Staunen für hundert Jahre

  • Ich kam von der Odenberger Straße, überquerte die Eberswalder Straße und stand vor diesem Kasten, der mich schon von der anderen Straßenseite angelächelt hatte. Genau genommen waren es zwei Kästen, nicht exakt gleich, mit Türen und Vorhängen, unegal zueinander, hätten wir früher als Kinder gesagt. „Photographiere dich selbst!“ riet ein Schild, und rote Zahlen versprachen 4 Aufnahmen für 2 €. Ein »Projekt Photoautomat« stellt seit 2004 alte analoge Passfotoautomaten in Berlin auf.


    »Soll ich?«, ging es mir durch den Kopf, und fast zeitgleich sagte ein anderer Mann, den ich gar nicht hatte herankommen hören: »Alte analoge Automaten. Ob die noch funktionieren?« Provozierend erwiderte ich: »Probieren wir es aus! Zwei Euro sind nicht die Welt.« Er ging rechts hinein und ich links, zog den Vorhang vor. Das Zwei-Euro-Stück verschwand im Schlitz. Und nun? Schwach konnte ich in einem Spiegel den Hinweis erkennen, auf welcher Höhe meine Augen sein sollten. Da nichts passierte, drückte ich auf einen großen runden Knopf. Es passierte immer noch nichts, zumindest nicht sofort. Vielleicht eine Viertelminute später blitzte es. Erschrocken nahm ich meinen Hut ab. Wenn schon, wollte ich auch Fotos ohne Hut von mir haben. Es blitzte noch dreimal. Ich verließ den Kasten und sah auf den Auswurfschlitz. Was ich vorher nicht gesehen hatte, fiel mir nun auf: Die Photoausgabe sollte erst in 5 Minuten erfolgen. Also gut. Warten.


    Ich ging herum, fotografierte die Straße, ein Graffiti, die Nebelkrähe hinter dem Automaten, schaute immer wieder zum Auswurfschlitz. Der andere Mann hatte sich auf einen Steinblock gesetzt, wartete aber ebenso sehnsüchtig auf sein Ergebnis. Zuvor hatte er sich noch beschwert, dass er beim ersten Blitz noch gar nicht richtig positioniert war. »Das ging ja so schnell!« Nach gefühlt einer Stunde rappelte es kurz im Automaten und meine Fotos lagen als langer Streifen im Schacht. Auch der Mann war aufgesprungen. »Bei ihnen hat’s geklappt?« Es klang enttäuscht, so, als hätte er die Niete gezogen. Es rappelte noch einmal. »Bei ihnen auch«, sagte ich. Erfreut holte er sich seinen Streifen aus dem Fach. Meines war längs, seines quer. Wir verglichen unsere Fotos, freuten uns kurz über den erfolgreichen, gemeinsamen Versuch – dann trennten wir uns. Ich verstaute meine Fotos in meiner Kameratasche und besuchte anschließend den Mauerpark.


    Als ich später unserer Tochter von meiner phänomenalen Entdeckung erzählte, zeigte sie mir Fotos, die sie selbst aus solchen Apparaten gezogen hatte. Alleine und mit Freunden. Der Spaßfaktor war auf ihren Bildern deutlicher zu sehen als auf meinen. »Das nächste Mal«, dachte ich, »mache ich das anders. Mit mehr Experimentierlaune.« Aber diese Entdeckerfreude hatte auch was. Das Staunen ist auch ein wenig in den Bildern zu sehen. Angeblich sollen die Fotos 100 Jahre überdauern. In der Regel hält ein Staunen so lange nicht vor.


    Ihr Horst-Dieter Radke