Abteilung 4: Die unbekannten Bekannten (1): Anna Ritter

  • Ich wollt‘, ich wär‘ des Sturmes Weib


    Ich wollt‘, ich wär‘ des Sturmes Weib,
    Es sollte mir nicht grausen,
    Auf Felsenhöhen wohnt‘ ich dann,
    Dort, wo die Adler hausen.
    Die Sonne wäre mein Gespiel,
    Die Winde meine Knappen,
    Mit dem Gemahl führ‘ ich dahin
    Auf flücht’gem Wolkenrappen.


    Frei würd‘ ich sein und stolz und groß,
    Die Königin der Ferne,
    Tief unter mir die dumpfe Welt
    Und über mir die Sterne!



    Wer hier so vehement den Wunsch nach Freiheit in Verse bannt, ist Anna Nuhn. Unter diesem Namen wird sie am 23. Februar 1865 in Coburg geboren. Ihre Kindheit und Jugend verlebt sie in New York, der französischsprachigen Schweiz und in Kassel. Hier verlobt sie sich auch mit dem späteren Regierungsrat Rudolf Ritter, dem sie 1884 das Ja-Wort gibt. Ihr literarisches Werk, das sehr spärlich ist, verfasst sie später unter dem Namen Anna Ritter.


    Der frühe Tod ihres Mannes trifft die dreifache Mutter 1893 schwer. Sie lässt sich in Frankenhausen/Thüringen nieder und entdeckt hier die Dichtkunst für sich.


    Ich glaub‘, lieber Schatz …
    Unter den blühenden Linden –
    Weißt du’s noch?
    Wir konnten das Ende nicht finden,
    Erst küßtest du mich,
    Und dann küßte ich dich –


    Ich glaub‘, lieber Schatz, es war Sünde,
    Aber süß, aber süß war es doch!
    Der Vater rief durch den Garten –
    Weißt du’s noch?
    Wir schwiegen … der Vater kann warten!


    Erst küßtest du mich,
    Und dann küßte ich dich:
    Ich glaub‘, lieber Schatz, es war Sünde,
    Aber süß, aber süß war es doch.



    1898 erscheint ihr erster Gedichtband ohne Titel, 1900 folgt die Sammlung „Befreiung“. Ebenfalls im Jahr 1900 beginnt ihre Mitarbeit für die überaus populäre Zeitschrift „Die Gartenlaube“. Ihre Novelle „Margharita“ veröffentlicht sie 1902, außerdem folgt ein Reisetagebuch.


    Auch wenn sie sich humorvoll zum Thema der Emanzipation äußert, ist ihr lyrisches Werk geprägt von einer rückwärtigen Sicht auf eine ins Schöne verklärte Vergangenheit.


    Der Papa


    Da kennt so ein Mann nun die halbe Welt
    Und weiß nicht, wie man ein Kindchen hält
    Und hat von den allernothwendigsten Sachen
    Noch gar keine Ahnung – es ist zum Lachen. –
    Und das will nun für den preußischen Staat
    Über Frauen und Kinder Gesetze machen!


    Was uns Anna Ritter unvergesslich macht, ist ein Thema, welches uns Jahr für Jahr wieder beschäftigt:


    Rauhreif vor Weihnachten


    Das Christkind ist durch den Wald gegangen,
    Sein Schleier blieb an den Zweigen hangen,
    Da fror er fest in der Winterluft
    Und glänzt heut‘ morgen wie lauter Duft.
    Ich gehe still durch des Christkinds Garten,
    Im Herzen regt sich ein süß Erwarten:
    Ist schon die Erde so reich bedacht,
    Was hat es mir da erst mitgebracht!


    Wenn nun der geneigte Leser diese Zeilen nicht kennt, so möge er sich ein wenig gedulden. Ich möchte es doch gern ein wenig spannend machen. Denn die folgenden Zeilen hat bestimmt jeder schon gehört, musste sie vielleicht sogar auswendig lernen. Aber bevor ich nun darüber philosophiere, ob das Auswendiglernen von Gedichten sinnvoll ist oder nicht, wenden wir uns lieber den berühmtesten Zeilen zu, die Anna Ritter zu Papier brachte.


    Vom Christkind


    Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen!
    Es kam aus dem Walde, das Mützchen voll Schnee,
    mit gefrorenem Näschen.
    Die kleinen Hände taten ihm weh,
    denn es trug einen Sack, der war gar schwer,
    schleppte und polterte hinter ihm her.
    Was drin war, möchtet ihr wissen?
    Ihr Naseweise, ihr Schelmenpack –
    meint ihr, er wäre offen, der Sack?
    Zugebunden bis oben hin!
    Doch war gewiss etwas Schönes drin:
    Es roch so nach Äpfeln und Nüssen!


    Keines ihrer Bücher ist lieferbar, ihr lyrisches Werk ist völlig in Vergessenheit geraten. Einige wenige Gedichte lassen sich im Internet finden:


    http://www.wortblume.de/dichterinnen/ritter_i.htm


    http://gedichte.xbib.de/gedicht_Ritter.htm


    http://www.deutsche-liebeslyrik.de/ritter.htm


    https://de.wikisource.org/wiki/Anna_Ritter


    Mit den Zeilen „Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen“ hat sich Anna Ritter in unser Gedächtnis geschrieben, sie selbst ist uns vollkommen unbekannt geworden.


    Ihr Wolf P. Schneiderheinze

  • Zu: "Mit den Zeilen „Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen“ hat sich
    Anna Ritter in unser Gedächtnis geschrieben, sie selbst ist uns
    vollkommen unbekannt geworden."


    Mal wieder der Beweis, daß ich irgendwie nie zu "uns" gehöre...


    Vor vielen Jahren schon meinte ein alter Freund zu mir: "Wo hast du eigentlich noch nicht gewohnt...?"


    Einst wohnte ich im Zachariä-Haus in Bad Frankenhausen, seynerzeith noch Bezirk Halle (heute Sachsen-Anhalt). Es war das Geburtshaus von Justus Friedrich Wilhelm Zachariä, der dort am 1. Mai 1726 zur Welt kam - im Volksmund auch "das Haus der Dichter und Denker" genannt, oder das Haus mit den zwei (Holz) Säulen" (welche zusammen mit dem barocken Fassadenschmuck nach der Wende wegsaniert worden). Auf der anderen Seite des Frankenhäuser Marktes lag das Ritterhaus, Schloßstraße 2, nach Anna Ritter benannt. Seynerzeith war die Erinnerung an die Dichterin noch sehr lebendig, und auch ich beschäftigte mich mit ihrem Werk - wie natürlich auch mit jenem des Justus Friedrich Wilhelm Zachariä. Zu ihrer Zeit (1893 bis 1901) gehörte Frankenhausen am Kyffhäuser als Exclave zum Fürstentum Schwarzburg-Rudolstadt am Oberlauf der Saale um Saalfeld. Dies änderte sich erst 1920 mit der Gründung des Landes Thüringen (und erst 1927 erhielt Frankenhausen den Zusatz "Bad").


    MfG Walter