Wir Kinder um die Fünfzig

  • Der Satz, der mir in Katja Werheids Buch „Nicht mehr wie immer“ am meisten in Erinnerung geblieben ist, besagt, dass viele Menschen heute erst richtig erwachsen werden, wenn die eigenen Eltern gestorben sind. Das mag sträflich aus dem Zusammenhang gerissen sein; ich erlaube es mir, weil es mir nicht in erster Linie um das Buch geht.
    In einem Amazon-Podcast aus der Reihe „Ein Satz für Zwei“, nämlich „Die Autorin und der Tod, Teil 2“, unterhalten sich zwei Journalisten (Hendrik Schröder und Christoph Schrag) über Judith Kerrs Aussage, natürlich bereit zu sein zu sterben – ob das überhaupt möglich sei und darüber hinaus, was es mit dem Sterben in Deutschland auf sich habe. Die Aussage, die sich mir hier am meisten eingeprägt hat: dass es heutzutage doch schier unmöglich sei, das Sterben der Eltern zu begleiten, der Beruf, die Entfernung. Und dass die Sterbebegleitung deshalb weiter professionalisiert gehöre.


    Auch wenn es kontrovers zugehen soll in so einem Format, auch wenn ich die Richtigkeit der Aussage nicht bezweifle – heutzutage zieht es Kinder weiter in die Welt hinaus als früher, heutzutage sind beide, Mann und Frau, beruflich eingespannt, und der Tod lässt sich nun mal nicht in Terminkalender eintragen, Sterben kann plötzlich, unerwartet passieren oder sich über Monate hinziehen, zählt man die immer weiter um sich greifende Gebrechlichkeit hinzu, die manche Krankheiten mit sich bringt, über Jahre. Trotzdem: Ein Unbehagen bleibt. Keines, das sich aus einer „ein reines Gewissen schaffenden“ anderen Erfahrung speist.


    Ein Großteil der Deutschen, so sagen es jedenfalls Statistiken, will in den eigenen vier Wänden sterben. Den wenigsten gelingt das. Aber weder im Krankenhaus noch im Pflegeheim ist man aufs Sterben sonderlich gut vorbereitet – obwohl dort am meisten gestorben wird. Die Gründe dafür sind allen bekannt. Man kann mit einem weinenden Auge auf skandinavische Verhältnisse schielen, nutzt aber auch nix. Hierzulande ist das Pflegepersonal so überlastet, dass niemand Sterbenden so zur Seite stehen kann, wie man es sich vielleicht selbst wünschen würde. Hospizplätze? Gibt es zu wenige. Ehrenamtliche Sterbebegleiter? Können das auch nicht jahrzehntelang schultern. Nachwuchs? Ich vermute, es gibt angenehmere, leichtere Ehrenämter …


    Ich bin – ich wünschte, es wäre anders – womöglich so ein „Kind um die Fünfzig“. Besser vorbereitet, Papierkram zu bewältigen, schlechter, praktische, pflegerische Hilfe zu leisten. Als meine Großeltern starben, der Großvater zu Hause, die Großmutter im Krankenhaus, hatte ich ihre zunehmende Hinfälligkeit zwar über Jahre hinweg aus allernächster Nähe miterlebt, das Sterben selbst wurde allerdings von mir ferngehalten. Das auszuhalten, lag auf den Schultern der Mutter, die beide Elternteile gleichzeitig gepflegt hatte (ohne Pflegedienst, ohne staatliche Unterstützung). Und nun, da sich die Verhältnisse umkehren, die Eltern werden immer unselbständiger, Entscheidungen müssen irgendwann von den Kindern für die Eltern getroffen werden, greife ich zu einem Buch wie dem eingangs genannten (Untertitel: „Wie wir unsere Eltern im Alter begleiten können – Ein Wegweiser für erwachsene Kinder“ – wobei sich der/die Cover-Illustrator/-in wohl auch besonders vom „Kindlichen“ hat leiten lassen), bin hinterher auch nicht sonderlich schlauer, alles nicht neu, denke mir aber: Meine Mutter, damals Mitte Vierzig, war, obwohl es weniger Hilfe von außen gab, besser gerüstet für so eine Aufgabe als ich es heute bin. Das kann am Unterschied zwischen den Generationen liegen, muss es aber nicht. (Ohne die vielen Menschen, die heute ihre Angehörigen pflegen, bräche das System vollends zusammen.) Wenn aber schon Leitfäden dafür geschrieben werden, scheine ich zumindest kein Einzelfall zu sein …

    Und so empfinde ich ein Unbehagen, dass da irgendetwas falsch läuft, wenn es so ist, dass Söhne und Töchter die Eltern beim Sterben alleine lassen (müssen). Wer im Leben ein gutes Verhältnis zu den Eltern hatte, muss der nicht am Ende zumindest alles daran setzen, im Sterben an der Seite der Eltern sein zu wollen …? Auch, wenn es eine elende Pflicht ist? Macht man es sich nicht zu einfach, sich dem zu entziehen, der Beruf, die Entfernung? Oder ist mein Unbehagen von Blauäugigkeit gespeist? Selbstgerechter Blauäugigkeit, es anders machen zu wollen, um am Ende dann doch erleichtert auf „professionelle Sterbebegleitung“ zurückzugreifen? Mag sein … Muss man sich – um das Thema wieder auf die allgemeine Ebene zu bringen – damit abfinden, weil sich die Zeiten eben geändert haben? Ist es heute ganz normal, nur zur Beerdigung zu erscheinen? Ist das heute einfach so …?

  • Hallo, Petra.


    Viele Dinge, über die man sich Gedanken machen kann und sollte - nicht zuletzt auch für sich selbst, denn innerhalb der nächsten 30 Jahre wird es irgendwann so weit sein, und möglicherweise früher, als man denkt.


    Aber das Sterben in einer Pflegesituation, möglicherweise noch in einer Palliativpflegesituation, ist - zum Glück - nicht der Normalfall. Bei den meisten geht der Prozess vergleichsweise schnell. Jemand aus meinem Familienumfeld ist kürzlich im sehr hohen Alter innerhalb weniger Tage krebsbedingt verstorben, aber die körperliche Verfassung war kurz vorher noch sehr gut. Es war, als wäre ein wichtiger Schalter langsam umgelegt worden.


    Zitat

    Wer im Leben ein gutes Verhältnis zu den Eltern hatte, muss der nicht am Ende zumindest alles daran setzen, im Sterben an der Seite der Eltern sein zu wollen …?


    Es ist ja nicht im Sterben; das Sterben steht erst ganz am Ende dieses manchmal monate-, jahrelangen Vorgangs. Es ist: in der Pflegebedürftigkeit. In der Abhängigkeit. In der Umkehrsituation - diejenigen, die einen früher beschützt und versorgt haben, sind nun selbst schutzbedürftig und müssen umsorgt werden. Und das in einer Leistungsdruckgesellschaft, in der alle Erwachsenen in Vollzeit arbeiten - und sich in ihrer spärlichen Freizeit weiter optimieren. Aber das ist ein anderes Thema. Die Antwort auf Deine sehr persönliche Frage ist auch eine sehr persönliche. Nicht wenige Freunde und Verwandte von mir sind bereits gestorben, einige sehr jung, andere trotzdem zu früh. Diejenigen, die ich im Sterben etwas begleiten konnte, sind mir anders in Erinnerung als die anderen. Ich habe vor Jahrzehnten meinen besten Freund sehr lange begleitet; er starb an den Folgen seiner HIV-Infektion. Ich erinnere mich sehr gut und viel zu plastisch an einen gemeinsamen Einkauf bei Karstadt, er brauchte neue Hosen. Das war drei oder vier Wochen vor seinem Tod. Da hatte er schon keine Zähne mehr im Mund, die Wangen waren extrem eingefallen, die Haare schütter, sein Gewicht lang weit unter 50 kg - neben all den Infektionen hatten ihn die Tumore fest im Griff. Es hat ihm die Zeit bis zum Tod möglicherweise, sogar wahrscheinlich ein kleines bisschen erleichtert, dass viele Freunde um ihn herum waren, aber für mich ganz persönlich war es fürchterlich, seine nackten, dürren, verwundeten Beine in diesen schlackernden Hosen zu sehen. Beinahe unerträglich. Ich hatte viel Verständnis für die anderen Freunde, die sich zurückgezogen haben, weil sie das nicht miterleben wollten. Es ist ein Prozess, der einen Menschen sehr schnell sehr stark verändert, einen Menschen, den wir als anderen kennen- und liebengelernt haben. Das ist nicht unbedingt das Argument, das Leute vortragen würden, die sich nicht um ihre sterbenden Eltern kümmern oder kümmern wollen, aber es wäre meines. Zum Glück wird sich mir diese Frage nicht mehr stellen.

  • Ich mach mal die andere Seite auf: Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich alleine sterben werde und habe dies auch verinnerlicht. Wenn meine Kinder da sind- sehr tröstlich- aber was weiß ich, wie es kommen könnte. Ich versuche, durchzuhalten, um meinen nun dementen und vielseits kranken Mann zu unterstützen, zu helfen, sein Gedächtnis zu sein, (was ich sehr anstrengend finde), dennoch zu schreiben, alles zu tun, was anfällt. Da er etliche Jahre älter ist, gehe ich mal - statistisch gedacht - davon aus, dass er der erste ist. Da muss ich mich immer wieder neu treten, manches zu klären- aber er vergisst eben, dass wir geklärt haben und so fängt das ungeliebte Thema immer von neuem an. Ich könnte sagen, sein Sohn soll sich auch mal kümmern - aber wenn jemand dafür kein besonderes Empfinden hat, nutzt das auch nichts und ich kann es nicht mehr hören, diese Worte: Das tut mir leid. Bringt gar nix.
    Kinder aber sollen auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihre Eltern nicht begleiten können, ja, vielleicht auch nicht wollen. Das Sterben ist weit weggedrückt, die Pflege - ist immer noch weit entfernt - auch - wenn sie in den Medien mehr und mehr thematisiert wird. Wenn dieser Prozess, trotz Entfernungen wieder näher herangeholt werden kann - würde das Miteinander sehr viel "schuldfreier" beendet.

  • Hallo Tom,
    hallo Monika,


    ja, Tom, es ist eine persönliche Frage, die ich da stelle. Jeder kann zwar selbst entscheiden, wie persönlich er sie beantworten möchte – wenn überhaupt – aber ganz ohne sich aus dem Fenster zu lehnen, geht’s halt auch nicht. Insofern Euch beiden: Danke für die Antwort!
    Altern, Pflege, Sterben, das sind Tabuthemen. Auch wenn man nicht nicht mitbekommen kann, dass die Situation verfahren ist. Gerade jetzt, und wenn sich nicht bald was ändert, wird’s eher schlimmer, wenn unsere Generation an der Reihe ist. (Natürlich kann es auch ganz anders kommen, aber ich gehe mal davon aus, heute eher nicht vom Bus überfahren zu werden …)


    Du hast wahrscheinlich Recht, dass die meisten Menschen eher einen kurzen Leidensweg haben. Ich habe womöglich einen Tunnelblick – in meiner Familie macht man eher die andere Erfahrung. Und wenn man sich mit dem Thema Pflege auseinandersetzt, kommen die, die „leicht“ (also in dem Fall womöglich auch zu früh, aber ohne langes Leiden) gegangen sind, halt auch nicht vor.
    Ich habe mir in den Urlaub einen alten „Spiegel“ von Anfang des Jahres mitgenommen, der mit dem Thema Pflege titelt – man könnte sagen, mit Abstand liest es sich leichter. Dort steht zu lesen, dass die Situation in Altenheimen sich gewandelt hat. Gingen früher noch eher durchaus rüstige Rentner „ins Heim“, sind es heute viel gebrechlichere Alte, entweder körperlich krank oder durch Demenzen nicht mehr in der Lage, alleine zurechtzukommen, solche also, die es sich nicht aussuchen können. Man entscheiden sich nicht mehr (vornehmlich) für das Heim, um einen Rundumservice zu genießen oder Gesellschaft zu haben, sondern, weil es nicht mehr anders geht. So werden immer mehr Stationen zu reinen Pflegestationen, die früher auf selbständigere Bewohner ausgelegt waren. Und so sind Heim oder Akutkrankenhaus oft die letzten Stationen vieler alter, kranker Menschen.


    Ich vermische hier auch zwei Dinge – die Pflege und das Sterben. Es fällt allerdings auch schwer, es nicht zu tun. Und wenn man bedenkt, dass viele erwachsene Kinder heute weit entfernt von den Eltern leben, ist nicht nur die Pflege für viele ein Ding der Unmöglichkeit, sondern auch die Begleitung in der letzten Lebensphase. Ich verstehe das. Ich behaupte nicht, es *müsste* anders sein. Es stellt sich nur das beschriebene Unbehagen ein. Kann doch nicht sein, denke ich – wer im Leben ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern hatte, „muss“ da sein; ich meine das nicht einmal vom einem hehren moralischen Standpunkt aus, ich kann es mir nur gar nicht anders vorstellen. Es ist vielleicht, wie Du, Tom, in Bezug auf Deinen Freund schreibst, wie die Wahl zwischen Pest und Cholera: Man will sich’s eigentlich ersparen, so nah dabei zu sein, aber wenn man’s täte, wäre es auch nicht gut.


    Niemand möchte seinen Kindern eine Last sein, das versteht sich von selbst. Ich habe keine Kinder, Monika, von daher stellt sich mir diese Frage auch gar nicht. Wie wird es also später bei mir sein? Hm … Die geburtenstarken Jahrgänge, Fortschritte in der Medizin etc., machen die Aussichten auch nicht sonniger. Also: Solange durchhalten wie’s geht, und sobald auffällt, dass es eigentlich nicht mehr geht: Pflegeheim. Wahrscheinlich. Oder eine Kraft aus Osteuropa, die dafür die eigenen Eltern alleine lässt …? Pest und Cholera. Oder halt doch als zufriedene Rentnerin im Liegestuhl, einen bunten Cocktail in der Hand, zack bumm aus? Hm. Man weiß nicht, was einem beschieden ist. Auch ein Trost. Bleibt nur, vorzubereiten, was vorzubereiten geht (Vollmachten erteilen, zum Beispiel).


    Viele Grüße,
    Petra

  • Hallo Petra,


    in meinem Beitrag ging es um meinen verstorbenen Mann. Nachdem ich den Text geschrieben und ein paar Minuten online gelassen hatte, habe ich das, was ich dort geschrieben hatte, doch als zu privat empfunden. Um Bloßstellung ging es mir da nicht. Aber es hat eben einen anderen Menschen und vor allem auch eine Zeit in meinem Leben betroffen, die ich als sehr schmerzhaft in Erinnerung behalten habe, dass ich das schließlich doch nicht öffentlich erzählen wollte.