Man wird doch wohl noch träumen dürfen - oder?

  • Ja, die Träume ... Obwohl die Überschrift des Freds vielleicht irreführend ist, denn es geht mir weniger um die eigenen Träume als die meiner Figuren. Gestern habe ich mir mal den Spaß gemacht und durchgezählt, wie oft sie in meinem Romanprojekt träumen, also richtige Nachtträume haben. Und bin auf nicht weniger als fünf auf seiner und neun (!) auf ihrer Seite gekommen. Jeder von ihnen beansprucht dafür insgesamt ca. drei Normseiten (dachte vorher, es wäre schlimmer), und alles ist vertreten vom beiläufigen Nebensatz über den sechszeiligen Traumfetzen bis hin zum kapitalen Zweiseiter. Nun achte ich zwar darauf, dass ich die Traum-Zutaten der Prots nicht aus dem großen Traumlexikon von A-Z beziehe, sondern dass sie sich rekrutieren aus der spezielle, individuellen Lebenswelt der Figuren (so wie es einem ja selbst beim Träumen geht), und es gibt auch geschlechtsspezifische Unterschiede. Ich mag die Träume und finde sie auch handlungsrelevant; ihre Bilder sind für mich ein gutes, intuitives Mittel, um innere Entwicklungen zu zeigen, ohne sie dem Leser mühsam erklären zu müssen.


    Trotzdem. Zweifel bleiben. Wie haltet Ihr es? Sind Träume für Euch ein No-Go, oder setzt Ihr sie ebenfalls manchmal ein? Und gibt es eine Grenze für das rechte Maß?

  • "Es war nur ein Traum" ist die schlimmste Pointe, die ich aus der Literatur kenne. Wenn ich einen Roman lese, in dem plötzlich geträumt wird, sogar Träume dafür verwendet werden, um Entwicklungen, Hintergründe, Motivationen zu zeigen, schmiert der bei mir immer mindestens um eine Note ab. Das liegt überwiegend daran, dass Träume zumindest meiner Erfahrung nach nicht so sind, so plakativ-erklärend, so erhellend, so hintergründeliefernd. Und außerdem finde ich, dass es sich Autoren dadurch wirklich viel zu einfach machen. Das ist in der Nähe von Deus-ex-machina. Träume passieren einfach, und wenn sie dann auch noch hilfreich sind - umso besser.
    Von wegen.


    Anders gesagt: Für mich rangiert das in der gleichen Kategorie wie der plötzliche Gesang bei Musicals, der schlimmsten darstellenden (zeitgenössischen) Kunstform, die ich kenne. ;)

  • Wenn ein Traum angekündigt wird, lese ich ihn nicht und habe nie erlebt, daß mir der Traum im Kontext gefehlt hätte. Wenn sich Gelesenes als ein Traum entpuppt, fühle ich mich an der Nase herumgeführt, irgendwie zu billig und zu einfach, wie eine Krücke - bloß wofür? Wenn man ihn früge, wüßte auch der Autor keine erhellende Antwort, außer vielleicht persönliches Empfinden. Wie wärs dann mit ein bißchen mehr Tagebuchschreiben?
    Tagträume finde ich ok und gut, wenn sie einen Zustand verdeutlichen oder die Handlung vorantreiben.
    Träumen in der Literatur setze ich Rückblenden im Film gleich. Ausgenommen, die Rückblende erzählt den ganzen Film, aber dann ist das andere ja nur eine Klammer, auf die auch gerne und meistens verzichtet werden kann. Einfache Rückblenden sind nichts anderes als billige Bebilderung, meistens sagen sie das, was der Zuschauer schon empfunden hat, sollen noch dramatisieren, schinden aber nur Zeit und sind Produkt einer weichgespülten Fernsehlandschaft, in der zu viele gut bezahlte Menschen mit wenig Ahnung aber viel Selbstbewusstsein an einem Produkt basteln.

  • Interessantes Thema, Kristin! Ich kann mich jedoch an kaum einen Traum in der Literatur erinnern, der nicht total gewollt daherkam und so nie geträumt worden wäre. Ich arbeite ja tatsächlich in den Therapien mit Träumen, und so schön erhellend und eindeutig wie die erfundenen sind sie leider nie. Denn wenn man etwas einfach denken könnte, bräuchte man es ja nicht zu träumen. Die Verschlüsselung bis zur Unkenntlichkeit ist Sinn und Zweck des Traumes, und das bringt literarisch wenig weiter, glaube ich. Außer es ist verdammt gut gemacht.

  • In Kriminalromanen ist das mit der Träumerei meist verbunden mit ziemlich schlechtem Handwerk und keinem dramaturgischen Spannungsbogen. In Romen, Erzählungen können Träume ein Teil des Erzählens, der Charaktere sein. Handlung sollten sie nicht vorantreiben, da sist dann wie mit Krücken laufen. Erzählung, Poesie können sie sein.

  • Das schönste an Träumen ist, dass man sie so schnell vergisst. Meistens bereits kurz nach dem Aufwachen. Manche aber nicht. Damit umzugehen ist nicht leicht. Ich habe es noch nicht erlebt, dass ein Traum etwas in meinem Leben geändert hat. Eher so, dass ich über nicht-vergessene-Träume viel später etwas erklären konnte, was sich bis dahin einer Erklärung entzog. In meinen Geschichten setze ich Träume ein, aber nicht um die Handlung voranzutreiben, sondern eher um die Stimmung oder Befindlichkeit des/der jeweiligen Protagonist/in/en etwas farbiger auszugestalten.


    Letztens hatte ich einen interessanten Traum. Ich fuhr mit dem Auto auf einen riesengroßen Parkplatz und stellte es ab. Dann fuhr ich den Parkplatz auf und ab, um das Auto zu suchen mit wachsender Panik, weil es nicht mehr zu finden war. Kurz vor dem Kollaps fiel mir ein, dass ich das Auto ja gar nicht finden könne, weil ich ja drin sitze. Die Erleichterung war groß, ich verließ den Parkplatz - und erwachte. Ich war nach dem Erwachen noch erleichtert und vermutlich deshalb habe ich den Traum auch nicht vergessen.

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
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  • Danke Euch allen für Eure Antworten! Tja, da scheint ja das Geträume in Romanen tatsächlich (fast) so verpönt zu sein, wie ich dachte. Als Pointe finde ich Träume auch furchtbar (wie damals im Fernsehen das Bobby-Ewing-Syndrom, erinnert Ihr Euch? Der Mord, die Verhaftung, das ruinierte Leben - alles nur geträumt! Puh.).


    Ich glaube, mein ganz sicher übermäßiges Faible für Träume geht eher in die Richtung dessen, was Horst-Dieter schrieb:

    sondern eher um die Stimmung oder Befindlichkeit des/der jeweiligen Protagonist/in/en etwas farbiger auszugestalten.


    Was mich zu der weitläufigen Frage bringt, ob wirklich alles in einem Roman nötig im Sinne von handlungsvorantreibend sein muss, oder ob es auch einfach nur um die Stimmung gehen darf.


    Ein konstruiertes Beispiel: Wenn ich über einen Mann schreibe, der fürchterliche Probleme bei der Arbeit hat und mit seinen gewohnten Lösungsstrategien nicht weiter kommt, dann finde ich es ganz interessant zu zeigen, wie er nächtens von einem Traum geplagt wird, in dem er einen Hubschrauber zusammenbauen soll, was er natürlich noch nie gemacht hat, und nach einer Weile stellt sich dieses quälend desorientierte Gefühl ein (das Horst-Dieter auf dem Parkplatz hatte und das wir ja vielleicht alle kennen) Er weiß überhaupt nicht mehr, was er sollte oder wollte, und nach einer Weile zerbröseln ihm auch noch die Hände bis zu den Ellbogen ... Wie gesagt, ich finde das interessanter als zu schreiben, dass er sich "machtlos fühlt". Der von mir sehr geschätzte Rolf Lappert scheut übrigens Träume in seinen Romanen nicht (zumindest erinnere ich das aus "Nach Hause schwimmen", und bei ihm wirkt es nicht aufgesetzt oder platt. Ist gerade das einzige Beispiel, das mir einfällt.


    Wenn ich Träume erzähle, ist es auch eher nicht so, dass ich dasitze und überlege: Wie kann ich dem Leser dies oder jenes nun beibiegen? Eher stehen die Träume auf dem Papier, und hinterher wundere ich mich, wenn's passt. Aber es stimmt schon: Nicht alles, was einem unwillkürlich entfährt, ist von Segen - und zu viel wird's allemal sein.


    Trotzdem, ganz aufgeben will ich das (noch) nicht. Leute tun das ja nun mal. Träumen. Und warum es dann nicht erwähnen? So wie man erwähnt, dass jemand eine Pizza isst? Vorausgesetzt, das Pizzaessen fügt sich sinnvoll in die Handlung ein.

  • Natürlich kannst du deine Protas träumen lassen. Wie bei allem anderen gibt es kein Gesetz darüber, was man wie und ob schreiben darf. Wenn es für dich passt ... dann passt es eben.
    Ich mag das halt nicht. Ich habe aber lange über deine Frage nachgedacht - bestimmt träumen meine Protas auch mal, und bestimmt kommt das in meinen Büchern irgendwie vor - aber nicht handlungsweisend. Erinnern kann ich mich allerdings daran nicht (ich gestehe, sobald ein Buch geschrieben ist, die Druckfahnen durch sind - ist es für mich fertig. Und ich "vergesse" es - schreib schon längst das nächste Projekt, plane das übernächste, recherchiere - ist ist ein bißchen wie - aus den Augen, aus dem Sinn)
    Aber Träume als Gestaltungsmerkmal finde ich schwierig und ja - schlecht. Schlecht bei meiner Art zu schreiben. Vielleicht passt es ja bei dir? Kann ich nicht beurteilen.
    Aber tatsächlich verdrehe ich die Augen und überspringe "Träume", wenn sie in Büchern vorkommen.
    Handlungsorientierte Träume ... das kann ich mir nicht vorstelen, aber das liegt schlicht an mir.

  • Ich war vor zwei Wochen in den Alpen, zusammen mit Freunden und deren Kindern. Wir sind ein bisschen gewandert, was die Kinder - das kleinste war erst drei Jahre alt - hin und wieder ein bisschen überfordert hat. In der Nacht von vorgestern auf gestern habe ich davon geträumt, mit einem der Kinder - einem acht Jahre alten Jungen - durch ein trockenes Bachbett zu wandern (ein solches gab es direkt neben der Unterkunft), bis wir an einen Flussknick kamen, der plötzlich voller Schlamm und Wasser war. Dort rutschte dieser Junge, für den ich offenbar die Verantwortung trug, auch sofort ab und versank, aber ich konnte ihn im letzten Moment aus dem Wasser ziehen. Als er dann, von Kopf bis Fuß mit weißlichem Schlamm bedeckt, vor mir stand, endete der Traum. Hier hat mein Unterbewusstsein also ganz offensichtlich dezente Sorgen, die ich während dieser Wanderungen hatte, mit den Nachrichten über Schlammlawinen in Österreich vermischt. Es hat genau das getan, was es meistens beim Träumen tut, nämlich in irgendeiner Form verarbeiten. Meistens in keiner besonders konkreten.


    Solche Träume habe ich auch selbst schon in Geschichten und Büchern untergebracht, aber sie nahmen selten mehr als einen Satz ein, meistens bleibt es nur bei Andeutungen ("Ich träumte von ihr" oder ähnlich). So etwas lasse ich auch als Leser durchgehen. Aber je konkreter, je handlungstragender, je informativer und aufklärender Träume werden, umso skeptischer werde ich beim Lesen.


    Ansonsten gebe ich Ulli recht: Erlaubt ist sowieso alles. Hauptsache, man macht es gut.

  • Aber tatsächlich verdrehe ich die Augen und überspringe "Träume", wenn sie in Büchern vorkommen.


    Ja, so ähnlich schrieb Uve das ja auch, das geht wohl einigen, wenn nicht den meisten Leuten so. Bei mir läuft es etwas anders; ich lese die Träume gerne bzw. bin gespannt und neugierig, wenn in einem Buch einer losgeht - und dann meistens enttäuscht. Was ja irgendwie aufs Gleiche hinausläuft. Interessant finde ich noch, dass Träume in der Literatur vor hundert oder hundertfünfzig Jahren noch einen ganz anderen, viel positiveren Stellenwert hatten. Nicht zum ersten Mal überlege ich, ob ich nicht mit Sack und Pack und Manuskript ins 19. Jahrhundert auswandern soll ...


    Vielen Dank, Ulli und Tom, für Eure Antworten! Genau, der Traum mit dem Flussbett und dem Schlamm ist doch so ein richtig typischer, durcheinandriger Verarbeitungstraum.

  • mhh...interessante Frage, Kristin.
    Die Strömung der "Neuen Innerlichkeit" riss seit den 70ern ja nicht vollends ab, erlebt in diesen äußerlich unruhigen Zeiten sogar eine Renaissance. Man könnte fast sagen: Die Romantik ist zurück!
    Also auch die Traumbetrachtung, das Beschäftigen mit und in sich selbst. Dass das nicht einfach umzusetzen ist, liegt auf der Hand. In der Dramaturgie eines Films - auch bei Bobby Ewing - funktioniert das oft sehr gut. Da lasse ich mich als Filmliebhaberin aber auch einfach gerne von "einlullen". Beim Buch verlange ich da mehr und glaube nicht, dass das vom Film so zu übertragen möglich ist. Botho Strauß z.B. kann das. Brentano konnte es. Diese beiden erklärten schlicht die Welt zum Traum und umgekehrt. Spielten damit. Ein Vexierspiel Das mag ich sehr. Wenn du Träume so einsetzen kannst, ist das sicher ein Gewinn für einen Roman. Und sicher kannst du damit auch mal erklärend oder handlungstreibend auf eine Geschichte wirken...aber niemals mit dem Holzhammer...Träume sind eben subtil.
    Würde gerne mal reinlesen in einen dieser Träume.

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Wenn Träume als Stilmittel eingesetzt werden und nicht platt als Vorboten, dann muss das zum Rest des Textes passen. D. h., der Text muss wahrscheinlich insgesamt eher assoziativ sein, eher in Richtung Bewusstseinsstrom gehen. So lassen sich ja auch Erinnerungsfetzen schön nutzen - nicht als komplette Rückblicke, sondern als Blitzlichter, einzelne Eindrücke ...

  • enn Träume als Stilmittel eingesetzt werden und nicht platt als Vorboten, dann muss das zum Rest des Textes passen. D. h., der Text muss wahrscheinlich insgesamt eher assoziativ sein, eher in Richtung Bewusstseinsstrom gehen.

    Das finde ich auch! Früher habe ich Texte geschrieben, die z.T. surreal waren, da passt ein Traum hinein. Oder man kann damit eine bestimmte Stimmung erzeugen. Das muss dann aber zum gesamten Text passen (und es geht leicht in die Hose). Mit dem Einbetten einzelner Traumsequenzen kann man sich so schön sprachlich oder psychologisch oder sogar poetisch austoben.


    Oder in Horrortexten - Stephen King macht das manchmal, dass er einzelne Textfetzen plötzlich in die Erzählung einbaut, um einen Effekt zu erzielen. in dieser Art könnte dann ein Traum von letzter Nacht der Vorbote von irgendetwas sein. Das halte ich dann nicht mehr für dilettantisch!

  • Wenn Träume als Stilmittel eingesetzt werden und nicht platt als Vorboten, dann muss das zum Rest des Textes passen

    Unbedingt! Und es muss, ganz wichtig, auch zur Figur passen. Ich bin sicher, dass die den Träumen zugrunde liegenden Gefühle bei den Menschen nicht wahnsinnig unterschiedlich sind (auch nicht bei Männern und Frauen), es geht ja beim Träumen viel um rudimentäre Urgefühle wie Angst, Ekel, Begehren etc. Aber ein Typ von den Hell's Angels wird andere Requisiten verwenden als eine Konzertpianistin, und auch der Tonfall sollte sich deutlich unterscheiden. Also bitte keine lyrischen Elemente nach dem Motto: Achtung, jetzt wird's lyrisch.


    Stephen King macht das manchmal, dass er einzelne Textfetzen plötzlich in die Erzählung einbaut, um einen Effekt zu erzielen.

    Ja, herrlich! Diese kurz in eine normale Szene zuckenden Bilder - große Klasse, wenn's gut gemacht ist.

  • Zitat

    Und bin auf nicht weniger als fünf auf seiner und neun (!) auf ihrer Seite gekommen.

    Ich bin grundsätzlich auch eher skeptisch was Träume in Romanen betrifft. Aber natürlich sind sie nicht "verboten". Die Ansprüche an die Wiedergabe eines Traumes wurden hier ja bereits mehrfach aufgezählt. Aber bei EINEM Romanprojekt fünf bzw. neun Träume? Also da müsste das Leit-/Kernthema Deines Romans bzw. der Geschichte schon etwas rund um Träume oder Traumdeutunge o.ä. sein, sonst wäre das in meinen Augen definitiv zu viel für einen Roman.

  • TraumDeutung - nein, nein, da soll und braucht nichts gedeutet zu werden. Danke, Cordula! Ich fand die Diskussion sehr hilfreich. Sie hat mir einerseits gezeigt, warum ich die Träume einsetze - nämlich eben nicht zum Vorantreiben der Handlung, sondern in erster Linie zur Vermittlung von Stimmungen - und andererseits und dadurch bedingt, dass das meiste dramaturgisch gesehen verzichtbar ist. Ist doch eine ganz komfortable Situation; ich habe jetzt die Wahl, was ich drinlasse und was nicht. Ganz "ohne" würde mir zu viel verloren gehen.