Ruth Rehmann, Fremd in Cambridge - Tell, don't show

  • Ruth Rehmann, geb. 1922, ist bekanntgeworden durch ihren 1979 erschienenen Roman „Der Mann auf der Kanzel“. Wie Christoph Meckel in „Suchbild“ und Brigitte Schwaiger in „Lange Abwesenheit“ (beide 1980) versucht auch Rehmann eine Auseinandersetzung mit dem privaten Vater und dem politischen Vater, der den Kindern fremd wird durch seine Nähe zum Nationalsozialismus, nicht nur in den 30er und 40er Jahren, sondern auch später.
    Rehmann hat seit ihrem ersten Buch, das 1959 erschien, öfter mit großen Abständen veröffentlicht.


    Vor Kurzem nun habe ich Rehmanns Roman „Fremd in Cambridge“ (EA 1999; dtv 2004: ISBN 978-3-423-13156-X) aus dem Regal gezogen, der dort schon lange ungelesen steht: Zur Geburtstagsfeier der Studienrätin Elisabeth Götte hat ein Gast einen jungen Engländer, Jeremy Pearl, mitgebracht, den er soeben aus einer misslichen Situation im deutschen Straßenverkehr hatte befreien können. Einige Wochen später nimmt Elisabeth Götte, die dafür spontan ein Sabbatjahr beantragt hat, Jeremys Gegeneinladung an, bei ihm und seinen Eltern in einem ländlichen Vorort nahe Cambridge eine gewisse Zeit zu verbringen. Sie ist in dem engen Häuschen zur Untätigkeit verdammt, beobachtet das Verhalten ihrer Gastgeber und ihr eigenes im Wechselspiel, reflektiert Leben, Beruf,
    Philosophie (Wittgenstein, Russell), wechselseitige Urteile und Vorurteile, die britische Politik der Zeit (nach dem Falkland-Krieg). - Wenig äußere Handlung also, aber ich erst etwa ein Viertel der 160 Seiten gelesen.


    Sehr schnell aber wird dem Leser Rehmanns Kunst des Tell, don't show deutlich, die die Position(en) des Menschen in seiner Umgebung, in seiner Umwelt
    beschreibt. Selbstverständlich sprechen und handeln die Figuren (show), doch werden verbale und nonverbale Kommunikation sowie Reflexionen über
    eigenes Verhalten und das Verhalten anderer überwiegend nicht in szenischer Anschauung, sondern aus der Distanz des interpretierenden Berichts vermittelt (tell): „Von der Familie werden ihre Streifzüge mit amüsiertem Erstaunen wahrgenommen, weil hier alles, was über den Garten hinausgeht, mit dem Auto gefahren wird.“ (S. 22)


    Hans Krieger, in einer Rezension, aus der auf der Rückseite zitiert wird, attestiert dem Roman, dass er „mit einem Minimum an Stoff unendliche Horizonte öffnet“. So ist es tatsächlich. Nimmt in einem epischen Text diese Art des Erzählens, die immer wieder Deutungen des Dargestellten anbietet, breiten Raum ein, statt dass die anschauliche Formung von Figuren, Gegenständen, Szenerien bevorzugt wird, so kann das manche Leser langweilen, die eher ein Mainstream-Erzählen schätzen. Aber man darf die unterschiedlichen Typen der Narration nicht gegeneinander ausspielen; in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft hat erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts diese Art, erzählende Texte zu werten, abgenommen. Nicht mehr „E“ = ernsthaft ist gut und „U“ = unterhaltend ist schlecht, sondern ein Text ist innerhalb eines Genres oder über seine Grenzen hinweg überzeugend, komplex, innovativ und damit ästhetisch gelungen, oder eben nicht. Wie Stifter erzählt, wie Austen erzählt, kann man langweilig nennen (ich nicht), aber damit gibt man ein Geschmacksurteil ab, (noch) nicht ein nach sachlichen Kriterien überzeugendes.

    Non quia difficilia sunt, multa non audemus, sed quia non audemus, multa difficilia sunt. Seneca
    [Nicht weil es schwierig ist, wagen wir vieles nicht, sondern weil wir es nicht wagen, ist vieles schwierig.]