Zur Genderideologie

  • Wie schreibt Jürgen zur Sprachentwicklung sinngemäß immer? "Et kütt, wie et kütt." Ruhig Blut. Ich wage die Prognose: Niemals werden Autoren gezwungen werden, auf eine bestimmte Art zu schreiben oder nicht.


    Das Kölsche Grundgesetz hilft oft:


    §1: Et es wie et es!


    §2: Et kütt wie et kütt!


    §3: Et hät noch immer jot jejange!


    §4: Wat fott es, es fott!


    §5: Et bliev nix, wie et wor!

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Ruhig Blut. Ich wage die Prognose: Niemals werden Autoren gezwungen werden, auf eine bestimmte Art zu schreiben oder nicht.

    Hallo, Alexander.


    Der von mir überwiegend bewunderte Frank Schulz ignoriert beharrlich die Rechtschreibreform, und seine Verlage machen das mit. Bei Aufbau konnte ich's mir auch noch aussuchen, bei Rowohlt wird - wie bei den meisten größeren Verlagen - "NDR light" praktiziert. Das reduziert sich dann unterm Strich auf ein paar Zeichensetzungssachen und die Doppel-S-Regeln.


    Nein, sie werden niemanden zwingen, das zu tun, aber es wird einige geben, die es tun, und es wird andere geben, die es nicht tun. Die, die es tun, werden das aus bestimmten, aber nicht immer aus den gleichen Gründen tun, und die, die es nicht tun, ebenfalls, aber unterm Strich wird es zwei Fraktionen geben, nämlich die, die es tun, und die anderen. Und dann haben wir plötzlich ein Problem an einer Stelle, an der wir es nicht erwartet hatten, und an die es auch nicht gehört. Autoren, die sich vermeintlich bekennen, die mitmachen, die sich "engagieren", und andere, die sich verweigern, die sich konservativ geben, oder gar reaktionär, jedenfalls augenscheinlich. Es ist ja in Mode geraten, nicht mehr nachzufragen, bevor man urteilt. Es ist auch in Mode geraten, politische Korrektheit bei Kunst zu verlangen. Und Scheißestürme loszutreten, ganz gefahrlos per Mausklick vom Sofa aus, wenn man sie nicht bekommt. Aber keineswegs gefahrlos oder folgenlos für die Betroffenen. Weshalb es auch hier und da ziemlich viele Leute gibt, die vorauseilend gehorsam sind und ihre Kunst mit Wattebäuschen feinschleifen.


    Nein, es wird niemand gezwungen, aber die Debatte hat vielerorts einen klaren Tenor, und der Druck wächst. Einige Argumente werden einfach beiseitegewischt. Wer keine genderneutrale Sprache will, wird als Ewiggestriger hingestellt, als verkappter Misogyner, als Gerechtigkeits- und Fortschrittsfeind, wobei überhaupt keine Rolle spielt, aus welchen Gründen er diese Sprache ablehnt, selbst wenn es vernünftige Gründe sind. Die Gründe werden nicht angehört, und zwar aus gutem Grund: Sie könnten die gesamte Kampagne gefährden. Die für viele Beteiligte längst zum Selbstzweck geworden ist.


    Zwang ist also überhaupt nicht nötig. Es gibt andere Instrumente. :(

  • Nein, sie werden niemanden zwingen

    Hallo Tom,


    meine Frage erscheint vielleicht simpel, aber ich halte sie in diesem Zusammenhang für ziemlich wichtig, also entschuldige bitte - ich meine sie ganz ernst, aber überhaupt nicht böse: Wer ist "sie"?

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Hallo Tom,


    meine Frage erscheint vielleicht simpel, aber ich halte sie in diesem Zusammenhang für ziemlich wichtig, also entschuldige bitte - ich meine sie ganz ernst, aber überhaupt nicht böse: Wer ist "sie"?

    Die Leute, die hinter diesem Karren herlaufen.


    Edit: An der Stelle, die Du zitiert hast, bezog es sich auf Deine Frage, also die Verlage. Die Verlage werden niemanden dazu zwingen, vorläufig. Deshalb auch das Beispiel mit Frank Schulz.

  • Die Leute, die hinter diesem Karren herlaufen.


    Edit: An der Stelle, die Du zitiert hast, bezog es sich auf Deine Frage, also die Verlage. Die Verlage werden niemanden dazu zwingen, vorläufig. Deshalb auch das Beispiel mit Frank Schulz.

    Okay, danke Tom. Im Absatz vor der Stelle hattest Du Dich noch auf die Rechtschreibung bezogen.


    Wenn ich das "sie" aber auf die "Genderideologie" (Thread-Titel) beziehe, und dann Deine Erklärung nehme: "Leute, die hinter diesem Karren herlaufen", dann frage ich mich: Dann redest Du doch über Lemminge, oder?


    Viele Lemminge zusammen können ja auch einen Einfluss auf die Sprache haben, aber dann reden wir nach meinem Verständnis über Mode.


    Wer aber zieht den Karren? Wird er überhaupt gezogen? Und von wem? Und haben "sie" (vorausgesetzt, es gibt sie), die den Karren ziehen, mehr Einfluss, als andere? Bestimmen "sie" eine Sprachmode? Oder entwickelt sie sich?


    Um nicht nur Fragen zu stellen: Damit PC zu einer einflussreichen Strömung werden kann, kann man sie doch nicht nur oktroyieren, meine ich. Und ich möchte wie früher schon unterscheiden zwischen Gender-Sprache in Sachtexten und in Belletristik.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Diese Kolumne ist nicht mehr polemisch, sondern abseitig. Das betrifft auch die Argumentation.


    Ich arbeite auch gerade an einem ... Werk zu diesem Thema. Hier mein erster Entwurf:


    Manifest für eine gendergerechte Farbverwendung


    Liebe Idiot*innen,


    die Farbe Rot ist diskriminierend. Sie steht in extremer Weise symbolisch für die unterdrückende, patriarchalisch geprägte Paarorganisation vor allem zwischen heterosexuellen Weißen, sozialkulturgeschichtlich abgeleitet aus der Färbung der wohldurchbluteten Geschlechtsorgane des empfängnisbereiten Weibchens, und wird als Signalfarbe unaufhörlich in diesem Kontext angewendet, beginnend bei der Kennzeichnung tertiärer Geschlechtsmerkmale - etwa mit Lippenstift - und längst nicht endend bei der textilen Verpackung Neugeborener zwecks Markierung ihrer ab diesem Moment fundamentierten Rollenzugehörigkeit. In Rotlichtbezirken holen sich machthungrige, aber schwache Männer ihr tägliche Portiönchen Dominanz. Die Annahme roter Rosen signalisiert Unterwerfungsbereitschaft.


    Rot steht für die Erniedrigung.

    Rot ist schlecht.

    Rot ist böse.

    Rot ist fortschrittsfeindlich, misogyn und ungerecht.


    Die Farbe sollte deshalb geächtet und verbannt werden. Sie sollte in Ämtern und Behörden, im Straßenverkehr, bei der Kennzeichnung von Vereinen, Organisationen und Anstalten öffentlichen Rechts, bei der Gestaltung von Flaggen, Fahnen und Wimpeln, bei der Beleuchtung von Fortbewegungsmitteln und als Fleisch- und Körperflüssigkeitenfarbe verboten werden, um der Ungleichbehandlung, der schreienden Ungerechtigkeit ein Ende zu setzen, denn nur die Unmöglichkeit der Nutzung kann eine Beseitigung der Missstände herbeiführen. Ziel sollte sein, die rote Farbe - auch als Mischfarbe - vollständig zu tilgen und durch eine neutralere Farbe zu ersetzen, etwa ein gepflegtes Grau oder einen noch zu erfindenden Farbton weit außerhalb des Spektrums zwischen Ultraviolett und, hol‘s der Teufel!, Infrarot. Dafür sollte perspektivisch die Produktion sämtlicher Gegenstände in dieser Farbe weltweit verboten, Züchtung und Wachstum von Pflanzen mit dieser Colorierung untersagt und die Weitergabe von Genen, die rote Haar- oder Blutfarbe zur Folge haben, unter Strafe gestellt werden. Die versehentliche oder absichtliche Nutzung der Farbe im öffentlichen oder privaten Bereich sollte zur Aberkennung der Bürgerrechte führen.


    Bis das gelungen ist, sollten alle Menschen (langfristig aber auch Haus- und Nutztiere) Brillen, Kontaktlinsen oder Augenimplantate tragen, die diese Farbe filtern, so dass deren Existenz nicht mehr wahrgenommen werden kann. Mobile Beweissicherungsgruppen sollten die Verwendung überwachen, dann einschreiten und für eine gendergerechte Farbnutzung sorgen. Fotos von Rotnutzern sollten auf entsprechenden Plattformen verbreitet, rotnutzende Firmen sollten geächtet und boykottiert werden. Alle Kunst- und Kulturgegenstände, bei deren Herstellung diese Farbe verwendet wurde, sollten entweder nachcoloriert oder umgehend entsorgt werden.


    Verbietet das Rot, dann ist das Patriarchat tot!

  • Das ganze Thema ist längst entgleist. Seit Jahren.


    Der wichtigste Punkt ist nicht, ob jemand für oder gegen Gender-Sprache/-Gerechtigkeit/-Unfug/-Ideologie/-Terror ist. Der wichtigste Punkt ist, die Emotionalisierung nicht mitzumachen. Die Sache ist es nicht wert, sich hochgradig zu erregen. Und selbst wenn sie es wert wäre, es gibt gute Gründe, den Ball ein bisschen flach zu halten.


    In den letzten Jahren dürfte jedem klar geworden sein, dass Emotionalisierung von Debatten möglicherweise ein größeres Problem ist, als wir so gedacht haben. Es wird als Mittel eingesetzt, um vernunftbasierte Diskurse auszuhebeln. Reg! Dich! Auf! Nein. Tu es nicht. Es nützt am Ende den Leuten, die sich für Argumente nur insoweit interessieren, als sie ihnen nützlich sind. Bei der Durchsetzung ihrer Interessen.


    Das Thema Gendern ist, ob wir das nun wollen oder nicht, längst Teil eines größeren Konflikts. Die Leute, denen es um die Sache selbst geht, sind da auf verlorenem Posten. Es geht nicht um die Sache selbst.


    Nehmen wir mal an, diese Unterschriftenkampagne (stop-gendersprache-jetzt) hat Erfolg. Was könnte das heißen? Besten*Schlimmstenfalls, dass es eine Volksabstimmung gibt. Vielleicht wird das Gender-Sternchen dann tatsächlich abgeschafft. Problem gelöst? Sprache gerettet? Kann ich mir noch nicht so recht vorstellen. Was ich mir dagegen gut vorstellen kann, das ist, welche Parteien davon profitieren werden. Das muss man dann halt in Kauf nehmen? Hm.


    Besser als eine Volksabstimmung wäre wahrscheinlich, wenn durch den Unterschriftenprotest eine breite gesellschaftliche Debatte angestoßen wird. Vernunftbasiert, mit Argumenten. Und Leuten, die Argumente anhören. Aber ich fürchte, das werden wir nicht erleben. Wie Heike sagte, das ist leider nicht so modern. Ich würde eher damit rechnen, dass die Gräben noch ein bisschen tiefer gebuddelt werden.


    Ich werde da nicht mitmachen.

  • hastdudamaleinbeispiel?

    Nein, habichnich. Aber ich meinte auch nicht, dass es früher mal breite vernunftbasierte Debatten gab. Sondern dass die Debatten in den letzten Jahren immer stärker affektbasiert geführt werden, rhetorisch, polarisierend, nicht interessiert an möglicherweise bedenkenswerten Einwänden einer Gegenseite. Da findet etwas statt, das ich nicht unterstützen möchte.

  • Horst-Dieter


    In dem Thread hier hätte ich schon im Januar gern auf manches geantwortet, aber da war ich noch nicht registriert. Besonders eine Äußerung war mir noch in Erinnerung; ich hab sie wiedergefunden.

    Ich persönlich bin ja leider nicht in der Lage, eindeutig Position zu beziehen. Ich finde immer wieder auch noch Argumente, die mir einleuchten, auf der anderen Seite. Jürgen oder Tom, die für sich ganz klar in dieser Sache sind, beneide ich deswegen. Das geht mir leider auch bei anderen Themen so und, wie ich beobachte, wird das mit dem Alter nicht besser, sondern eher schlimmer.

    Lieber Horst-Dieter, es wird nicht schlimmer. Glaube mir. Es handelt sich um eins der wenigen Dinge, die mit dem Alter besser werden. Ich lasse jetzt mal jede Ironie beiseite. Wenn es einem schwerer fällt, eindeutig Position zu beziehen, ist das kein Mangel, kein Gebrechen, kein Schlimmer. Es ist ein Zeichen für geistige Gesundheit. Nehmen wir nur mal diese leidige Gender-Frage. Gerade der Zweifel ist in einer auf so vielfältige Weise zweifelhaften Angelegenheit die angemessene Position. So sehe ich das jedenfalls.


    Eigentlich mag ich historische Vergleiche nicht, aber in diesem Fall ziehe ich selber mal einen. Manchmal hilft es, ein paar Schritte zurückzutreten, um die Dinge klarer zu sehen.


    Vor ziemlich genau fünfhundert Jahren gab es eine ähnliche Entwicklung wie heute. Eine zunehmende Polarisierung in der Gesellschaft, der sich auf Dauer niemand entziehen konnte. Prominentestes Beispiel war Erasmus von Rotterdam. Beide Seiten hätten ihn gern vereinnahmt. In Deutschland, Lutherland gibt es eine lange Tradition, ihn für die Verweigerung der Parteinahme als schwach, feige, entschlusslos zu charakterisieren, als jemanden, der die Zeichen der Zeit nicht erkannt hat usw.


    Weit hergeholt? Ich würde eher sagen: könnte kaum aktueller sein. Es ist in den letzten Jahren schwierig geworden, mit differenzierten Positionen respektiert zu werden, Zweifel anzumelden, ohne anderen dadurch suspekt zu erscheinen. Dass das nicht nur für die Genderfrage gilt, muss ich wohl nicht extra betonen.


    Ein Schwanken, das sich durch das Hören auf Argumente einstellt, die man vielleicht noch nicht kennt oder noch nicht genügend bedacht hat, soll ein Manko sein? Nein. Die Dinge sind wirklich kompliziert. Das ganze Schiff schwankt.


    Die meisten klaren Positionen sind bei genauerem Hinhören mit einem eher bescheidenen intellektuellen Niveau verknüpft. Und da, wo man auf anspruchsvollere Gedankengänge stößt, auf echte Argumentationen, spürt man doch wieder recht schnell einen überschießenden Affekt. Und dahinter kündigt sich dann schon der blinde Fleck an. Ich hätte sogar Beispiele aus dem Thread hier, aber ich bin nur ein Buchstabensuppenkoch, deshalb genug jetzt. Sonst verbrenn ich mir noch die Zunge an dieser Buchstabensuppe.

  • Die meisten klaren Positionen sind bei genauerem Hinhören mit einem eher bescheidenen intellektuellen Niveau verknüpft. Und da, wo man auf anspruchsvollere Gedankengänge stößt, auf echte Argumentationen, spürt man doch wieder recht schnell einen überschießenden Affekt.

    Hallo Enno,


    Deine Beiträge gefallen mir sehr gut. Das Bedächtige ist oft wertvoll, und ich selbst habe ja für Kölsche Gemütlichkeit plädiert. Allerdings geht es mir zu weit, sich nur noch auf ein (alters-)weises "Einerseits-Andererseits" zu beschränken. Eine Abwägung ist dazu da, danach zu einem Entschluss zu gelangen. Das bedeutet ja nicht, dass man andere Argumente ignoriert. Nur, dass man eine Seite für überwiegend hält.


    Demokratie lebt von Streit. Bei Themen wie Gender-Sprache kann man mit guten Gründen sagen: Kinderchen, so wichtig ist das alles nicht. Bei grundlegenden Themen erlebe ich für meinen Geschmack aber zu wenig Leidenschaft. Eine meiner Leidenschaften ist Europa; Greta Thunberg wird wohl den Klimaschutz nennen - und genau bei diesem Thema ist die Diskussion ja nur pseudo-aufgeregt.


    In Wirklichkeit erregt uns nämlich kaum noch etwas, berührt nicht unsere Seele, kehrt nicht unsere Gedärme nach außen. Wir sind lau. Aufregung ist nur Kostüm. Wir sitzen in der Badewanne, wie der Mann am Schluss der "Truman Show", der sich in sein Handtuch krallt und mit dem Schicksal Trumans fiebert - und dann, nach seiner Rettung, fragt er sich nur: Was läuft eigentlich auf Kanal 2?


    Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der ein "überschießender Affekt" ein Mangel in der Diskussion ist.


    So, jetzt weiß ich nicht, inwieweit ich richtig auf Dich eingegangen bin, Enno. Für Deine Beiträge möchte ich Dir herzlich danken, wenn ich sie schon nicht als Ganzes "like". Deine Gedanken finde ich sehr wertvoll. :)

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • So wenig, wie Zweifel immer ein Zeichen von Stärke ist, ist eine klare Position immer ein Zeichen von Schwäche oder Dummheit. Davon abgesehen: Wir zweifeln alle ständig; bei Autoren gehört das quasi zum Berufsbild. Energische, erfolgsverachtende Selbstkritik gibt es nach meiner Beobachtung in dieser Form bei nur ganz wenigen anderen Jobs oder Tätigkeiten. Schriftsteller, die nicht zweifeln, schreiben s/Scheiße.


    Ich habe in der Frage, wie die Gesellschaft mit der Ungleichbehandlung von Gruppen umgehen sollte, ob es sich nun um Mehrheiten wie die Frauen oder Minderheiten wie etwa die Atheisten handelt, keine eindeutige Position, weil ich unter all den Angeboten, die bislang gemacht werden, keines erkennen kann, das der Weisheit letzten Schluss zu verkörpern scheint (das gilt auch für denkbare Kombinationen aus diesen Angeboten). Was ich sicher weiß, das ist, dass wir etwas tun müssen, im Umgang miteinander, bei der Erziehung unserer Kinder, bei einigen - vielen - Strukturen. Was ich auch sicher zu wissen glaube, ist, dass Zwang oft nach hinten losgeht und niemandem dient, dass aber auch Freiwilligkeit begrenzte Wirkung hat. Ich habe das starke Gefühl, dass viele Vorschläge, die derzeit unterbreitet und heiß diskutiert werden, Bestandteil eines Machtspiels sind und überhaupt nicht der Sache dienen, dazu gehören die Ideen zur Veränderung der Sprache, die ich tatsächlich klar ablehne, weil ich es hasse, wenn mir jemand aus politischen Gründen Vorschriften zu machen versucht (es ist eine überwiegend, aber längst nicht nur emotionale Ablehnung). Ich glaube auch nicht, dass Quoten mehr qualifizierte Frauen dazu bringen, darüber nachzudenken, ihre Lebenszeit mit etwas so Absurdem wie dem Management eines DAX-Konzerns zu verschwenden, weshalb solche Quoten nur zur Folge haben werden, dass aus einem Überangebot extrem qualifizierter Männer und einem Unterangebot halbwegs qualifizierter Frauen Teams zusammengestellt werden, bei denen die Frauen doch wieder die schwächere Fraktion bilden. Das ist nicht der Ausweg aus der Ungleichbehandlung. Das ist, wie ich meine, auch nicht die Form von Un-Ungleichbehandlung, die sich die meisten Frauen wünschen. Und das ist dann auch wieder eine Stelle, an der ich wenige Zweifel habe: Dass man wirklich mal die Frauen, und zwar alle Frauen, darüber befragen sollte, was sie sich in dieser Hinsicht vorstellen. Und nicht nur die "Aktivisten", von denen viele sehr egoistische Ziele verfolgen, meiner Meinung nach. Und die oft zu denken glauben, dass sie besser wissen als die Betroffenen, was diese wollen.


    Es ist kompliziert. Und deshalb nicht so einfach zu beantworten, etwa damit, dass man den Genus aus der Sprache streicht.

  • Hallo Alexander,


    danke für das nette Feedback.

    Allerdings geht es mir zu weit, sich nur noch auf ein (alters-)weises "Einerseits-Andererseits" zu beschränken.

    Mir auch. Das meinte ich auch nicht. Dem Unentschiedenen würde ich nur da den Vorzug geben, wo mir Dinge tatsächlich unklar vorkommen. Außerdem geht es um Offenheit: Wer seine Meinung schon fertig hat, ist nicht immer der beste Zuhörer. Nicht immer.


    Und selbstverständlich ist Abwägung dazu da, zu Entscheidungen zu kommen. Wir müssen ständig handeln, auch wenn die Dinge keineswegs klar sind. Das blende ich nicht aus. Ich plädiere nur dafür, die Spielräume zu nutzen. Nicht schneller als nötig zu behaupten, etwas sei geklärt. Man muss es ja nicht gleich machen wie die Briten.

    Demokratie lebt von Streit.

    Nicht eher von Streitkultur? Was dann auch heißt: Kompromissbereitschaft. Und dazu gehört wiederum eine gewisse Affektkontrolle.

    Bei grundlegenden Themen erlebe ich für meinen Geschmack aber zu wenig Leidenschaft. Eine meiner Leidenschaften ist Europa; Greta Thunberg wird wohl den Klimaschutz nennen - und genau bei diesem Thema ist die Diskussion ja nur pseudo-aufgeregt.

    Du findest, wir müssten uns mehr aufregen über den Klimawandel? Geht nicht. Homo sapiens tickt nun mal so, dass er sich das nicht ohne Weiteres vorstellen kann. Zu abstrakt. Wenn das Ganze eine Religion wäre, und der Klimawandel die Hölle, dann vielleicht. Aber ich bin ganz froh, dass es keine Religion ist.


    Über Fridays for Future können wir uns viel besser aufregen. Schüler, die den Unterricht schwänzen, manipuliert von klimaschutzbesoffenen Lehrern; eine endlich neue Generation von verantwortungsbewussten Jugendlichen, die die Zukunft des Planeten nicht den unfähigen Politikern überlassen will. Entsprechend ist das ja auch bereits wieder so ein Aufregerthema. Bei dem alle möglichen Leute Bekenntnis ablegen.

    In Wirklichkeit erregt uns nämlich kaum noch etwas, berührt nicht unsere Seele, kehrt nicht unsere Gedärme nach außen. Wir sind lau.

    Was heißt kaum noch?


    Meinst du jetzt, uns ältere Leute im Gegensatz zu beispielsweise fünfzehnjährigen Schülern? Oder meinst du, das war früher mal anders? Damals, als sich die Leute noch so richtig um die Zukunft gekümmert haben?


    Und Gedärme nach außen? Muss das sein?


    Ich verstehe das bestimmt falsch, wenn ich da so eine Art vitalistische Zivilisationskritik raushöre. Was ist so schlimm an der Lauheit? Das Wohltemperierte Klavier magst du doch auch, oder? Warum assoziierst du die Badewanne?

    Aufregung ist nur Kostüm.

    Würde ich nicht sagen. Selbstverständlich dienen gelbe Westen auch und nicht zuletzt der Kostümierung. Aber wo da die Grenze verläuft, ich weiß nicht. Wann würdest du denn einer Aufregung ihren Echtheitsanspruch abnehmen? Wenn sie nicht auf Instagram posiert, sondern im wirklichen Leben auftaucht? Authentisch? Hm. Da wäre ich … skeptisch.

    Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der ein "überschießender Affekt" ein Mangel in der Diskussion ist.

    Also gut. Ich finde meine Formulierung von gestern Abend auch nicht so gelungen. War schon spät. Außerdem hab ich selbst oft genug diesen Affekt in der Diskussion. Wichtig ist mir eher der blinde Fleck (gern auch im Plural). Um den geht es. Wenn der Affekt den verdeckt (ich rege mich auf, also habe ich recht), dann ist der Affekt ein Teil des Problems. Da tät ich schon ein wenig Psychologie reinbringen wollen.


    Abgesehen davon wäre mir Herbert Wehner auch lieber als Olaf Scholz.


    Ganz unaufgeregte Grüße

    Enno

  • So wenig, wie Zweifel immer ein Zeichen von Stärke ist, ist eine klare Position immer ein Zeichen von Schwäche oder Dummheit.

    Ich gehe eigentlich davon aus, dass du solchen Quatsch auch nicht aus meinen Zeilen herausgelesen hast. Sowas würde ich nie behaupten.


    Zweifel wird traditionell als Zeichen von Schwäche angesehen, Glauben bzw. Wissen als Zeichen von Stärke. Mir ging (und geht) es darum, auf das geringe Ansehen des Zweifels hinzuweisen. Das ist mir wohl nicht ganz geglückt. Ich werde dran arbeiten.

    weil ich es hasse, wenn mir jemand aus politischen Gründen Vorschriften zu machen versucht

    Es werden uns doch ständig aus politischen Gründen Vorschriften gemacht. Politik macht nun mal Vorschriften. Ob es die elektronische Gesundheitskarte ist oder das Datenschutzgesetz, Bildungsreform oder Flaschenpfand, es wimmelt davon. Den Hass kann ich da erst mal nicht nachvollziehen, jedenfalls nicht in dieser grundsätzlichen Form. So, wie du es generalisierst, kommst du ja aus dem Hassen gar nicht mehr raus. Da verstehe ich wohl was falsch?

    Dass man wirklich mal die Frauen, und zwar alle Frauen, darüber befragen sollte, was sie sich in dieser Hinsicht vorstellen. Und nicht nur die "Aktivisten", von denen viele sehr egoistische Ziele verfolgen, meiner Meinung nach.

    Eine solche Befragung wäre tatsächlich ein interessantes Instrument. Es fehlt leider im Repertoire unserer demokratischen Willensbildungsprozesse. Konkret vorstellen kann ich es mir aber auch nicht so ohne Weiteres. Wie soll das vor sich gehen?


    Egoistische Ziele: das würde ich etwas vorsichtiger sagen. Die egoistischen Ziele spielen zweifellos eine Rolle, zB Schaffung ganzer Forschungsbereiche mit Geldern, Planstellen usw. Aber mir fehlt da doch etwas der Überblick, um das Treiben der Aktivisten zu beurteilen. Das ist genau einer der Punkte, an denen ich mich mit Urteilen lieber ein bisschen zurückhalte.


    Noch was zum Schluss. Meine Anmerkungen hören sich vielleicht so an, als ob ich das alles ganz anders sehe als du. Mitnichten. In allen wichtigen Punkten stimme ich dir zu.


    Zu guter Letzt:

    Wir zweifeln alle ständig; bei Autoren gehört das quasi zum Berufsbild. Energische, erfolgsverachtende Selbstkritik gibt es nach meiner Beobachtung in dieser Form bei nur ganz wenigen anderen Jobs oder Tätigkeiten.

    Interessante Beobachtung. Noch nie drüber nachgedacht. Bitte mehr darüber. Bei welchen anderen Jobs gehört der Zweifel auch zur Stellenbeschreibung? Die Frage meine ich völlig ernst. Wissenschaftler? Juristen? Polizisten? Ärzte??

  • Ich plädiere nur dafür, die Spielräume zu nutzen. Nicht schneller als nötig zu behaupten, etwas sei geklärt. Man muss es ja nicht gleich machen wie die Briten.

    :-) Netter Vergleich. Im Februar waren Anja und ich bei einem Josef-Hader-Abend. Der erzählte, er könne den Leuten nicht immer sagen, wer Schuld hat auf der Welt und wer Recht. Er sagte, das sei auch eine Erscheinung seines zunehmenden Alters. Da kann man dann weise mit dem Kopf nicken und zustimmen. Und das tat ich innerlich auch zuerst. Dann brachte er als Beispiel die Ukraine und die Krim - und da habe ich für mich dann sehr wohl eine Meinung, wer Schuld hat und wer Recht. Das ändert nichts an meiner allgemeinen Zustimmung und daran, dass ich Hader sehr schätze ... aber wenn's konkret wird, wird's auch schwieriger mit dem Unklaren. Kann zumindest so sein.


    Zitat

    Demokratie lebt von Streit.


    Nicht eher von Streitkultur? Was dann auch heißt: Kompromissbereitschaft. Und dazu gehört wiederum eine gewisse Affektkontrolle.

    Setzt Streitkultur nicht den Streit erst voraus?


    Zitat

    Du findest, wir müssten uns mehr aufregen über den Klimawandel? Geht nicht. Homo sapiens tickt nun mal so, dass er sich das nicht ohne Weiteres vorstellen kann. Zu abstrakt.

    Anja hat mir von einem Interview mit Greta Thunberg berichtet, in dem sie ihre Panik schildert. Und dass ihre Aktionen ihr helfen, mit der Panik zurechtzukommen. Ich meine nicht, dass der Mensch nun mal so tickt.


    Ich meine, dass die "Sensationen" zunehmen. Im Internet vor allem. Dass Fernseh-Talkshows ein paar Aufreger aufgreifen, die schon bald wieder vom nächsten Aufreger überlappt sind.


    Die Badewanne war das Bild aus der "Truman Show", wo der Zuschauer bangt ob Truman den Sturm auf dem Meer überlebt und sich in sein Handtuch krallt. Nichts ist wichtiger in diesem Moment. Und als er vorbei ist, zeigt sich: Das war keine Leidenschaft. Das war Gier. Gier macht nicht satt. Als Truman es geschafft hat, wechseln alle zum nächsten Kanal. Leidenschaft ist nicht Gier.


    Zitat

    Wichtig ist mir eher der blinde Fleck (gern auch im Plural). Um den geht es. Wenn der Affekt den verdeckt (ich rege mich auf, also habe ich recht), dann ist der Affekt ein Teil des Problems.

    Sind blinde Flecke (Ignoranz) nicht unabhängig vom Affekt?


    Zitat

    Abgesehen davon wäre mir Herbert Wehner auch lieber als Olaf Scholz.


    Danke für das Interview, Herr Wöhner. ;-)

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)