Der Schriftsteller Uwe Tellkamp ist ein AfD-Sympathisant

  • ... so titelt die FAZ. Ja, der Tellkamp mit dem "Turm". Der Artikel ist allerdings kostenpflichtig. Der SPIEGEL überschreibt mit: "Suhrkamp distanziert sich von Autor Uwe Tellkamp". Man will ihn aber weiterhin verlegen. Ob Götz Kubitscheks Antaios-Verlag wohl auch schon Interesse angemeldet hat?

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Der Tagesspiegel ordnet das Thema in den Zusammenhang der Leipziger Buchmesse ein und wundert sich, dass Suhrkamp sich nicht ebenfalls von Peter Handke und Sibylle Lewitscharoff distanziert hat.


    Man darf nicht einmal mehr mit der Meinung irgendeiner bestimmten Partei sympathisieren, ohne Gefahr zu laufen, gleich geächtet zu werden?


    Lieber Sören, wie stündest Du dazu, wenn Tellkamp in die AfD eingetreten und dann "geächtet" worden wäre? Wäre das verständlicher?

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Inzwischen berichten scheinbar alle Zeitungen über den Fall. Ich kann aber nirgendwo finden, woran nun genau die enge Verbindung zur AFD festgemacht wird. Meistens wird erwähnt, dass Uwe Tellkamp in einer Podiumsdiskussion mit Durs Grünbein in Dresden gesagt habe, die meisten Flüchtlinge würden nicht vor Krieg und Verfolgung fliehen, sondern 95 Prozent kämen hierher um in die Sozialsysteme einzuwandern. Soll so ein Satz ernsthaft ausreichen, um jemanden der AFD zuzuordnen? Die Zahl von 95 % ist sicher zu hoch, das ist Polemik. Dann kann man ihm widersprechen oder ihn fragen, wie er auf die Zahl kommt. Aber dieses Skandal, der jetzt gemacht wird, bestätigt doch witzigerweise sogar Tellkamps Unterstellung von der "Gesinnungsdiktatur", die er nach den Ereignissen auf der Frankfurter Buchmesse erkennen wollte. Wenn jemand unangenehmen rechten Argumenten nichts anderes als ein Verbot entgegensetzen kann, dann kann er meiner Meinung nach gleich einpacken.

  • Hier eine gute Zusammenfassung der Diskussion zwischen Tellkamp und Grünbein:


    http://www.ardmediathek.de/rad…45138&documentId=50692958


    Es geht nicht nur um die eine Äußerung Tellkamps (von Siegfried zitiert), sondern um einige Inhalte und vor allem diese spezifische Sprache, die ich tatsächlich als AFD-nah bezeichnen würde.
    Suhrkamp hat doch das Recht, sich von Äußerungen eines Autors zu distanzieren, warum denn auch nicht. Die Meinungsfreiheit muss doch für den Verlag genauso gelten wie für Tellkamp und für Grünbein.


    Ergänzung: „Einwanderung in die Sozialsysteme“ ist natürlich ein Begriff der Rechten, der dazu dient, Flüchtlinge pauschal zu stigmatisieren und ihnen Schmarotzertum zu unterstellen. Auch Menschen, die flüchten, um hier ein besseres Leben zu finden, kommen in aller Regel her, um Arbeit zu finden und um dann Geld nachhause schicken zu können. Wenn ein intelligenter Mensch, dessen Beruf die Sprache ist, diesen Begriff verwendet, dann weiß er, was er tut. Und dann müssen sein Lektor und sein Verleger und alle sich wahrscheinlich erbrechen und sich im Anschluss distanzieren. Normal.


    Mein Song-Vorschlag zur Stunde: ")"
    https://www.youtube.com/watch?v=FvtLyyMefz4

  • Die Behauptung, dass von zwanzig Asylsuchenden nur ein einziger aus "echter" Not herkommt, während neunzehn andere nur in "die Sozialsysteme einwandern" wollen, ist schon mehr als eine steile Variante der fraglos zu duldenden oder zu ertragenden Meinungsfreiheit, und es ist auch nicht "nur" eine Provokation. Es bedient genau jene Interessen, die über eingeredeten Sozialneid und ähnliche Ängste die Gefolgschaft von AfD, Pegida und Konsorten zu rekrutieren versuchen, und obwohl es nur die umgedrehte Version ein und derselben Argumentation ist (es geht darum, dass jemand jemandem etwas wegnimmt - darauf fußen fast alle xenophoben Strömungen, bis hin zum krassesten Antisemitismus), ist diese Seite weitaus gefährlicher. Weil nämlich ein vermeintlich Intellektueller, ein anerkannter Kulturschaffender, ein mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneter, verfilmter und hochdekorierter Bestsellerautor diese Meinung vertritt. Ich bin auch kein Freund von vorauseilenden Urteilen, und dieses ständige, hastige Kategorisieren in Gutmenschen und Softnazis lässt all die aufreißenden Wunden nur umso schneller eitern, aber an dieser Stelle droht echte Gefahr. Solche Äußerungen und diese Denke adeln das Stammtischgeplapper, enttabuisieren stärker und stärker, und sie lassen das Fundament unserer Gesellschaft erodieren. Viel schneller übrigens, als wir alle wahrhaben wollen.
    Mich gruselt's.

  • Diese Äußerung beurteile ich so wie Du, Tom. Allerdings scheint mir das nicht der Kasus Knacktus zu sein. Im Raum steht das Wort "Gesinnungsdiktatur". Passt das?


    Suhrkamp hat getwittert: "Aus gegebenem Anlass: Die Haltung, die in Äußerungen von Autoren des Hauses zum Ausdruck kommt, ist nicht mit der des Verlags zu verwechseln. #Tellkamp". Das ist die Formulierung wie man sie oft im Impressum findet: "Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der jeweiligen Autoren und nicht automatisch die Meinung der Redaktion wieder."


    Das soll "Gesinnungsdiktatur" sein? Nein. Der Suhrkamp-Verlag ist ebenfalls Grundrechtsträger von Meinungs- und Pressefreiheit. Man kann der Ansicht sein, dass Suhrkamps Distanzierung unklug sei, aber das kann man bei allen Meinungen. So etwas ist Meinungspluralismus.


    Heike D. hat darauf schon hingewiesen. Ich wollte es nur noch einmal mit anderen Worten sagen.


    Im Übrigen bin ich gespannt auf die Berichte unserer Reporter vor Ort in Leipzig nächste Woche - ob das Thema dort zu spüren sein wird.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Ich kann dieses Statement nur voll unterschreiben, Tom. Und gleichzeitig gruselt's mich beim reflexartigen Verharmlosen unter dem ewigen Deckmäntelchen des Man-wird-doch-wohl-noch-dürfen. Durchaus richtig: Man darf. Man hat immer gedurft. Und man wird immer dürfen. Daran ist nichts auszusetzen. Harmloser macht es im Kern die Sache, von der hier die Rede ist, nicht. Ob man nämlich darf oder nicht, ist nicht der Punkt. Sondern was einer über sich (und Hunderttausende, die ihm zustimmen) aussagt, wenn er tut, was er darf. Jeder darf jede beliebige Gruppe von Menschen als zu lösendes, zu beseitigendes oder zu weiß der Gilb damit zu machendes Problem betrachten. Das fängt bei der Sprache an (Ausländerflut, allein schon). Die freie Meinung ist kein Problem. Aber diese freie Meinung bereitet mir wesentlich stärkeres Bauchweh als etwaige einhundertfünfzig Prozent "Wirtschaftsflüchtlinge". Und wenn es ein einflussreicher, intelligenter Mensch wie Tellkamp tut, dann macht es mir doppelt Bauchweh. Es waren nie die tumben Glatzen, von denen die Gefahr ausgeht. Es sind die Schlauen, die im Anzug, die Charismatischen, die die Volksängste, -Unsicherheiten, -Unaufgeklärtheiten nicht schaffen, denn das müssen sie nicht, sondern sie erkennen und für sich nutzen.

  • Also mich kotzt's an. Die ewig gleichen Parolen. Die scheiß Opferrolle. Der zur Schau getragene Minderwertigkeitskomplex. Und das ist nur die CSU. Deren Existenzberechtigung für mich darin besteht, die braunen Säcke jeden Abend in die Sozialsysteme der landesweiten Hofbräukeller zu verfrachten. Mit einer Quote von 95% könnte ich da ganz gut leben. Klappt bloß nicht mehr. Vielleicht ist das Bier zu teuer? Oder liegt's am Rauchverbot? Oder daran, dass die Dorfkneipen aussterben? Ich bin ratlos ... :achsel

  • Eigentlich geht es doch hier um Uwe Tellkamp, einen Autor. Und der hat in einer Podiumsdiskussion diese Woche die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel III kritisiert. Und er hat im Anschluss an die letzte Frankfurter Buchmesse eine Erklärung unterschrieben, die sich dagegen ausspricht, rechte Verlage von der Buchmesse auszuschließen. Mehr konnte ich immer noch nicht finden, da die Diskussion offensichtlich nicht gefilmt wurde.


    Im Podcast, den Heike angehängt hat, ist auch mehr Interpretation als Zitat zu finden. Eine Stelle O-Ton gibt es, da spricht Tellkamp darüber, wie verschiedene Politiker, z.B. Sigmar Gabriel und Alexander Gauland den Begriff "entsorgen" verwenden, und dass dies von der Öffentlichkeit unterschiedlich gewertet wurde. Ein bisschen Rechthaberei halt. Der Vorwurf gegen Tellkamp zielt immer wieder darauf ab, dass er Themen und Argumente verwendet, die auch die AFD und Pegida verwenden. Im Prinzip folgen auch die meisten Beiträge hier diesem Muster. Er sagt was, was auch die AFD sagt, und die Glatzen und die Neonazis, alle Brauen und kurioserweise auch die CSU. Und irgendwie ist das alles pfui und damit wollen wir nichts zu tun haben. Ich möchte bitte nicht missverstanden werden: Ich vertrete keine Positionen der AFD, habe sie weder gewählt, noch habe ich vor, das zu tun.


    Aber ich möchte nicht nur Abscheu zum Ausdruck bringen, sondern mir geht es um Argumente. Deshalb möchte ich die ominösen 95% nochmals aufgreifen. Wenn man die Zahlen des Bamf in Nürnberg zugrunde legt, dann lag die Zahl der Ablehnungen 2017 bei 56,6% und im Januar 2018 bei 66,2%. Das sind also deutlich weniger als 95 % aber es sind eine Menge. Und darüber sollte man in unserem öffentlichen Diskurs mehr sprechen, finde ich. Die Differenzierung zwischen Flüchtlingen und Migranten findet bei uns zulande leider kaum statt. Entweder fast man alle pauschal als Flüchtlinge zusammen, oder man lehnt alle in Bausch und Bogen ab. Ich halte beides für verkehrt.


    Der Begriff "Wirtschaftsflüchtlinge" ist eher ein Schimpfwort, deshalb schreibe ich auch Migranten. Heike spricht sehr richtig von Menschen, die hierher kommen, um ein besseres Leben und Arbeit zu finden und Geld nach Hause zu schicken. Das soll man nicht diffamieren oder gar kriminalisieren. Es gibt zwar auch Leute darunter, die mit mehreren Identitäten Unterstützung abgreifen und die in der Tat kriminell sind, aber das will ich jetzt nicht thematisieren. Das Thema, das mir fehlt, und das leider Gottes weitgehend den "Rechten" überlassen wird, ist die Frage, wie unser Staat mit diesen "normalen" Migranten umgehen soll. Mit jenen Menschen, die für sich in ihrer Heimat keine Perspektive sehen und sich in Europa, vorzugsweise Deutschland, ein besseres Leben versprechen. Wollen wir die ernsthaft auch alle aufnehmen? ohne Begrenzung? Und uns dann supermoralisch fühlen? Ich bin überzeugt, dass wir nicht alle aufnehmen können und dafür eine Reihe von Kriterien aufstellen sollten. Und das bedeutet auch, dass einige wieder abgeschoben werden müssen. eigentlich ist das ja die bestehende Rechtslage. Oder sehe ich das falsch? Nur leider haben wir uns in den letzten Jahren so verrannt, auf fast allen Seiten übrigens, dass eine sachliche Diskussion kaum mehr möglich ist. Kommt es eigentlich niemandem komisch vor, dass kein anderes Land, unsere Flüchtlingspolitik teilt? Und ich meine jetzt nicht Polen und Ungarn. Selbst in Frankreich und Skandinavien schütteln sie eher den Kopf.


    Sicher hat das viel mit der deutschen Vergangenheit zu tun und manchmal habe ich das Gefühl, einigen Akteuren in öffentlichen Diskussionen geht es mehr darum, gegen Rechts zu kämpfen, als sich um das Wohl von Einwanderern zu kümmern, die Flüchtlinge sind manchmal eher ein Vehikel. Und um das noch eine Stufe weiterzutreiben: die Position, alle aufzunehmen und niemanden abzuschieben, ist in sich widersprüchlich. Ihre Vertreter sonnen sich in einem moralischen Maximalismus, von dem sie wissen, dass er niemals eingelöst werden muss. Weil irgendjemand es verhindern wird. So wie Frau Merkel die Balkanstaaten (inkl. Österreich) für ihre Grenzschließungen kritisierte und gleichzeitig froh war, dass jetzt weniger Flüchtlinge kamen. Ich nenne so etwas Heuchelei.

  • Zitat

    So wie Frau Merkel die Balkanstaaten (inkl. Österreich) für ihre
    Grenzschließungen kritisierte und gleichzeitig froh war, dass jetzt
    weniger Flüchtlinge kamen. Ich nenne so etwas Heuchelei.

    Ich lege Wert auf die Feststellung, dass Österreich kein Balkanstaat ist, auch nicht inklusive. ;)

  • Ich lege Wert auf die Feststellung, dass Österreich kein Balkanstaat ist, auch nicht inklusive. ;)


    Vor nicht ganz so langer Zeit ghörte zu Österreich eine ganze Menge vom Balkan. Insofern ist diese "Feststellung" nicht ganz daneben, zumal sie daran erinnert, dass für die Verhältnisse auf dem Balkan, wie wir sie heute haben, Österreich seinen Anteil beigetragen hat. So wie Deutschland in Afrika, Großbritannien im Vorderen und hinteren Orient, Frankreich und Italien in Nordafrika, Belgien in Westafrika und Nordwestafrika, die Niederlande in Indonesien und Spanien in Süd- und Mittelamerika. Für Vollständigkeit in der Aufzählung garantiere ich nicht. Die Probleme, die viele Menschen aus diesen Gebieten heute nach Mitteleuropa treibt, sind von dort vor langer und auch nicht so langer Zeit angelegt worden. Nicht vergessen werden darf auch, dass es Zeiten in Mitteleuropa gab, als Wirtschaftsflüchtlinge von hier in alle Welt gezogen sind, weil sie sonst verhungert wären und/oder aus politischen Gründen vertrieben wurden.

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • und damit wollen wir nichts zu tun haben


    Genau. Das gilt nicht für ein seltsames Wir oder Uns, sondern für mich.
    Leider gehst du auf meine Argumentation bezgl. Sprachduktus und Stigmatisierung usw. nicht ein (oder auf Tom und Alexander), sondern eröffnest eine inhaltliche und sachliche Dikussion zum Umgang mit Flüchtlingen, die nicht als Verfolgte oder Schutzbedürftige anerkannt werden und hier evtl. einfach bessere Lebensverhältnisse suchen (was Migranten in allen Jahrhunderten und in alle Richtungen getan haben, es gibt einen klugen, wunderbaren Roman von Theodora Bauer dazu, "Chikago"). Ich behaupte dass Begriffe wie "95 % Einwanderung in unsere Sozialsysteme" nicht Teil einer sachlichen und notwendigen Diskussion sind, sondern Ausdruck von Hetze und Radikalisierung und dass diese Sprache der Instrumentalisierung von Angst und dem Schüren von Ressentiments dient. Abschied von der Differenzierung.
    Das ist ja die AFD-Strategie: Wir haben doch nur gesagt, dass... Eben nicht. Und einem Autor wie Uwe Tellkamp ist das ganz sicher auch bewusst. Ich möchte mit so jemandem nichts zu tun haben. Die Äußerung des Verlags liegt weit weit weg von diesem meinem Statement und ist ja vollkommen harmlos, wahrscheinlich auch ratlos.

  • … Ich behaupte dass Begriffe wie "95 % Einwanderung in unsere Sozialsysteme" nicht Teil einer sachlichen und notwendigen Diskussion sind, sondern Ausdruck von Hetze und Radikalisierung und dass diese Sprache der Instrumentalisierung von Angst und dem Schüren von Ressentiments dient. Abschied von der Differenzierung.


    So ist es. Leider ist das ein Problem, mit dem wir uns beschäftigen müssen, das es nicht zu übersehen gilt. Der Rechtsruck geht durch ganz Europa. In vielen Ländern - Polen, Ungarn, Österreich z.B. - ist er schon vollzogen. Ich wüsste kein europäisches Land, wo dies nicht in Ansätzen auch schon zu sehen ist.


    Der Untergang Europas - um dies dämliche "Abendland" zu vermeiden - droht nicht aus Syrien oder Nordafrika, sondern aus der Mitte unserer Gesellschaft.

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    Emanuel von Bodmann


  • Mit jenen Menschen, die für sich in ihrer Heimat keine Perspektive sehen und sich in Europa, vorzugsweise Deutschland, ein besseres Leben versprechen. Wollen wir die ernsthaft auch alle aufnehmen? ohne Begrenzung? Und uns dann supermoralisch fühlen?


    Nein, nicht supermoralisch. Unter anderem deswegen:


    Die Probleme, die viele Menschen aus diesen Gebieten heute nach Mitteleuropa treibt, sind von dort vor langer und auch nicht so langer Zeit angelegt worden.


    Und klar gibt es berechtigte Fragen, die ehrlicher (Politiker-)Antworten bedürfen. Warum kriege ich keinen KiTa-Platz, warum lebe ich knapp oberhalb oder unter der Armutsgrenze, warum werden Geburtskliniken geschlossen (skurrilste Real-Antwort ever, die ich auf diese Frage gehört habe: "Weil es immer weniger deutsche Frauen gibt"), wo auf der anderen Seite plötzlich Millionen Euro für Migranten locker gemacht werden? Nur würde eine ehrliche Antwort auch beinhalten, dass verbunden damit, dass es in Deutschland niemandem wegen der hohen Zahl von Migranten (noch) schlechter geht als bisher, im Umkehrschluss auch keine Altenpflegerin auch nur einen müden Cent mehr durch eine Begrenzung der Aufnahme von Migranten verdienen würde. Es werden hier so gerne die Ursachen verwechselt und der Einfachheit alles in einen (Etat-)Topf geworfen. Manche sozialen Ungerechtigkeiten in Deutschland und in ganz Europa sind einfach schwer bis unmöglich zu vermitteln. Seine Wut dann gegen "die Wirtschaftsflüchtlinge" (als Schimpfwort, ja) zu richten, von denen wie wir alle die meisten nichts anderes wollen, als im legalen Rahmen das Beste für ihre Familien zu wollen, ist in meinen Augen eine ähnliche Logik, wie wenn ich Hartz IV kürzen will, "damit sich Arbeit wieder lohnt".


    Knapp werden die Ressourcen ganz unten, da, wo es richtig wehtut. Aber immer noch fühle ich mich nicht in besonderem Maße "moralisch", wenn ich nicht einsehe, warum das deutsche Mütterlein mehr Anspruch auf die letzte matschige Tafel-Tomate haben soll als der muslimische Einwanderer. Mensch bleibt Mensch und matschige Tomate bleibt matschige Tomate. Global nur da denken, wo es mir ermöglicht wird, für 4,99 ein T-Shirt zu kaufen, das von jemandem irgendwo zusammengenäht wurde, dem vielleicht morgen die Werkhalle überm Kopf zusammenbricht? Muss man supermoralisch sein, um das nicht so recht zu kapieren?


  • Tellkamp hat gefährlichen Unsinn gesagt und sein Verlag hat sich davon inhaltlich distanziert, gleichzeitig aber erklärt, die Bücher dieses Schriftstellers weiter zu verlegen. Das sind aus meiner Sicht erst einmal die Fakten, und ich finde, da ist nicht allzu viel dran, was manche wilden Empörungsbekundungen rechtfertigte, die so kursieren - erfreulicherweise jedoch nicht hier. Ich fürchte allerdings, wir haben uns hierzulande bereits allzu weit von einem konstruktiven Umgang mit diesem hochsensiblen, sprengstoffhaltigen Thema entfernt. (Nochmal: NICHT in den bisherigen Beiträgen hier!)

    Da sehe ich auf der einen Seite breite Teile der Bevölkerung, die - zu Recht oder eher nicht - von diffusen Existenzängsten getrieben werden, die Viele zu leichter Beute für populistische Versimplifizierer mit klar faschistischen, totalitären Zielen machen. Gegen Letztere gilt es zu mobilisieren, viel stärker noch als bisher (auch Göbbels war ein kluger Kopf), nicht aber gegen deren mehr oder weniger unkluge Opfer. Insofern sind einige Äußerungen des Intellektuellen Tellkamp natürlich völlig unakzeptabel und brandgefährlich, bieten sie doch einen "geistigen Überbau" für die Rattenfänger.


    Andererseits aber meine ich auch eine geradezu kontraproduktive Haltung der überwältigenden Mehrheit der (vorwiegend links oder zumindest linksliberal eingestellten) Intellektuellen, vor allem der geistig Schaffenden unter ihnen, zu erkennen. Wenn ich mich so in den social media umtue, sind sich eigentlich alle einig darin, den Herrn Tellkamp zu verurteilen. Man überbietet sich gegenseitig in Empörungs- und Abscheubekundungen, sonnt sich im Bewusstsein, zu den "Guten" zu gehören und - erreicht damit nicht einen von denen, um die es geht.


    Es geht um die Menschen in diesem Lande, die vom Umgang der politischen Eliten mit dem Thema Zuwanderung völlig verunsichert sind, es geht um diejenigen, die Angst haben. Angst, die durchaus nicht immer ganz irrational ist. Als Stichworte dazu nur: "Gerechtigkeitslücke", also Wohnungspolitik, Sozialpolitik, Gesundheitssystem, Hartz IV etc. Wenn hier nicht ein grundlegender Wandel der Politik einsetzt (der, wie man erkennt, von der neuen "GroKo" wieder nicht ernsthaft angegangen wird), können sich die Schriftsteller weiter über den Rechtsruck - gar in den eigenen Reihen - echauffieren. Das dürfen und müssen wir auch, aber die rechten Verführer lachen uns aus, denn ihr ekelhaftes Treiben wird davon nicht beeinträchtigt.



  • Genau. Das gilt nicht für ein seltsames Wir oder Uns, sondern für mich.
    Leider gehst du auf meine Argumentation bezgl. Sprachduktus und Stigmatisierung usw. nicht ein (oder auf Tom und Alexander), sondern eröffnest eine inhaltliche und sachliche Dikussion zum Umgang mit Flüchtlingen, die nicht als Verfolgte oder Schutzbedürftige anerkannt werden und hier evtl. einfach bessere Lebensverhältnisse suchen (was Migranten in allen Jahrhunderten und in alle Richtungen getan haben, es gibt einen klugen, wunderbaren Roman von Theodora Bauer dazu, "Chikago"). Ich behaupte dass Begriffe wie "95 % Einwanderung in unsere Sozialsysteme" nicht Teil einer sachlichen und notwendigen Diskussion sind, sondern Ausdruck von Hetze und Radikalisierung und dass diese Sprache der Instrumentalisierung von Angst und dem Schüren von Ressentiments dient. Abschied von der Differenzierung.
    Das ist ja die AFD-Strategie: Wir haben doch nur gesagt, dass... Eben nicht. Und einem Autor wie Uwe Tellkamp ist das ganz sicher auch bewusst. Ich möchte mit so jemandem nichts zu tun haben. Die Äußerung des Verlags liegt weit weit weg von diesem meinem Statement und ist ja vollkommen harmlos, wahrscheinlich auch ratlos.


    Ich glaube, dass es nicht viel bringt, außer für einen selbst, sich nur auf den Sprachduktus zu konzentrieren, nach dem Motto: Mit dir rede ich nicht, nicht in diesem Ton. Dass halte ich für angemessen bei völligen Entgleisungen a la Bernd Höcke, Hr. Poggenburg mit seinem Türken-Bashing oder Akif Pirinci, der sich bei einer Pegida-Rede mal um Kopf und Kragen geredet hat. Ja, irgendwann diskutiert man nicht mehr. Bei Uwe Tellkamp sehe ich das nicht, und von "Schmarotzern" hat er ja gar nicht gesprochen. Dass er von Ressentiments getrieben ist, mag sein. Aber ich halte es für zielführender, bei jemandem der als wichtiger Literat gilt, seine Argumente zu dekonstruieren. Zum Beispiel diese ominösen 95%. Ich würde ihn fragen, was ihm denn vorschwebt, dann vielleicht darauf kommen, was für Implikationen seine Haltung hätte. Ob er wirklich so ein Mensch sein will. Natürlich bin ich nicht so naiv, dass ich glaubte, ich könnte ihn überzeugen. Aber die Veranstaltung war öffentlich, das Publikum ist doch der eigentlich Adressat.


    In dem Podcast wurde übrigens etwas gesagt, was ich sehr gut fand: es war ein guter Streit, sagt die Sprecherin. Das ist doch etwas. Das ist vor allem etwas eminent Politisches. Der politische Raum ist die Arena des Streits, der auch ein konstruktiver Streit sein kann. Leider bedauert die Sprecherin im nächsten Atemzug, dass es keinen Konsens gab. Mein Gott, muss es immer einen Konsens geben? Geht es nicht ohne Friede, Freude, Eierkuchen? Eine echte Streitkultur, das ist etwas, was uns in Deutschland fehlt.


    Wenn wir jetzt Tellkamp als Quasi-Nazi verteufeln, dann schaffen wir doch bloß einen neuen Märtyrer. Wenn wir so jemandem die Argumente zerlegen, dann steht er ohne Hosen da. Aber das erfordert eben, dass man wirklich auf eine Sachebene geht. Und das erfordert auch, dass ich mich darauf einlassen muss, was vorgebracht wird. Das kann auch unbequem für einen selbst sein.


    Ein Beispiel wie man es nicht machen sollte, waren die meisten Reaktionen in dieser Woche auf die Entscheidung bei der Essener Tafel. Das hatte auch was von Reflex. Erst mal kritisieren, ohne zu fragen, wo da das Problem liegt.
    Und ja, Kristin, ich würde die letzten Tomaten dem Mütterlein geben, übrigens nicht nur dem deutschen, sondern auch dem türkischen, wenn sie schon lange in dieser Gesellschaft lebt und hier vielleicht auch gearbeitet oder Kinder aufgezogen hat. Aber die Tafeln sind Vereine, keine öffentlichen Einrichtungen, die können selbst entscheiden.