Dörte Hansen - „MITTAGSSTUNDE“

  • Die Wucht eines großen norddeutschen Romans


    Genau ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, bis jemandem eine gleichwertige erzählerische Glanzleistung gelungen ist wie Siegfried Lenz mit seinem Meisterwerk „Deutschstunde“. Dörte Hansen ist so etwas wie Lenz´ kongeniale Muse der Gegenwart. Dabei macht sie nicht etwa stilistische Anleihen beim Altmeister – im Gegenteil: Ihr betörender Duktus und ihre ausgefeilte Erzählstruktur sind ein ganz eigenständiges literarisches Erlebnis. Mit Lenz aber teilt sie eine originelle, traumwandlerisch sichere und dennoch sparsame Sprache und die in jeder Zeile spürbare Liebe zu allem, was sie zu erzählen hat.

    Und was ist das nun in der „Mittagsstunde“? Der Verlag sagt dazu:


    Die Wolken hängen schwer über der Geest, als Ingwer Feddersen, 47, in sein Heimatdorf zurückkehrt. Er hat hier noch etwas gutzumachen. Großmutter Ella ist dabei, ihren Verstand zu verlieren, Großvater Sönke hält in seinem alten Dorfkrug stur die Stellung. Er hat die besten Zeiten hinter sich, genau wie das ganze Dorf. Wann hat dieser Niedergang begonnen? In den 1970ern, als nach der Flurbereinigung erst die Hecken und dann die Vögel verschwanden? Als die großen Höfe wuchsen und die kleinen starben? Als Ingwer zum Studium nach Kiel ging und den Alten mit dem Gasthof sitzen ließ? Mit großer Wärme erzählt Dörte Hansen vom Verschwinden einer bäuerlichen Welt, von Verlust, Abschied und von einem Neubeginn.


    Alles richtig, und dennoch erzählt uns das Buch viel mehr. „Mittagsstunde“ ist vordergründig durchaus ein Roman über den unaufhaltsamen Wandel des dörflichen Lebens im rauen Land des Nordens. Es ist jedoch noch viel mehr: Dörte Hansen spannt einen packenden historischen Bogen – kenntnisreich, liebevoll, aber niemals rührselig – vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis in die Gegenwart, schildert einen Ausschnitt deutscher Nachkriegsgeschichte mit feiner Ironie, jedoch messerscharf, legt dabei auch das Innerste ihrer Figuren bloß, ohne sie aber zu verletzen.


    Ein in jeder Hinsicht beeindruckendes Buch über menschliche Schwächen, über Fatalismus, über Schuld und Schulden, aber auch über die Lust am Leben und die Macht der Duldsamkeit. Dörte Hansen erzählt uns etwas über Vergänglichkeit, vorgeführt an den Menschen im Mikrokosmos eines nordfriesischen Dorfes, das genauso gut die ganze Welt sein könnte.

    Literatur zum Niederknien. „Mittagsstunde“ trifft mit der Wucht der großen Erzählung und berührt tief.


    Dörte Hansen – MITTAGSSTUNDE

    Penguin Verlag 2018



  • Altes Land ist ein außergewöhnlich guter Roman, originell und unterhaltsam.

    Mittagsstunde aber ist der ganz große Wurf. Denis Scheck nannte es ein literarisches Ereignis. Und er hat recht. Sowas gibt´s nur sehr, sehr selten. Und gerade wenn man selbst ein Autor mit hohem stilistischen Anspruch an die eigene Arbeit ist, erkennt man hier schnell die eigene Unzulänglichkeit.

  • Da das mit dem Buchlink nicht bei jedem zu klappen scheint:


    ASIN/ISBN: 3328600035


    Und danke für den Tipp, Didi. Scheck sagte allerdings auch das hier: "Ihr neuer Roman 'Mittagsstunde' setzt einer untergehenden deutschen Lebensform ein literarisches Denkmal." Mit anderen Worten: Was für Nostalgiker. ;)

  • Scheck sagte allerdings auch das hier: "Ihr neuer Roman 'Mittagsstunde' setzt einer unter gehenden deutschen Lebensform ein literarisches Denkmal." Mit anderen Worten: Was für Nostalgiker. ;)

    Nun einmal zu dem Irrtum, man könne aus den o. a. Worten Denis Schecks schließen, der Roman sei etwas für Nostalgiker: Dem ist nicht so. Er ist sogar alles andere als rückwärts gewandt. Tatsächlich erzählt Dörte Hansen vom Untergang überkommener dörflicher Wirtschafts- und Sozialstrukturen, aber ohne diese auch nur ansatzweise zu verklären oder den Wandel gar zu beweinen. Vielmehr zeigt sie schonungslos die Beschränktheit der über Generationen in dörflicher Isolation lebenden Menschen auf, erzählt von deren erschreckender Bildungsfeindlichkeit und legt gnadenlos die archaischen Regeln des Zusammenlebens in diesem Mikrokosmos offen.


    Die o. a. Formulierung des Herrn Scheck ist auch insoweit unglücklich, als es sich gar nicht um eine typisch deutsche Lebensform handelt, deren Untergang da erzählt wird, sondern ein überall in modernen (Industrie-)Gesellschaften anzutreffender Strukturwandel. Schlicht der nämlich von der Kleinbäuerlichkeit zur industriellen Landwirtschaft. Wobei Dörte Hansen die wirtschaftlichen oder agrartechnischen Hintergründe dieses Wandels nicht sonderlich interessieren, sondern das, was er mit den Menschen macht, die sich viel zu lange geweigert haben, ihn kommen zu sehen.


    Und genau deshalb schrieb ich ja, dies sei "ein Buch über menschliche Schwächen, über Fatalismus, über Schuld und Schulden, aber auch über die Lust am Leben und die Macht der Duldsamkeit. Dörte Hansen erzählt uns etwas über Vergänglichkeit, vorgeführt an den Menschen im Mikrokosmos eines nordfriesischen Dorfes, das genauso gut die ganze Welt sein könnte." Es geht also ausdrücklich nicht um einen nostalgischen Nekrolog auf untergegangene Lebensformen - egal, was Herr Scheck da sagen mag -, sondern um Menschen und ihr Leben oder Sterben im und mit dem Wandel, den sie überwiegend nicht zu fassen vermögen. Ein literarisches Denkmal setzt Dörte Hansen tatsächlich, allerdings den vielschichtig überforderten Menschen unserer Zeit. Ein sehr modernes Thema also, nicht etwa ein nostalgisches.

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