Die weiße Leinwand
Die Zeit des Dreißigjährigen Kriegs, das Gebiet des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation: Das durch Martin Luther ein knappes Jahrhundert zuvor geadelte Hochdeutsch etabliert sich allmählich als literarische Sprache, während die Eiferer im Auftrag ihrer Religion(en) durch die Lande reisen und Hexer auszumachen versuchen, die sie ganz selbstverständlich mit brutaler Folter zum Geständnis zwingen, denn nur unter Schmerzen sagt der Mensch schließlich die Wahrheit. So ereilt es den Müller, der in seiner wenigen freien Zeit zu viel über die Sterne oder die Größe von Haufen nachgedacht hat, oder die Frage, ab wann ein Haufen eben einer ist oder keiner mehr, und deshalb steht Tyll plötzlich ohne Vater da, denn der etwas wirrköpfige, aber freundliche und heilbegabte Müller wird gehenkt.
Der junge, schlaksige Tyll flieht und schließt sich einem dubiosen Gaukler an. Er lernt das Jonglieren und das Balancieren, außerdem das Leben als Freier ohne Respekt und Schutz. Und er wird zur Legende. Tyll Ulenspiegel, der allerdings keine verbürgte Gestalt der Geschichte war, und von dem erstmals im fünfzehnten Jahrhundert Berichte und Erzählungen auftauchten. Daniel Kehlmann verpflanzt ihn kurzerhand ins siebzehnte Jahrhundert, wo er als Katalysator dient, als Beobachter und Stichwortgeber in diesem episodenhaften Roman, der sprachlich ein absolutes Fest ist und großes Vergnügen beim Lesen bereitet. Kehlmann lässt die Zeit zwischen 1618 und 1648 in großer Anschaulichkeit aufleben, er zeichnet unglaublich starke Bilder und findet die richtigen Worte, um Gerüche und Rituale, um die Brutalität und Aussichtslosigkeit, um den Wahnsinn und das Miteinander zu vermitteln. Man hungert mit seinen Figuren und friert mit ihnen, man folgt atemlos den berauschenden Dialogen, und man ist heilfroh, im warmen Sessel zu sitzen, vierhundert Jahre später, weit entfernt von all dem Wahnsinn, dem Geschacher, dem mitleidlosen Umgang mit Menschenleben, der kurzen Lebenserwartung, dem Aberglauben, dem Söldnertum und der makaber-pragmatischen Familienplanung über die extrem hohe Kindersterblichkeit.
Aber.
In einer Episode wohnt Tyll bei August Friedrich V. von der Pfalz, der zu dieser Zeit als Friedrich I. glücklos König von Böhmen zu sein versucht, und Tyll schenkt dem Winterkönig - Friedrich regierte nur ein Jahr lang und wurde von allen Seiten verspottet - eine gerahmte, weiße Leinwand, auf der, wie der Schalk erklärt, nur für kluge Geister ein prächtiges Gemälde zu sehen ist, was nicht wenige Gäste in schwierige Situationen bringt, aber auch Schlossbewohner bis hoch zum König irritiert. Diese Variante des Märchens von des Kaisers neuen Kleidern ist zwar amüsant, fühlt sich aber vor allem und zugleich wie eine Metapher auf bzw. für die gesamte Erzählung an. Kehlmann ist ein prächtiges, bravourös erzähltes Sittengemälde gelungen, aber abseits davon bleibt die Geschichte gleichsam unverankert, fühlt sich wie ein Rätsel an, das eigentlich nicht zu lösen ist, aber den Eindruck erweckt, das doch zu sein. Anders und einfacher gesagt: Man kommt sich - auf äußerst hohem Niveau - insgesamt ein wenig veralbert vor. Das allerdings ist ein Gefühl, das zumindest bei mir immer leicht anklingt, wenn ich ein Kehlmann-Buch lese (genau genommen sogar schon beim Kauf). Der Mann hat ohne Frage mehr auf dem Kasten als so manch ein anderer hierzulande und andernorts (Kehlmann ist Österreicher), aber es ist auch kein Zufall, dass er jetzt über Eulenspiegel schreibt: Nach meinem Dafürhalten ist er nämlich selbst einer - ein großer, zweifelsohne, und ein guter, aber er ist einer.
Übrigens. Hat jemand meinen zweiten Schuh gesehen?
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