Was ist Erzählen (in allgemeinster Definition)?

  • Ist mir gerade unter der Dusche (wo sonst?) eingefallen: Wenn man einem Anfänger erklären sollte, was (fiktives) Erzählen im Gegensatz zu (sachlichem) Beschreiben, Erörtern, Analysieren etc. ist, dann könnte man doch auf allgemeinster Ebene sagen:
    Erzählen ist das Spielen mit dem Vorwissen des Lesers.
    Oder?


    Spielen = absichtslose, auf keinen alltagsnützlichen oder -praktischen Zweck gerichtete Tätigkeit, die einfach nur Spaß machen und einem die Freiheit ahnen lassen (Kant) oder geben (Schiller) soll.
    Vorwissen = Erwartungen, Gefühle, Vorverständnisstruktur etc.
    Leser oder Zuhörer oder Zuschauer

  • Ganz spontan gesagt: Beim Beschreiben, Analysieren etc. ist die innere Logik der Texte eine andere: Da geht es um Sachzusammenhänge, die dargestellt und durchleuchtet werden müssen und die der Leser begreifen soll. Die Logik folgt möglichst der Logik des Beschriebenen, was nicht einfach ist, weil in Wirklichkeit alles komplex ist, Schreiben aber linear.


    Beim Erzählen geht es um andere Zusammenhänge oder Strukturen (mir fällt gerade kein passendes Wort ein). Da gibt es nicht einen Sachverhalt, der möglichst abgebildet oder erörtert werden soll, sondern tausend Möglichkeiten. Die Haltung, mit der gelesen wird, ist dementsprechend auch eine andere - es geht nicht um Information, sondern z.B. um Identifikation (oder innere Abgrenzung), auf jeden Fall weniger um Wissen, mehr um Dabeisein, Miterleben. Das genaue Abbilden ist hier nicht das Ziel, sondern, ja wirklich, das Spiel mit den Erwartungen und Möglichkeiten.

  • Hm. Gute Frage.
    Erzählen in noch allgemeinerer Definition wäre vielleicht eine „Kulturtechnik, die menschliche Gedanken vor dem Orkus bewahrt“.
    Dazu gehörten dann auch Bilder, Architektur und vieles mehr. Ich glaube, gute Sachtexte werden ebenfalls erzählt. Schlechte Sachtexte (die Mehrheit?) versagen sich das Erzählen, es gilt: Je trockener, desto glaubwürdiger. Man kann ja auch erzählend beschreiben/erklären. Bloß, wer zu sehr unterhält, läuft Gefahr, nicht ernst genommen zu werden.


    Jürgen, den zweiten Teil deines Postings finde ich viel spannender. Irgendwie fragst du ja, was denn nun im Kern den Unterschied dieser beiden Textsorten ausmacht. Und das berührt auch die Frage, was eigentlich so eine erfundene Geschichte gut (erzählt) macht.
    Deiner eigene Antwort und auch Christianes Ergänzungen würde ich mich anschließen und vielleicht noch ergänzen, dass es ganz grundlegend um Manipulation geht. Der Belletristik-Leser will emotional bewegt werden, er erwartet, dass seine Gefühle (Vorwissen) manipuliert (bespielt) werden. Wenn dies gelingt, verzeiht er sogar logische Fehler, Unwissen, haarsträubende Plots und seitenweise schlecht geschriebenen Text. Das alles funktioniert, weil der Leser manipuliert werden will. Nein, noch stärker, er sehnt sich danach. Er will die ganzen starken Gefühle erleben. Unbedingt. Er sucht diese Erfahrung geradezu. Und wenn er sie dann findet, fühlt sich das fantastisch an.
    Bei einem Sachtext sucht er sie nicht. Oder zumindest nicht in der gleichen Weise.

  • Geschichten weitergeben.


    So sehe ich das auch. (Wobei "weitergeben" missverständlich sein könnte im Sinn von "tradieren". Vielleicht kann man auch "Geschichten vermitteln" sagen.) Eine Geschichte wiederum ist in allgemeinster Definition für mich das Aristotelische: Anfang - Mitte - Ende.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • … Eine Geschichte wiederum ist in allgemeinster Definition für mich das Aristotelische: Anfang - Mitte - Ende.


    Das ist nur Form!


    Eine Form ohne Inhalt ist aber nichts. Schon gar keine Geschichte.

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Erzählen kann technisch alles mögliche sein. Erzählen geht stumm, mimisch, im reinen Tanz, sogar schweigend und bewegungslos. Und natürlich ausufernd in Schriftform, über tausende von Seiten. Erzählungen können Formen haben und Regeln genügen, müssen sie aber nicht. Derlei wählt man eigentlich nur, um es sich leichter zu machen.


    Erzählen ist für mich so eine Art Mikroklonen. Ich teile etwas von mir ab, ich repliziere einen Teil von mir, ich nehme etwas von mir und gebe es hinaus in die Welt. Wenn man erzählt, multipliziert man sein Selbst, und dabei ist nahezu irrelevant, wie stark direkt-autobiografisch das ist, was man erzählt. Man vermittelt sich, seine Welt, seine Denkweise und Paradigmen, sein Erleben und Träumen. Man gibt das hinaus zu anderen, zu fremden Menschen, und lässt es wirken.


    Und so ist es umgekehrt auch, wenn man Erzählungen lauscht. Man erfährt etwas über die Menschen, die erzählen, über ihre Sicht der Welt, über ihre Erfahrungen, Erwartungen, Gedanken und Träume. Man bekommt eine Ahnung davon, wie vielfältig das ist, wie unterschiedlich und zugleich einend.


    Erzählen ist ein Gespräch, bei dem nur einer spricht, deshalb heißt das, was wir tun, übrigens auch Unterhaltung. Erzählen ist ein Gespräch, bei dem nur einer spricht, und zwar über sich selbst, und daran kann diese Person nichts ändern, was nicht heißt, dass sie es nicht steuern oder manipulativ gestalten könnte, aber selbst das ist immer verräterisch.


    Eigentlich erzählen wir auch immer, wenn wir miteinander reden. Die Übergänge sind fließend.

  • Erzählen ist die mithilfe eines Zeichensystems (Schrift, Bild) vorgenommene und an bestimmten inhaltlichen Gesetzen (kausale Zusammenhänge; Konflikt; "Erzählmaus": Einleitung - Hauptteil mit Höhepunkt - Schluss; Cliffhanger usw.) und sprachlichen Gesetzen (s. Textlinguistik, Rhetorik) orientierte Wiedergabe von realen oder nichtrealen Geschehnissen (oder einer Kombination aus beiden).

    Non quia difficilia sunt, multa non audemus, sed quia non audemus, multa difficilia sunt. Seneca
    [Nicht weil es schwierig ist, wagen wir vieles nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist vieles schwierig.]

  • Meine Antwort auf die Frage, was Erzählen (in allgemeinster Definition) ist, würde in einer ersten und spontanen Annäherung so lauten:

    „Erzählen ist die Kunst, den Film in meinem Kopf (möglichst verlustfrei durch das Nadelöhr des Schreibens) in den Kopf eines anderen Menschen zu bringen.“


    Wobei der Film erst während des Lesens im Kopf des Lesers seine endgültige Fassung erhält, was jedes gelesene Buchexemplar zu einem Unikat macht.

    Wesentlich für eine gut erzählte Geschichte ist es, die Geschichte mit so vielen Anreizen auszustatten, dass sie die Lesenden zum „Spielen“ animiert und ihnen auch die dazu nötigen Freiräume zu lassen.


    An dem Punkt trennt sich dann auch die Spreu vom Weizen, beginne ich als Leser zu unterscheiden zwischen guten Erzählern und Erzählerinnen sowie Autor(innen), die mich zwar möglicherweise mit ihrer Sprachkunst beeindrucken, die ansonsten aber nicht viel zu sagen haben, weil sie mit ihren „Geschichten“ vornehmlich um ihre eigene Befindlichkeit und den eigenen Lebensraum kreisen oder sie es erkennbar darauf anlegen zu belehren, zu missionieren, zu moralisieren.

    Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich so sehr zu angelsächsischen Autor(innen) hingezogen fühle, sie für mich oft auch eine Vorbildfunktion haben. Denen scheint die Gabe der Erzählkunst deutlich häufiger in die Wiege gelegt worden zu sein, zu der für mich auch eine gewisse Leichtigkeit und Lakonie gehören, auch und gerade im Umgang mit „schwierigen“ Stoffen.

  • ... vornehmlich um ihre eigene Befindlichkeit und den eigenen Lebensraum kreisen oder sie es erkennbar darauf anlegen zu belehren, zu missionieren, zu moralisieren.

    Vielleicht ist das der Grund, warum ich mich so sehr zu angelsächsischen Autor(innen) hingezogen fühle

    Wobei Leute wie Updike, Roth, Irving* und so weiter lebenslang nichts anders getan haben, als um ihren unmittelbaren und oft verblüffend begrenzten Lebensraum zu kreisen. Weil der ergiebig genug war.


    Ich habe dezente Zweifel daran, ob das mit den Filmen in den Köpfen überhaupt stimmt. Wenn das so wäre, wäre es sehr einfach. Ist es aber nicht.


    (* die ich bewundere)

  • Ich habe dezente Zweifel daran, ob das mit den Filmen in den Köpfen überhaupt stimmt. Wenn das so wäre, wäre es sehr einfach. Ist es aber nicht.

    Wohl niemand, der je den ernsthaften Versuch unternommen hat, schreibend eine gut lesbare und zugleich lesenswerte Geschichte zu erzählen, wird Letzteres bezweifeln. Aber inwiefern sollte das einfach sein, solange es „nur“ darum ginge, einem anderen Menschen den Film im Kopf auf überzeugende Weise zu vermitteln? Und was wären dann die „echten“ Schwierigkeiten?

  • „Erzählen ist die Kunst, den Film in meinem Kopf (möglichst verlustfrei durch das Nadelöhr des Schreibens) in den Kopf eines anderen Menschen zu bringen.“

    Nun, es stellt sich bei dieser Definition zuerst die Frage, wie Du prüfen willst, ob der Film aus Deinem Kopf "verlustfrei" im anderen Kopf angekommen ist. Da man als Autor nur ungefähr jeden, äh, zehnten Leser kennenlernt, fällt das schon aus statistischen Gründen aus, aber noch schwieriger ist es, überhaupt einen Vergleich anzustellen, was nicht einmal möglich wäre, ließen die Leser den physischen Blick in den Kopf zu, etwa mit Hilfe chirurgischer Techniken. Und gäbe es diesen Film im Kopf überhaupt, hier wie da, wäre die Phrase vom Kopfkino also Wirklichkeit, dann müsste man ja "nur" schildern, was man im eigenen Kopf sieht, es also möglichst präzise wiedergeben und beschreiben, oder sogar, äh, davon berichten. Aber Kino oder Filme sind audiovisuelle Ereignisse, doch das Schreiben und das Lesen sind viel, viel mehr als nur das, denn sie ersetzen genau diese sinnlichen Eindrücke durch das, was unsere Fantasie aus den Worten der Erzählung macht. Und das, was das Lesen mit sich bringt, ist weit mehr als das, was Bilder und Töne auslösen können. Oder anders oder beides. Dieser Vergleich, diese Phrase wird so oft gebracht, aber davon wird sie auch nicht wahrer. Wenn wir ins Kino gehen, sehen wir alle genau den gleichen Film. Aber wenn wir ein Buch lesen, "sehen" wir dabei selten das gleiche.


    Und Filme (ob Kopfkino oder echtes Kino) müssen keine Erzählungen sein. Nicht einmal alle Spielfilme sind Erzählungen.

  • … Wenn wir ins Kino gehen, sehen wir alle genau den gleichen Film. Aber wenn wir ein Buch lesen, "sehen" wir dabei selten das gleiche.

    Wir lesen aber alle den gleichen Text. :-)


    Wenn man mit verschiedenen Menschen über einen Film spricht, den sie gerade gesehen haben, stellt sich durchaus manchmal die Frage, ob alle den gleichen Film gesehen haben.


    Jeder Film-sehende und Buch-lesende betrachtet die Erzählung aus seiner eigenen Perspektive und von seinem eigenen Standpunkt aus und nimmt die Manipulationen der Autoren/Filmmacher unterschiedlich auf. Bei allen Unterschieden sind doch diese Gemeinsamkeiten - oder vielleicht besser: Schwierigkeiten vorhanden, wenn man daran geht eine Erzählung (ob als Film oder Buch) fertig zu stellen. Erreicht die Erzählung die Zuschauer/Leser so, wie AutorIn/FilmemacherIn sich das vorstellt?

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    Emanuel von Bodmann


  • Für meine Person möchte ich Jürgen P. bestätigen: In meinem Kopf habe ich zu allen Wahrnehmungen und eigenen Gedanken Bilder im Kopf. Und meine Probleme entstehen stehts dadurch, dass ich mich ständig fragen muss, ob ich den Film richtig verstanden habe, oder gar im falschen Film bin. Das ist vielleicht eine Frage des Niveaus: ich war zeitlebens ein Comic-Fan.

    Es gibt nichts Vollkommenes unter der Sonne und es wäre töricht, dieses zu beanspruchen! (Lou Andreas Salomé)

  • Dieser Vergleich, diese Phrase wird so oft gebracht, aber davon wird sie auch nicht wahrer.

    Was du Phrase nennst, begreife ich als Metapher, aber offensichtlich ist es eine schlecht gewählte Metapher, wie mir mittlerweile scheint. Denn natürlich geht es um deutlich mehr, als einen „Film“ in meinem Kopf so zu „schildern“, dass er verlustfrei im Kopf des anderen ankommt. Das ist zum einen unmöglich, weshalb ich ja auch vorsorglich „möglichst verlustfrei“ geschrieben habe. Und zum anderen wird es ebenso wenig möglich sein, auch nur annähernd zu evaluieren, was genau in welchem Ausmaß und auf welche Weise im Kopf des anderen angekommen ist. Insofern, ja, hätte ich meine Gedanken sorgfältiger formulieren müssen.

    Aber Kino oder Filme sind audiovisuelle Ereignisse, doch das Schreiben und das Lesen sind viel, viel mehr als nur das, denn sie ersetzen genau diese sinnlichen Eindrücke durch das, was unsere Fantasie aus den Worten der Erzählung macht.

    Genau deshalb habe ich ja auch vom Nadelöhr des Schreibens gesprochen, durch das ich dieses Universum sinnlicher Wahrnehmung, diese Abfolge von Bildern, Klängen, Gerüchen, das Fühlen und Denken der Romanfiguren, deren Ängste und Hoffnungen zu bewegen versuche, um die Voraussetzungen dafür zu erhalten, dass im Kopf des anderen dieses Universum wieder lebendig werden kann, nicht als eine schlechte Kopie oder gar als Wiedergänger meines Universums, sondern genau so lebendig, „sinnlich“ und detailreich, mit diesem deshalb aber auch niemals identisch sein kann, sondern diesem nur mehr oder weniger ähnlich, denn die Rolle von Leserin oder Leser bleibt nie auf die eines ausschließlich passiven Konsumenten beschränkt. Was wiederum bedeutet, dass ausgehend von einer Definition des Erzählens als dem Spielen mit dem „Vorwissen“ des Lesers diese Definition zuletzt doch ein wenig weiter zu fassen ist, denn meine Kenntnis dieses „Vorwissens“ ist selbst im besten Falle dann doch allzu lückenhaft, ist dieses „Vorwissen“ überdies sehr stark beeinflusst von der Biografie des Lesers, die ich nicht kennen kann. Aber gerade das macht die Sache wieder spannend. Und schwierig.

    Jeder Film-sehende und Buch-lesende betrachtet die Erzählung aus seiner eigenen Perspektive und von seinem eigenen Standpunkt aus und nimmt die Manipulationen der Autoren/Filmmacher unterschiedlich auf.

    Und doch erfordert das eine aktive Beteiligung, ein „Mitspielen“ von Leserin und Leser, kann erst dadurch eine aktive und letztendlich auch kreative Beteiligung die Lebendigkeit und Sinnlichkeit einer Geschichte bewahrt werden und ist erst in der spezifischen Rezeption eine Geschichte zu Ende erzählt.


    Für den Musikjournalisten Joachim Ernst Berendt ist Lesen verinnerlichtes Hören. Soll heißen: ... ist Sehen, Riechen, Schmecken, Fühlen und tausend und eine weitere Wahrnehmung.

    Und das, was das Lesen mit sich bringt, ist weit mehr als das, was Bilder und Töne auslösen können. Oder anders oder beides.

    Kein Einspruch.