Han Kang: Die Vegetarierin

  • An Yong-Hye ist alles durchschnittlich. Nicht hübsch, nicht hässlich. Ihr Ehemann hegte, als er sie kennenlernte, keine besondere Zuneigung für, aber auch keine Abneigung gegen sie, was sie in seinen Augen zur perfekten Heiratskandidatin machte. Sie bekocht ihren durchschnittlichen Ehemann und ist ihm eine durchschnittlich gute Frau, unauffällig und still, ohne mit ihrer Persönlichkeit groß in Erscheinung zu treten oder mit Eigenheiten für Unmut zu sorgen. Bis sie eines Tages aufhört, Fleisch zu essen. Diese eigentlich als persönliche Freiheit anzunehmende Entscheidung gerät selbst in einem Land, in dem Konformität über allem steht, nicht automatisch zu einem Skandal. Yong-Hyes Entscheidung ist allerdings nicht rein verstandes- und auch nicht rein gefühlsmäßig zu erklären. Yong-Hye driftet zunehmend in eine Parallelwelt ab. Sie meidet bald alles Fleischliche – konsequenterweise schließlich auch den Verkehr mit ihrem Ehemann. Als sie der dominante Vater bei einem gemeinsamen Essen dazu zwingen will, Fleisch zu essen, kippt die Situation vollends. Yong-Hye wird in ein Krankenhaus eingewiesen, in dem sie unangenehm auffällt, indem sie in der Öffentlichkeit ihren Oberkörper entblößt und der Sonne entgegenreckt – wie eine Pflanze, die Photosynthese zum Leben braucht. Yong-Hye will nicht nur kein Fleisch mehr zu sich nehmen, sondern im wahrsten Sinne des Wortes am liebsten selbst eine Pflanze sein. Für ihren Mann ist sie bald untragbar, er lässt sich von ihr scheiden. Dafür entwickelt der Mann ihrer Schwester eine im Keim immer vorhanden gewesene, bis dato in ihrer Wucht aber nie geahnte sexuelle Obsession für seine Schwägerin. Als Video-Künstler auf eingetretenen Pfaden unterwegs, beginnt ihn ihm eine Vision zu entstehen, die darin gipfelt, Yong-Hyes Körper mit Blumenmotiven zu bemalen und sich mit ihr vor der Kamera zu vereinigen. Eine Art Folie à deux bricht sich Bahn – ohne die zumindest im Ansatz wahnhaften Anwandlungen des einen wären die des anderen nicht aus dem Ruder gelaufen.


    Der Roman ist in drei Teile geteilt, von denen jeder von einem anderen Ich-Erzähler erzählt wird: dem Ehemann, dem Schwager, der Schwester. Der Ehemann führt in die Geschichte ein, der Schwager gibt ihr eine entscheidende Wendung, die Schwester erzählt das dramatische Ende, unterfüttert mit Ausflügen in die gemeinsame Kindheit, die zumindest ahnen lassen, wie es in ihrer Schwester aussieht. In Südkorea erschienen diese drei Teile zunächst als separate Novellen. Yong-Hye, die Frau, um die sich alles dreht, an der sich alle reiben, die alle mehr oder weniger in ihre eigenen Abgründe stürzt, hat keine Stimme. Sie selbst kommt nur mit einer Handvoll Sätze zu Wort.


    „Die Vegetarierin“ (ein eher unglücklicher Titel, da zum einen ungenau, zum anderen in eine falsche Richtung deutend) kann im Ansatz als Gesellschaftssatire verstanden werden, sprengt diese Grenze aber sehr schnell. So weist „Die Vegetarierin“ nicht nur skurrile, überspitzte, sondern auch durchaus verstörende Elemente auf. Yong-Hye ist weniger eine Individualistin als eine Getriebene. Der im Original bereits 2007 erschienene Roman der 1970 geborenen Autorin wurde mit dem internationalen Man Booker Prize ausgezeichnet.


    [buch]3746633338[/buch]

  • Ich hatte einen Traum


    fuenfsterne.gif



    Die dreiteilige und nicht sehr lange, mehrfach preisgekrönte Erzählung der südkoreanischen Autorin Han Kang war im Jahr 2016 - neun Jahre nach dem Erstveröffentlichungstermin - auch hierzulande ein Überraschungsbestseller. Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine junge Frau namens Yong-Hye, jene titelgebende Vegetarierin, die mit ihrem Mann in Seoul lebt. Der erste Teil wird aus der Sicht dieses Mannes erzählt, der sie ob ihrer Durchschnittlichkeit als Frau gewählt hat, weil er also damit den gesellschaftlichen Zweck ausfüllen, sich aber vermeintlich nicht allzu sehr um sie bemühen muss. Er nennt sie in diesem Abschnitt meiner Erinnerung nach auch praktisch nie beim Namen, sondern tituliert sie immer nur als „meine (Ehe-)Frau“. Der zweite Teil wird aus der Sicht des Schwagers von Yong-Hye erzählt, der Künstler ist und sich nach seiner Schwägerin verzehrt, und der dritte dann aus der Perspektive der Schwester, also der Ehefrau dieses Schwagers. Yong-Hye kommt zwischendrin kurz zu Wort, aber auch hier bleibt sie, wie im gesamten Buch, eher passiv - jener Traum wird geschildert, der die folgenreiche Entscheidung ausgelöst hat.



    Yong-Hye wird eines Tages, und hiermit beginnt die Geschichte, zur Vegetarierin, vernichtet alle fleischhaltigen oder auf tierischen Produkten basierenden Lebensmittel, dehnt den Verzicht aber auch auf Kleidung und andere Waren aus. Sie verzichtet außerdem auf eine Erklärung, sondern sagt schlicht „Ich hatte einen Traum“, wenn jemand nach ihren Gründen fragt. Mehr sagt sie ohnehin nicht mehr: Sie zieht sich gleichzeitig zurück, emotional und sozial, von ihrem Mann und von allen anderen, und nur als ihr Schwager sie nach und nach diskret davon überzeugt, an seinem Kunstprojekt teilzunehmen, blitzt vorübergehend etwas wie Hoffnung auf, die jedoch missbraucht und schließlich besiegt wird. Denn Yong-Hye scheint zu erkennen, dass es nicht genügt, Vegetarierin zu sein, um passiven Widerstand zu üben - wer sich lösen will und keine anderen Mittel hat, muss den Verzicht auf die Spitze treiben.



    Der in schlichter Sprache, aber eindringlich und auf sehr sachliche Art berührend verfasste Roman erzählt nach meiner Lesart von einer Frau, die den hoffnungslosen Kampf gegen eine strikt patriarchalische, traditionsbasierte und durchritualisierte Gesellschaft auf ihre ganz persönliche Weise aufnimmt. Sie will diesen kathartischen Kampf nicht gewinnen oder andere davon überzeugen, mit ihr zu kämpfen, aber sie will ihn auch nicht verlieren, indem sie sich beugt. Das kostet sie am Ende mehr als alles. Der schmerzhafte und irritierende und zugleich fein erzählte Weg dorthin beleuchtet die Situation und die südkoreanische Gesellschaft sehr detailreich und anschaulich. Wie in wenigen anderen Ländern treffen dort Globalisierung, rasanter technischer Fortschritt, ultramodernes Leben und tradierte, ritualisierte, männlich geprägte Verhaltensmuster in nicht immer sanfter Weise aufeinander.



    Ein Buch, das man nach der Lektüre nicht einfach beiseitelegt. Trotz aller erzählerischen Einfachheit wirkt „Die Vegetarierin“ aber auch literarisch stark nach. Einzig der Aufbau und Verlauf des dritten Teils haben die eine oder andere Irritation ausgelöst, die nicht behoben werden konnte, doch mit diesem kleinen Makel lässt sich gut leben. Auch fünf Jahre nach dem Erfolg und fast fünfzehn Jahre nach dem ersten Erscheinen noch dringend zu empfehlen!

  • Die Vegetarierin (eigentlich Veganerin) ist in der Tat ein sehr drastisches Buch. Ich glaube nicht wie meine VorrednerIn, dass es sich am Anfang um ein rationales Aufbegehren oder Ausbrechen handelte, sondern gleich pathologisch motiviert war. Die Schlüsselstelle war für mich, dass Fleisch verdaut und ausgeschieden wird, die Seelen sich jedoch im Magen verhaken. Eine Verwandlung zur Pflanze (Blume/Baum) wird ihr höchstes Streben. Der Aufbau der verschiedenen Perspektiven ist mE auch recht gut gelungen, hierbei werden nur wenige Abschnitte gleichen Inhalts beschrieben. Gut gefallen hat mir der "über allem" nicht wertende Ton des Buches und der glaubhaft dargestellte Krankheitsverlauf.