Unding Episodenroman?

  • Ich interessiere mich momentan für die Form Episodenroman – will aber ein paar Warnleuchten nicht ignorieren, die bei der Beschäftigung damit aufgetreten sind.


    Ich habe im Forum gesucht und bin auf die eine oder andere Erwähnung des Begriffs gestoßen, eine Rezi zu einem Roman von Philipe Djian sowie ein Vorschlag, der zugleich Warnung ist:


    (...) bleibt dir noch der Episodenroman. Hier kannst du die drei Leben getrennt voneinander erzählen, muss aber möglichst kleinere Begegnungsszenen der Figuren, also Berührungselemente der drei ansonsten getrennten Leben schaffen. Sowas ist aber nicht einfach, wenn es durchgängig lesenswert bleiben soll, und Verlage gehen eher mit langen Zähnen an einen solchen Plot heran. Aber (...)


    Bewährte Plotwerkzeuge


    Wikipedia ist bei dem Stichwort eher wenig hilfreich: Zitate: „für die Haupthandlung verzichtbare und leicht aus dem Zusammenhang lösbare Intrigen oder Episoden“. Meint? „Der Begriff wird teilweise aber nicht grundsätzlich abwertend benutzt.“ Wie jetzt? Dann wäre „Episodenroman“ nicht immer eine Bezeichnung, wie Verlage sie auf den Titel schreiben könnten oder wollten, sondern auch mal Diffamierung? Er/sie hat – ungewollt – einen Episodenroman verfasst – igitt!


    Was macht Episodenromane eigentlich so sperrig/heikel?
    Oder sind sie das gar nicht – wenn man’s richtig anstellt?
    Wenn ja, wie stellt man’s richtig an :) ?


    Ein Episodenroman sollte – für mein Verständnis – mehr als eine Aneinanderreihung von Kurzgeschichten/Erzählungen sein, bei denen handelnde Personen wiederholt auftreten oder sich Handlungsorte oder –motive überschneiden. In einem Episodenroman könnte auch eine Geschichte aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt werden. Und sonst?


    Vielleicht habe ich mit „Die Illusion des Getrenntseins“ von Simon van Booy einen Episodenroman gelesen … Auf meinem Nachttisch liegen zwei – so bezeichnete – Episodenromane, nach deren Lektüre ich hoffentlich schlauer bin, was es damit eigentlich auf sich hat: „Hinterland“ von Feridun Zaimoglu und „In den Wäldern des menschlichen Herzens“ von Antje Rávic Strubel.


    Kennt Ihr gelungene Episodenromane? Wenn ja, warum haben sie Euch gefallen? Oder umgekehrt: Wo lagen die Probleme?

  • Ich kenne die bei Wikipedia erwähnten Am kürzeren Ende der Sonnenallee (Brussig) und Nachts unter steinernen Brücken (Perutz). Beide Romane haben mir gefallen, weil ich die idee, die dahinter steckte gut fand und mir die Ausführung gelungen schien. Es ist mir egal, ob es auch gescheiterte Episodenromane gibt. Grundsätzlich geje ich davon aus, dass diese an Idee und Ausführung gescheitert sind und nicht an der Form. Deshalb würde ich mich - als Autor - auch nicht mit solchen misslungenen Projekten auseinandersetzen, sondern versuchen, meine Idee in eine angemessene Gestalt zu bringen und Überlegungen zur speziellen Form den Literaturwissenschaftlern überlassen.

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  • Zitat

    Kennt Ihr gelungene Episodenromane?


    Stephen Kings "The Green Mile" war ursprünglich ein Episodenroman. Der Autor äußert sich im Hörbuch ausführlich zu dieser Romanform. Anja und ich haben das im vorletzten Sommerurlaub in Dänemark gehört und fanden die Ausführungen sehr interessant. Schriftliche Quellen habe ich leider nicht, aber im Zweifel hilft da schon Google mit "Stepen King + The Green Mile + Episodenroman" oder so.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Grundsätzlich würde ich davon ausgehen, dass diese an Idee und Ausführung gescheitert sind und nicht an der Form.

    Das ist wohl richtig. Der Episodenroman wird immer dann zum Problem, wenn er mehr Episode als Roman ist. Das passiert leider nicht selten meistens dann, wenn Autoren der Atem für einen Roman fehlt (oder sie sich ihn nicht zutrauen) und sie eine Reihe von Kurzgeschichten mehr oder weniger kunstvoll miteinander zu einem Roman zu verbinden trachten. Es gibt ein aktuelles Beispiel, wie so etwas misslingen kann, auf das ich aber aus bestimmten Gründen im öffentlichen Forum nicht genauer eingehen will.


    Wer einen Episodenroman schreiben will (warum eigentlich?), muss wohl trotzdem zunächst den Plot für einen Roman schreiben, den er dann in Epidoden erzählen kann, aber nur, wenn diese nicht ersichtlich nachträglich krampfig miteinander verknüpft werden, sondern ein logisches Gesamt-Erzählwerk bilden.


    Dass Verlage mit langen Zähnen an Episodenromane herangehen, liegt an der in der Regel geringen Akzeptanz dieser durch die Leserschaft. Woher genau die rührt, weiß ich nicht, kann mir aber vorstellen, dass eben diese Sperrigkeit nicht elegant geschriebener, krampfig und gewollt daherkommender Verbindungen der einzelnen Episoden miteinander die Ursache ist. So entsteht eben kein fesselnder Roman, sondern es bleibt, überspitzt gesagt, eine Geschichtenaufzählung.

  • Was genau ist ein Episodenroman? Literaturwissenschaftlich interessiert mich das so wenig wie es Horst-Dieter groß interessiert. Aber: Jennifer Egan: "Der größere Teil der Welt". Pulitzer-Preis und eines der besten Bücher, das ich seit langem gelesen habe. Lauter Short-Storys, die einen wunderbaren Roman ergeben. Im Genre-Bereich funktioniert das nicht. Aber ansonsten: Die Welt ist nicht mehr in sich konsistent. Lebensläufe zersplittern, das ist der Normalfall. Ist der Episodenroman also nicht der wirklich moderne Roman, der in diese Zeit passt, und eben nicht die chronologisch erzählte Geschichte aus einer Perspektive? Und mache ich gerade Werbung für mein Manuskript?  
    Ich schreibe ja im Moment genau das: einen Roman aus Kurzgeschichten. Die wollte ich nicht einfach zusammenpappen. Es war mehr so, dass ich eine Verbindung erkannt habe, ein übergreifendes Thema, aus dem ich ein großes Ganzes machen wollte. Und das funktioniert. Ich habe ein tolles Stipendium dafür bekommen. Ob sich das Ding auch verkaufen lässt, weiß ich noch nicht. Aber ist nicht auch Frantzens "Unschuld" ein Episodenroman?
    Ein Meister übrigens auch Michael Cunningham, Wahnsinn.

  • Es funktioniert auch im Genre.


    [buch]3257069758[/buch]


    Maeve Binchy ist auch eine tolle Autorin, die Episodenromane geschrieben hat.
    Und dann gibt es noch das eine Buch, dessen Titel ich noch weiß, aber nicht mehr die Autorin: Saving Grace. Ich fand es grandios.

  • Es war mehr so, dass ich eine Verbindung erkannt habe, ein übergreifendes Thema, aus dem ich ein großes Ganzes machen wollte.

    Genau darum geht es. Wenn das gelingt (und das ist bei allen hier genannten guten Episodenromanen, auch den sog. Genres, der Fall), ist alles okay. Leider aber ist das bei machen der Bücher mit diesem Erzählkonstrukt nicht gelungen. Unten schreibst du ja: Gut gemacht geht eben alles! Dem ist nichts hinzuzufügen. :gimme5

  • Hallo Petra,


    ich weiß von Weltbild, dass sie gelegentlich Episodenromane veröffentlichen, vor allem im Genre. Allerdings habe ich nicht mehr in Erinnerung, ob das Krimis oder Liebesromanen galt. Ich glaube, es waren die Liebesromane. Bei ihnen nennt sich das Konzept "Serials". Ich glaube auch, man muss da in sehr kurzen Abständen nachliefern.


    Liebe Grüße
    Anja

  • Ich glaube, es waren die Liebesromane. Bei ihnen nennt sich das Konzept "Serials". Ich glaube auch, man muss da in sehr kurzen Abständen nachliefern.

    Das sind dann aber keine Episoden- sondern Fortsetzungsromane.



  • Wikipedia behandelt die Begriffe "Episoden-" und "Fortsetzungsroman" synonym. Zu "The Green Mile " heißt es: "Stephen King selbst ist erklärter Anhänger des Schriftstellers Charles Dickens, der viele seiner Romane als Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen oder sogenannten Chapbooks veröffentlichte. 1996 adaptierte King die Idee der Fortsetzungsgeschichte und führte sie einer modernen Neuauflage zu. Der Autor King definiert die Fortsetzungsromane wie folgt: 'Bei einer Geschichte, die in Fortsetzungen veröffentlicht wird, gewinnt der Schriftsteller eine Überlegenheit über den Leser, die er sonst nicht genießen kann: einfach gesagt, sie können nicht vorausblättern und sehen, wie die Sache ausgeht.'" Ausführlicher äußert sich King wie gesagt im Hörbuch.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Ich habe gerade mal „The Green Mile“ aus dem Regal gezogen. Lange her, dass ich diesen Roman gelesen habe, und ich wäre auch sicher nicht darauf gekommen, dass er ursprünglich als Fortsetzungs-/Episodenroman (die Begrifflichkeiten überschneiden sich in dem Fall tatsächlich) konzipiert worden/erschienen ist.


    Als jemand, der immer begierig auf Theorie ist, käme mir eine literaturtheoretische Erklärung, so was wie „Der Episodenroman – Ästhetik und Struktur“, gerade recht :D ! Nein, damit wäre der Roman nicht geschrieben, und ja, man braucht das auch nicht zu lesen, um einen zu schreiben. Aber so’n bisschen Rüstzeug finde ich generell nicht schlecht.


    Tja, warum eigentlich Episodenroman? Die beste Antwort darauf wäre natürlich: weil es die beste aller möglichen Formen für den Stoff ist. Bei mir wird andersherum ein Schuh daraus. Bei mir war die Form zuerst da, nicht der Stoff. Um wieder ins Schreiben zu kommen, habe ich mich zu einem Seminar mit eben diesem Thema angemeldet. Nicht, dass ich schon immer einen Episodenroman schreiben wollte. Ich habe dann schnell gemerkt, dass ich die Vorgaben des Seminars für meine Zwecke etwas strapazieren muss, z. B., was den Umfang angeht. Der Episodenroman ist nicht die einzige Form für den Stoff, der mir vorschwebt, aber es ist eine geeignete. Nur so viel: Eine Handvoll Menschen begegnet sich. Die Geschichten dieser Personen will ich in den Episoden erzählen, wobei der gemeinsame Ort nicht nur irgendeine Klammer, die sich ergebenden Interaktionen untereinander nicht beliebig und nicht ohne Konsequenzen sind.


    Mal sehen, was draus wird.

  • Nach meinem Verständnis stehen beim handlungsorientierten Erzählen die weitgespannten, romanstrukturierenden Handlungsstränge im Vordergrund, während beim episodischen Erzählen Figuren, Form und Sprache und andere handlungshemmende Momente (Reflexionen, Theorien, Exkurse etc. etc.) Vorrang haben. Episodische Romane können selbstverständlich auch zu dicken (bzw. mehrbändigen) Wälzern werden: Goethe: Wanderjahre;Joyce: Ulysses; Proust: Recherche; A. Schmidt: Zettels Traum...

  • Petra, ich lese derzeit: Die Träumenden (Amanda Eyre Ward)


    Das ist ein Episodenroman. Ich bin noch ziemlich am Anfang, musste mich erst an den totalen Wechsel der Figuren und damit ihrer Geschichte gewöhnen. Ich lasse mich darauf ein und bin gespannt, wann alle Figuren doch miteinander verwoben werden oder die ein mit dem anderen zu tun hat.

  • Wikipedia behandelt die Begriffe "Episoden-" und "Fortsetzungsroman" synonym.

    Nun, das ist eben Wikipedia. In der Literaturwissenschaft - auch wenn schon einige erklärt haben, die interessiere sie nicht - sind das zwei völlig verschiedene Sachen. Der Episodenroman ist gekennzeichnet durch mehrere voneinander scheinbar unabhängige Erzählstränge, die vom Autor dennoch durch (meist überraschende) Überlappungen zu einem stringenten Roman verwoben werden. Ein aktuelles Beispiel ist dies:

    [buch]3894256745[/buch]


    Dagegen ist zum Beispiel Green Mile ein klassischer Fortsetzungsroman, also ein in sich geschlossener Erzählstrang an gleichem Ort und mit denselben Personen, der lediglich durch "scheibchenweise" Veröffentlichung auseinandergerissen wird. Dies war ein sehr umsatzfördernder Trick von King und seinem Verlag. Früher, als noch viel mehr Zeitungen gelesen wurden, war der Fortsetzungsroman gang und gäbe. Nachdem dann die letzte Folge im Tageblatt erschienen war, kam das Ganze in den meisten Fällen als das Buch heraus, als das es von vornherein angelegt war.


    Eine andere Art des Fortsetzungsromans sind die von Anja genannten Liebes- oder Kriminal- (gern auch Arzt-) Romane, die mit denselben Protagonisten alle 14 Tage eine neue Geschichte (in diesem Fall auch eine "Episode", aber dadurch wird das Ganze eben doch kein Episodenroman) erzählen. Jerry Cotton lässt grüßen.

  • Um noch eine Komponente beizusteuern: Robert Altman hat aus verschiedenen Erzählungen Raymond Carvers den Film "Short Cuts" gemacht. Zitat Wikipedia: "lose miteinander verbundenen Handlungsstränge entwickeln ein komplexes Geflecht" - ohne Haupthandlung.


    Vielen Dank an dieser Stelle für die vielen Buchtipps!

  • Nach meinem Verständnis stehen beim handlungsorientierten Erzählen die weitgespannten, romanstrukturierenden Handlungsstränge im Vordergrund, während beim episodischen Erzählen Figuren, Form und Sprache und andere handlungshemmende Momente (Reflexionen, Theorien, Exkurse etc. etc.) Vorrang haben.


    Auf den Punkt, Jürgen. Und die Erklärung dafür, warum der Episodenroman bei Leserschaft und Verlagen als eher schwierig eingeschätzt wird. Er verlangt dem Leser Eigenarbeit ab.
    Ich stehe noch frisch unter dem Eindruck der Lektüre von Heikes Manuskript und kann bestätigen, dass es mir eine gewisse "Einarbeitungszeit" abverlangt hat, den vielen Fäden zu folgen, die Heike in ihrem Episodenroman ausgelegt hat. Aber es hat funktioniert und ich habe die Geschichte mit großem Gewinn gelesen.

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt