Celeste Ng: Kleine Feuer überall

  • Amerikanisches Idyll



    Shaker Heights am Rand von Cleveland ist ein Mustervorort, ein Idyll, wie es im Buche steht - aber auch ein Ort, an dem klare Regeln gelten. Wenn der Rasen zu lange nicht mehr gemäht wurde, gibt es freundliche, aber bestimmte Mahnungen von der Gemeinde, und für all die prächtigen Häuser, in denen gutsituierte Familien wohnen, gelten strikte Bestimmungen, was die Außenfarbe und die Renovierungszyklen anbetrifft. Die Straßen sind kurvenreich, um schnelles Fahren zu unterbinden, die Begrünung ist großzügig und die Infrastruktur perfekt. Die öffentlichen Schulen gehören zu den besten in den Staaten.


    Ein traumhafter Ort für Caroline Richardson, die von Kindheit an nicht nur in Shaker Heights, sondern auch in den Gedanken an eine wohlgeordnete, reglementierte Welt verliebt war. Mrs Richardson glaubt fest an Regeln und ihre Einhaltung, aber auch an ein System des ausgleichenden Gebens und Nehmens. Ihren eigenen Wohlstand empfindet sie durchaus als Verantwortung, die sie nicht nur als Reporterin für das regionale Blatt wahrnimmt, sondern auch dadurch, dass sie die beiden Wohnungen im Zweithaus der Richardsons günstig an Menschen vermietet, die ihr bedürftig und förderungswürdig erscheinen. Und so kommt es, dass eines Tages in den späten Neunzigern die Künstlerin Mia Warren und ihre fünfzehn Jahre alte Tochter Pearl nach Shaker Heights ziehen. Die alleinerziehende Mutter und ihr Kind haben vorher sage und schreibe sechsundvierzig Wohnorte gehabt, aber dieses Mal, verspricht Mia ihrer Tochter, soll es für länger sein, vielleicht sogar für immer.


    Mrs Richardson, die eigentlich richtige Journalistin werden wollte, aber beim örtlichen Blatt immerhin nur über nette Themen schreiben muss, hat mit ihrem Mann, der Anwalt ist, vier Kinder, die im Abstand von jeweils einem Jahr geboren wurden. Drei davon sind wohlgeraten: Die hübschkluge Lexie, der sportliche Trip und der nachdenkliche, wissbegierige Moody. Nur Izzy, die eigentlich Isabell heißt, fügt sich nicht so recht in das Muster ein. Izzy ist eigenbrötlerisch, aufmüpfig, nachdenklich. Dass diese Eigenschaften in der Hauptsache der Kontrollwut der Mutter entspringen - Izzy war ein Frühchen -, ist dieser nicht bewusst. Mrs Richardson ist fest davon überzeugt, immer das Richtige zu tun - denn darum geht es schließlich, davon ist sie felsenfest überzeugt.


    Die völlig unterschiedlichen Lebensentwürfe der Warrens und der Richardsons prallen nicht gerade aufeinander - es ist eher eine langsame, fast gemächliche Kollision, die dafür umso wirksamer und nachhaltiger ausfällt. Während sich Pearl mit Moody anfreundet und die beiden mit der Zeit etwas entdecken, das einer Wesensverwandtschaft sehr nahe kommt, verliebt sich Trip in die eigenartige, schlaue und auf ungewöhnliche Art attraktive Tochter der Mieterin. Die rebellische Izzy findet in Mia, die eine äußerst begabte Fotografin ist, eine Mentorin und ein Vorbild. Parallel zu diesen und den ziemlich dramatischen Entwicklungen um das Kind einer Freundin von Mrs Richardson erzählt Celeste Ng die Hintergründe und Vorgeschichten ihrer präzise gezeichneten Figuren.


    Dieser bemerkenswerte und nahezu perfekt komponierte Roman beginnt damit, dass die Warrens wieder aus Shaker Heights wegziehen, während das Haus der Richardsons abbrennt, verursacht durch mehrere kleine Feuer, die Izzy in den sechs Schlafzimmern gelegt hat. Erst anschließend erfährt man, wie es dazu kommen konnte, wie sich die Lebensentwürfe vermischten und die Paradigmen kollidierten. Und das ist schlicht großartig gemacht. Celeste Ng (sprich: Ing) ist eine starke Erzählerin, die vor allem die emotionale Interaktion ihrer Figuren, das Gefühlsgewebe und dessen Ursachen ungeheuer anschaulich wiedergibt. "Kleine Feuer überall" ist auf recht leise Art dramatisch, dazu spannend, äußerst klug und sehr ergreifend geschrieben. Man freundet sich mit dem Personal dieses tollen Romans schnell an, der ziemlich subtil Elitarismus, Rassismus, den irrationalen Mikrokosmos der (nicht nur) amerikanischen weißen Mittelschicht und die elementaren Probleme des menschlichen Miteinanders thematisiert. Strikte Leseempfehlung!


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  • Danke, Tom! :blume


    Ich habe kürzlich "Was ich euch nicht erzählte" gelesen, mit allergrößter Hochachtung für Celeste Ng. Deinen Kommentar über sie teile ich, die Frau kann großartig erzählen - leise, klug, ergreifend. Über ihren zweiten Roman hatte ich noch nicht viel Gutes gelesen, aber nach deiner Rezension werde ich mir sehr gern ein eigenes Urteil bilden.

  • Ja, hat mir auch gefallen. Nur das Ende, im Speziellen im Zusammenhang mit Pearl, erschien mir nicht recht glaubwürdig. Mia war mir auch einen Tacken zu perfekt auf ihre Weise. Und man muss sich natürlich darauf einlassen, dass es durch und durch amerikanisch ist. Schön auch, wie die Figuren nicht in Klischeeschubladen gepresst wurden und die Geschichte nicht "aufgeregt" erzählt wurde, sich alles selbstverständlich entwickelt.

  • Nicht nur "The Handmaid's Tale", auch "Little Fires Everywhere" gibt es bei Amazon (als Eigenproduktion) zu sehen. Die Handlung weicht in manchen Details vom Roman ab. Was mir besser gefällt - sofern man sich hier überhaupt entscheiden muss - weiß ich noch nicht, denn den Roman habe ich erst angefangen. Auf jeden Fall erscheinen mir die Charaktere in der Serie etwas, sagen wir mal, deutlicher - wenn nicht sogar überbetont - was sich z. B. in der Haltung von Caroline Richardson gegenüber ihrer Tochter Isabell/Izzy ausdrückt. Izzy war ein Nachzügler und der Mutter in ihrer Karriere im Weg, daher die Ablehnung. Außerdem gibt es eine Jugendliebe der Mutter, die mir jedenfalls bisher im Roman noch nicht begegnet ist, ein weiterer Punkt, der den Zuschauer darauf stößt: dieses zur Schau gestellte Glück ist nicht echt! Lexie kupfert bei der klügeren Pearl ab ... - Auf jeden Fall hat mich die Serie bewogen, den Roman zu lesen. Gut gespielt finde ich sie auf jeden Fall - besonders auch von Kerry Washington in der Rolle der Mia. Die Serie ist routiniert gemacht, vielleicht ein bisschen zu glatt. Subtil ist anders. Trotzdem: sehenswert.