Konjunktiv 2 - wirklich mausetot?

  • Gestern haben sich wieder Kollegen unterhalten und behauptet, die Schüler kennten keinen Konjunktiv 2 mehr. Ich finde, das ist Unsinn. Okay, sie "kennen" ihn vielleicht nicht, aber sie "können" ihn durchaus und benutzen ihn permanent.
    Beispiele:
    1)

    Zitat

    ich dürfte, könnte, möchte, wüsste, sollte, wollte, bräuchte


    Dies ist ja eine besondere, sich seit dem Mittelhochdeutschen kaum veränderte Wortgruppe: die Modalverben.
    2)

    Zitat

    ich wäre, hätte, würde


    3)

    Zitat

    ich wüsste, täte


    Das ist doch schon mal eine Hausnummer, oder? Mit den Modalverben werden immerhin die Bedingungen unseres Denkens und Handelns ausgedrückt, außerdem sind sie kombinierbar mit allen anderen Verben. Und "wissen" und "tun" bilden laut Goethes Faust das Fundament der menschlichen Existenz. So versucht er ja das biblische "Am Anfang war das Wort (logos)" mit: "Im Anfang war die Tat" zu übersetzen. Das bedeutet doch: Die Konjunktiv-2-Form steht weiterhin im Zentrum unserer Sprache und erlaubt uns, unser Denken und Handeln auf die (mögliche) Zukunft zu richten.
    Übertreibe ich?
    Viele Grüße
    Jürgen

  • Das bedeutet doch: Die Konjunktiv-2-Form steht weiterhin im Zentrum unserer Sprache und erlaubt uns, unser Denken und Handeln auf die (mögliche) Zukunft zu richten.
    Übertreibe ich?

    Hallo Jürgen,


    ja du übertreibst. Aber das macht doch nichts.


    Nee, im Ernst, das ist spannend und läuft glaube ich auf die Frage hinaus, wie genau Sprache und Denken zusammenhängen. Sie beeinflussen sich, das ist - denke ich - klar. Aber sie scheinen sich nicht absolut zu bedingen. Soll heißen, man kann auch Dinge denken, die man nicht sagen kann. Oder anders: Man kann sich eine (mögliche) Zukunft vorstellen, ohne den Konjunktiv II zu beherrschen oder auch nur zu kennen.
    Aber mithilfe des Konjunktiv II kann man vielleicht eine Nuance genauer darüber sprechen als ohne Konjunktiv II, in jedem Fall aber kann man kenntlich machen, dass es sich lediglich um eine Vorstellung handelt. Und das wiederum beeinflusst vermutlich mein Denken. Vermutlich.


    Christoph

  • Gestern haben sich wieder Kollegen unterhalten und behauptet, die Schüler kennten keinen Konjunktiv 2 mehr. Ich finde, das ist Unsinn. Okay, sie "kennen" ihn vielleicht nicht, aber sie "können" ihn durchaus und benutzen ihn permanent.
    ...

    Na, wenn es danach ginge, was Schüler (und nicht nur diese) in Sachen Sprache kennen (also benennen können), wäre unsere Sprache komplett tot.  
    Aber Spaß beiseite: Ich gebe dir Recht! Unsere Grammatik lässt das Malen sagenhaft hoher Gebäude in weiter Landschaft zu. Love it!

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    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt


  • Hallo Christoph,
    bei mir ist es häufig so, dass sich der Gedanke zuerst als eine Art Ahnen meldet und erst beim Schreiben klar(er) wird. Andere Menschen verfertigen ihre Gedanken beim Sprechen. Du siehst, ich tendiere eher zur Auffassung, dass Denken nur mit dem Werkzeug und im Medium der Sprache möglich ist.
    Worauf ich mit meiner These aber hinauswill, ist dieses: Alle Sprecher der deutschen Sprache beherrschen (im Sinne von "können", aber nicht notwendigerweise von "kennen") den Konjunktiv 2 und sind damit (prinzipiell) in der Lage, Pläne über die Zukunft etc. zu schmieden, in Angriff zu nehmen und zu verwirklichen. Beleg dafür sind die gebräuchlichen Formen des K 2 bei den Modalverben ("müsste", "sollte"). Zugespitzt ausgedrückt: Obwohl auf gesellschaftspolitischer Ebene der Begriff der Utopie häufig ins Lächerliche gezogen und diskreditiert wird, ist das "Prinzip Hoffnung" (Ernst Bloch) in uns (als Bedingung des Denkens, eben als Sprache) verankert, empirisch nachweisbar am täglichen Gebrauch des K 2.
    Viele Grüße
    Jürgen

  • … ich tendiere eher zur Auffassung, dass Denken nur mit dem Werkzeug und im Medium der Sprache möglich ist.


    Wir hatten diese Diskussion schon einmal hier im Forum. Vor langer Zeit. Ich bin der Auffassung, dass "Denken" schon vor der Sprache beginnt. Irgendwo zwischen reinem "Wahrnehmen" und "aussprechendem Denken" liegt der Punkt (für mich), an dem Denken beginnt. Und da ist noch keine Sprache!

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    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Wir hatten diese Diskussion schon einmal hier im Forum. Vor langer Zeit. Ich bin der Auffassung, dass "Denken" schon vor der Sprache beginnt. Irgendwo zwischen reinem "Wahrnehmen" und "aussprechendem Denken" liegt der Punkt (für mich), an dem Denken beginnt. Und da ist noch keine Sprache!


    Hallo Horst-Dieter,
    man kann natürlich unter "Denken" all die Vorgänge verstehen, die einem gerade so durch den Kopf schießen. Aber ob das weiterhilft? (Bildhaftes, vorbegriffliches) "Vorstellen" wäre dafür vielleicht der bessere Terminus. Meines Erachtens sollte man sich "Denken" immer für das im engeren Sinne "begriffliche Denken" reservieren, und dann wäre Denken immer mit Sprache verbunden.
    Viele Grüße
    Jürgen

  • Begriffliches Denken beginnt "Vor der Sprache". Behaupte ich. Und damit meine ich noch nicht das einfache Wahrnehmen.


    Oder anders gesagt: Damit Sprache beginnen kann, muss vorher etwas passieren.

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  • Begriffliches Denken beginnt "Vor der Sprache". Behaupte ich. Und damit meine ich noch nicht das einfache Wahrnehmen.


    Oder anders gesagt: Damit Sprache beginnen kann, muss vorher etwas passieren.


    Das erinnert mich an einen seehr langen und teilweise seeehr frustrierenden Thread von vor über vier Jahren. Irgend so ein Penner namens Hugo hat den damals eröffnet.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Begriffliches Denken beginnt "Vor der Sprache". Behaupte ich. Und damit meine ich noch nicht das einfache Wahrnehmen.


    Oder anders gesagt: Damit Sprache beginnen kann, muss vorher etwas passieren.


    Frage: Wie sollen Antizipationen, also gedankliches Vorgreifen auf die Zukunft, ohne Denken, das heißt ohne gedankliches Abstrahieren von der sinnlichen Erfahrung des gegenwärtig Bestehenden vonstatten gehen? Der Gedanke: "Wir sollten / müssten / könnten / möchten Konflikte ohne Blutvergießen lösen." ist doch nur möglich, weil wir a) von der bedrückenden Gegenwärtigkeit der allgemeinen Barbarei absehen, also denken (die ganze Infamie der Utopie-Verächter besteht darin, dass sie unter dem Label des "Realismus" von uns verlangen, dass wir das Denken aufgeben sollen), und b) uns der K 2 als Mittel des Ausdrucks des Gedankens zur Verfügung steht.


  • Frage: Wie sollen Antizipationen, also gedankliches Vorgreifen auf die Zukunft, ohne Denken, das heißt ohne gedankliches Abstrahieren von der sinnlichen Erfahrung des gegenwärtig Bestehenden vonstatten gehen?…


    Keine Ahnung! Ich behaupte auch nicht, dass so etwas möglich ist. Ich habe mit meinen Anmerkungen zum Denken nur auf deine Behauptung reagiert, das Denken nur mittels Sprache möglich ist. Das bestreite ich und behaupte, dass es ein erweitertes Denken gibt, eines, das bereits "vor der Sprache beginnt". Dass dir diese Vorstellung unangenehm ist, nehme ich zur Kenntnis. Auf die nun angestoßene Diskussion mag ich mich gar nicht einlassen, weil sie a) unsinnig ist und b) von deinem Thema in diesem Fred ablenkt.

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