Zwei Bücher über demente Väter – Eine Gegenüberstellung

  • Sie sind nicht selten, die Bücher über an Demenz erkrankte Elternteile: von Verfassern, die erst über dieses Thema zum Schreiben gekommen sind, wie auch von Schriftstellern, denen die Sprache geübtes Handwerkszeug ist. Burkhard Spinnen z. B. schreibt in „Die letzte Fassade“ über seine an Demenz erkrankte Mutter. In einer Gesellschaft, in der „die Alten“ immer mehr werden, ist das Interesse an diesem Thema nicht weiter verwunderlich. Es ist ein bedeutendes gesellschaftliches Thema, jetzt schon, und eine Mammutaufgabe in der Zukunft. Wenn erst die geburtenstarken Jahrgänge in dieses Alter kommen … Selbst ohne genetische Disposition: Man muss nur alt genug werden und die „Chancen“ steigen extrem …


    So ein Buch über Demenz kann dann mehr traurig sein oder auch humorvoll, ja, auch das eine legitime Herangehensweise. Es kann eine Verbeugung vor der Mutter oder dem Vater sein oder es soll Informationen vermitteln und Trost spenden, denen, die in der Sohn- oder Tochterrolle ähnliches erleben. Es soll Öffentlichkeit schaffen, Bewusstsein, einer immer noch tabuisierten Erkrankung gegenüber. Es kann aber auch Anklage sein, es kann auch wehtun, es kann auch einen Skandal hervorrufen.


    Arno Geiger ist ein österreichischer Schriftsteller, Jahrgang 1968, der 2005 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde. Sein Buch „Der alte König in seinem Exil“ (2011) über seinen an Demenz erkrankten Vater hat mehrere Preise erhalten, so z. B. vom Deutschen Hospiz- und PalliativVerband.


    Tilman Jens‘, Jahrgang 1954, Buch „Demenz – Abschied von meinem Vater“ ist bereits 2009 erschienen. Vielgescholten ist er, dieser Journalist und Buchautor, ob nun für sein Buch über die Odenwald-Schule oder Helmut Kohl oder …, ob nun zurecht oder nicht, sei hier dahingestellt. Jedenfalls wäre es ein schieres Wunder gewesen, wenn „Demenz“ nun kein Material enthalten hätte, an dem sich die Geister geschieden hätten. Das war es dann aber nicht nur, sondern ein ausgewachsener Skandal. Vorgeführt habe er seinen Vater, bloßgestellt, nicht nur in Bezug auf die Krankheit, sondern auch auf die lange verschwiegene, dann aufgeflogene und bestrittene NSDAP-Mitgliedschaft. Man hat Tilman Jens Geltungssucht und Minderwertigkeitskomplexe unterstellt. Gab’s Preise? Vermutlich nicht. Preise und ein Sturm der Entrüstung gehen schlecht zusammen – es könnte ja etwas auf den Preis abfärben. Aber eine Rüge gab’s, eine von vielen, vom „Ärzteblatt“: „geschmacklos“ sei das.


    Ein augenfälliger Unterschied liegt in den Personen dieser beiden porträtierten Väter: Wo Arno Geiger von seinem Vater August berichtet, der Gemeindeschreiber, also keine öffentliche Person war, schreibt Tilman Jens über den Altphilologen und Literaturhistoriker Walter Jens, Ordinarius, Professor, PEN-Präsident Deutschland, Präsident der Akademie der Künste Berlin – die Aufzählung ist bewusst nur angerissen, unvollständig sowieso, trotzdem selbstredend.


    Wo Jens Tacheles redet, was selten ohne Reibung möglich ist, ist Geigers Buch gefälliger. Wunderlich mag manches sein, das der Vater vor dem Hintergrund seiner Erkrankung sagt, aber mitunter auch von einer seltsam anmutenden Hintergründigkeit, paradox, aber gleichzeitig anrührend, um die Ecke gedacht, ungewöhnlich, aber im Endeffekt irgendwie auch wieder stimmig. Geigers Buch ist ein Dokument einer Vater-Sohn-Beziehung, die nicht ohne Schwierigkeiten daherkommt (gibt es die überhaupt?), aber in der erst einmal erkannten Krankheit von Zuneigung und Respekt getragen ist. Gut geschrieben ist es sowieso.
    Was aber nun nicht bedeutet, dass Zuneigung und Respekt in „Demenz“ nicht vorkommen. In Abrede gestellt hat man es ihm zur Genüge, auch in einem Atemzug mit der Weigerung, das Buch überhaupt zu lesen – es zu lesen verbat sich offenbar, darüber zu urteilen, nicht. Wer über seinen Vater und Inkontinenz, über seinen Vater und die Freude über eine Wurstsemmel oder die Kaninchen im Stall berichtet – der Vater, ja, aber auch, ach: der Professor, der Rhetor, der Präsident …! – dem wird böser Wille unterstellt.
    Geigers Buch ist milder, versöhnlicher (so man sich denn mit einer degenerativen Hirnerkrankung anfreunden kann), Jens’ Buch ist ein Tabu-Bruch, löst deutlich mehr Unbehagen aus, weil der Kampf im Vordergrund steht: der Kampf des Vaters mit seiner Vergangenheit und seinem unausweichlichen Verfall, der Kampf des Sohnes, der mit beidem umgehen lernen muss. Letztendlich ist das Buch auch unangenehmer, weil es an die eigene Verwundbarkeit erinnert: Wenn es selbst eine Geistesgröße wie Walter Jens ereilt …


    Zu guter Letzt: Ein großer Unterschied liegt in der eigenen Überzeugung der Autoren begründet, der Frage, Sterbehilfe ja oder nein. Wo Walter Jens selbst zu gesunden Zeiten ein Recht auf den selbstbestimmten Tod bekräftigt hat, kommt Geiger ziemlich am Ende seines Buches zu dem kompromisslosen Urteil, es läge meistens bei den Familien, zu meinen, dass ein Leben nicht mehr lebenswert sei und beendet gehöre. Das ist eine Sichtweise, die andere Sichtweisen nicht toleriert, sondern von vornherein eine niedere Gesinnung unterstellt. Tilman Jens wiederum hat im Nachgang zu „Demenz“ und den Reaktionen darauf nicht nur „Vatermord – Wider einen Generalverdacht“ geschrieben, sondern auch „Du sollst sterben dürfen“ – der Titel spricht für sich.


    Wenn Geiger seinem Vater eine Reverenz erweisen wollte (die ihm meines Erachtens auch gelungen ist) – Jens ist eine solche der Kritik wegen, die er an dem jahrzehntelangen Schweigen seines Vaters übt, nicht möglich. Er hätte es ausklammern können, ja – wenn es kein elementarer Punkt in seiner (vom heutigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand aus womöglich auch falschen) Sicht der Dinge gewesen wäre. Eine reine Huldigung konnte es nicht werden, aber eine Verdammung ist es auch nicht geworden. Ich meine: „Der alte König in seinem Exil“ ist zu Recht gelobt worden, aber „Demenz – Abschied von meinem Vater“ ist weit, weit besser als sein Ruf. Wer sich für das Thema interessiert, sollte sich von dem Skandal (der aber ja auch schon Jahre zurückliegt – mittlerweile hat es andere gegeben) nicht abhalten lassen, sondern sich ein eigenes Bild machen.


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  • https://www.mdr.de/video/mdr-videos/b/video-434540.html


    Wie ich erst heute zufällig in „Aspekte“ erfuhr, ist Tilman Jens gestorben. Nach langer Krankheit, durch eigene Hand, heißt es.

    Das war ein Mann, der so manchen Skandal provoziert hat, der sich durchaus in seinem Leben auch nicht immer ganz lupenreiner Mittel bedient hat. Wie dem auch sei: Ich mochte einige seiner Bücher und konnte einigen Ansichten folgen, grade auch, wo er angeeckt ist. Traurig.