch auf Musik bezieht, lassen sie sich ohne Einschränkung auch auf unser Schreiben übertragen: „Music is an art and art has its own rules. And one of them is that you must pay more attention to it than anything else in the world, if you are going to be true to yourself. And if you don't do it - and you are an artist - it punishes you.“ - „Musik ist eine Kunst und Kunst hat ihre eigenen Regeln. Und eine von ihnen ist die, dass du ihr [dieser Tatsache] eine größere Beachtung schenken musst als allem anderen in der Welt, wenn du wahrhaftig zu dir selbst sein willst. Und wenn du es nicht tust - denn du bist ein Künstler - wird sie dich bestrafen.“

  • Klar, Sprache entwickelt sich. Ich bezweifle allerdings, dass sie sich ohne eine "Sprachpolizei" frei entwickelt. Man nennt es nur nicht Sprachpolizei, sondern Trendsetter.


    Es gibt Autoritäten in der Sprache, die den Gebrauch vorgeben. Beispiele sind Reklame und Presse. Gerade hat Trump amerikanischen Unternehmen die Zusammenarbeit mit Huawei verboten. Statt '"Verbot" taucht in deutschsprachigen Medien aber der falsche Freund auf, der "Bann". Und solche Fehler finden Eingang in die Alltagssprache, die sich nicht als Graswurzelbewegung von unten bildet.


    Ich lektoriere oft PR-Texte und denke dabei: "Okay, dieses Kauderwelsch will der Kunde so, die Agentur will es so; so spricht zwar noch kein Mensch, aber demnächst wird sich diese PR-Schreibe auch als Spreche auf der Straße durchsetzen."


    Wer ist die wirkliche "Sprachpolizei"? Wer hat die Macht? Das sind keine selbsternannten Sprachschützer mit Ärmelschonern. Das sind die Trendsetter.


    Ein häufig zitiertes Beispiel von Jil Sander, die es mit der Lächerlichkeit dann doch übertrieben hat: "Ich habe vielleicht etwas Weltverbesserndes. Mein Leben ist eine giving-story. Ich habe verstanden, daß man contemporary sein muß, das future-Denken haben muß. Meine Idee war, die hand-tailored-Geschichte mit neuen Technologien zu verbinden. Und für den Erfolg war mein coordinated concept entscheidend, die Idee, daß man viele Teile einer collection miteinander combinen kann. Aber die audience hat das alles von Anfang an auch supported. Der problembewußte Mensch von heute kann diese Sachen, diese refined Qualitäten mit spirit eben auch appreciaten. Allerdings geht unser voice auch auf bestimmte Zielgruppen. Wer Ladyisches will, searcht nicht bei Jil Sander. Man muß Sinn haben für das effortless, das magic meines Stils."

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Es gibt Autoritäten in der Sprache, die den Gebrauch vorgeben.

    Dieses von den Sprachschützern seit Schopenhauer benutztes Argument steht im diametralen Gegensatz zur Sprachauffassung von Wilhelm Grimm: Der Staat etc. will gerne sprachverschönernd eingreifen, tut es auch, aber die einzelnen Sprachnutzer tun am Ende doch, was sie wollen. Mit anderen Worten: Die Srache ist ein autonomes (natürlich-dialektisches) System, das streng basisdemokratisch funktioniert. Der Sprachgebrauch wird von der Mehrheit bestimmt, und nicht von irgendwelchen Gecken, die ihr "Modewörter" aufschwatzen, die sich zur "Seuche" ausweiten. Ich weise nochmal darauf hin, dass dieses Sprachschutzargument die Sprachnutzer beleidigt, für dumm und / oder krank und schwachsinnig erklärt. (Reiners: Stilfibel: "Hauptwörter-Seuche","übles Modewort", Worte, die "abgegriffen", "schäbig", "schädlich", "lächerlich" etc etc. sind.)

    Ganz anders die Grimms, die belegen ein Wort aus ihrem Wörterbuch mit einem Goethezitat - nicht um zu zeigen, dass der "Trendsetter" aus Weimar wieder mal ein neues Wort in Umlauf gebracht hat, sondern umgekehrt: um darzulegen, dass ein weiteres Wort der Umgangssprache den Weg in die Standardsprache der Literatur gefunden hat.

    PS. Dieses saublöde Jil-Sander-Einzelfall-Zitat, das gerade vom Spiegel präsentiert wird - der selber doch berüchtigt ist für seine eigenen Anglizismenerfindungen, die in die Hunderte gehen, die sollte er mal in seinem Hohlspiegel ausstellen!

  • Eine spezielle Form der "Sprachverordnung" gab es in einem Teil der heutigen Bundesrepublik. Vieles was dort bis zur Auflösung der anderen deutschen Republik üblich war, verschwand in der Zeit nach 1989.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Darauf wollte ich hinaus: Auch wir Autoren haben den Sprachpolizisten in uns, der uns Regeln vorschreibt, denen wir häufig unhinterfragt Folge leisten.

    Ich wiederhole es gerne: Viele solcher Regeln stammen aus den ominösen Stilfibeln: "Das Beiwort (=Adjektiv) ist der Feind des Hauptworts." so heißt es im Duden-Stilwörterbuch von 1938: Die Empfehlung zur Adjektiventhaltung kommt eher aus dieser Ecke als von Ernest Hemingway.

  • Eine spezielle Form der "Sprachverordnung" gab es in einem Teil der heutigen Bundesrepublik. Vieles was dort bis zur Auflösung der anderen deutschen Republik üblich war, verschwand in der Zeit nach 1989.

    Diese Worte verschwanden doch nicht auf "Verordnung", sondern weil sie nach dem Ende der DDR in der Lebenspraxis der Bundesrepublik keine Rolle mehr spielen.

  • Diese Worte verschwanden doch nicht auf "Verordnung", sondern weil sie nach dem Ende der DDR in der Lebenspraxis der Bundesrepublik keine Rolle mehr spielen.

    Habe ich ja nicht gesagt, das sie auf "Verordnung" verschwanden. Aber sie waren auf "Verordnung" gültig während einiger Jahrzehnte.

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    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hi Jürgen,


    Dieses von den Sprachschützern seit Schopenhauer benutztes Argument steht im diametralen Gegensatz zur Sprachauffassung von Wilhelm Grimm:

    stimmt. Und?

    Der Staat etc. will gerne sprachverschönernd eingreifen, tut es auch, aber die einzelnen Sprachnutzer tun am Ende doch, was sie wollen. Mit anderen Worten: Die Srache ist ein autonomes (natürlich-dialektisches) System, das streng basisdemokratisch funktioniert.

    Nö. Ich habe mich nicht auf den Staat als Autorität bezogen, sondern auf Presse und Reklame.


    Behauptungen ersetzen keine Argumente: Warum sei die Sprache "ein autonomes (natürlich-dialektisches) System, das streng basisdemokratisch funktioniert"? Ich behaupte: Lass die Presse noch eine Weile vom "Bannen" statt vom "Verbieten" oder "Untersagen schreiben, und die Alltagssprache greift das auf. Ähnlich wie bei Werbung. Irgendwann in den 90ern warb Coca Cola damit, ihre PET-Flaschen seien "unkaputtbar". Das kann man durchaus als kreativen Akt verstehen. Insofern will ich diese Werbung gar nicht kritisieren. Jedenfalls fand das Wort Eingang ins tägliche Deutsch und steht heute im Duden. Nicht wegen "Basisdemokratie", sondern wegen cleverer PR.


    Der Sprachgebrauch wird von der Mehrheit bestimmt, und nicht von irgendwelchen Gecken, die ihr "Modewörter" aufschwatzen, die sich zur "Seuche" ausweiten. Ich weise nochmal darauf hin, dass dieses Sprachschutzargument die Sprachnutzer beleidigt, für dumm und / oder krank und schwachsinnig erklärt.

    Ja. Stimmt. Das unreflektierte Übernehmen von Kauderwelsch zeugt nicht gerade von geistigen Überfliegern. Und?


    Wo ist bitte das Argument? Ich halte alle möglichen Leute für Schwachköpfe, obwohl man "das nicht soll", wie zum Beispiel FPÖ-Wähler. Damit beleidigt man ja den Wähler, heißt es oft. Ja, das tut man.


    Zitat

    Dieses saublöde Jil-Sander-Einzelfall-Zitat, das gerade vom Spiegel präsentiert wird - der selber doch berüchtigt ist für seine eigenen Anglizismenerfindungen, die in die Hunderte gehen, die sollte er mal in seinem Hohlspiegel ausstellen!

    Fein. Wir nähern uns an, Jürgen. Wollen wir gemeinsam ein bisschen über Sprachverhunzung im "Spiegel" lästern? Gern. Das wäre doch mal ein Beginn, mit dieser Beliebigkeit bei Sprache aufzuräumen. :-) Bis dahin hier eine hoffentlich genehme Quelle. Das Argument bleibt aber gleich.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)