Wir hatten uns die Karten schon im letzten Jahr besorgt, vorausschauend, dass an der Abendkasse oder kurz vorher keine mehr zu bekommen sind. Was auch eintraf. Eingeladen hatte die Buchhandlung Rupprecht. Wir fuhren frühzeitig los, um einen guten Platz zu bekommen, standen dann schon mit einem kleinen Grüppchen vor der Buchhandlung und sahen zu, wie innen die Stühle gerichtet wurden. Mitarbeiterinnen mit Zollstöcken maßen die Abstände aus. Auch Rafik Schami war schon da, stand souverän in dem Hin und Her, beteiligte sich aber mit Gesten und offensichtlich auch Gesprächen an all den Vorbereitungen.
Dann durften wir hinein, erwischten günstige Plätze, hatten Gelegenheit Bücher anzusehen und zu kaufen und meine Frau nutze die Chance, ohne Gedrängel und Anstellen den Autor gleich um die Signatur eines Buches zu bitten. Wenig später stand er in einer Menschentraube und entjungferte ein hingehaltenes Buch nach dem anderen durch seine Unterschrift. Dann war es soweit, nach kurzer Vorstellung durch die Inhaberin der Buchladenkette, Maria Rupprecht, trat der Autor vor das Mikrofon. So blieb das auch. Er setzte sich nicht hin, nahm kein Buch in die Hand, sprach und erzählte frei. Ein Buch hätte vermutlich auch gestört, denn seine Hände und Arme, sein ganzer Körper erzählten mit.
Zunächst sprach er über den Zustand, in dem sein Land Syrien sich befindet und fokussierte dann auf diejenigen, die am meisten unter diesen Zuständen zu leiden haben: die Kinder. Dann fasste er in wenigen Sätzen die Kultur der Araber, die aus der Wüste geboren und dem daraus erwachenden Überlebenswillen geboren ist, zusammen. Als nächstes führte er uns durch Damaskus, seine Stadt, durch die Stadt, in der er seine Kinder- und Jugendjahre erlebt hatte. Das machte er so plastisch, das man das Gefühl bekam, mit ihm durch die Straßen zu gehen. Und immer wieder sind es Geschichten, die er an Gebäude und Plätze bindet. Geschichten von Menschen, die plötzlich zu leben anfangen. Er bittet um Verständnis, dass er dies und jenes noch erzählen muss, aber gleich werde man umkehren und nicht mehr weitergehen. Tatsächlich befindet man sich bald auf dem Rückweg, der keineswegs weniger Geschichten enthält als der Hinweg.
Als er fertig ist und sich bedankt, bin ich überrascht. Wie? Zu Ende? Er hat doch gerade erst angefangen. Ein Blick auf die Uhr belehrt eines besseren. Er hat vor einer Ewigkeit angefangen, aber Rafik Schami ist ein Zauberer, der die Kunst beherrscht, die Zeit anzuhalten. Oder auch nicht, aber sie spielt keine Rolle mehr, wenn dieser Mann da vorne steht, sich bewegt die Arme weit schwingt und wieder zusammenholt. Die Zeit ist zu einer Nebensächlichkeit geworden. Ich hätte die ganze Nacht zuhören können, ohne Müdigkeit zu spüren. Vielleicht wäre ich dann am anderen Morgen einfach umgefallen und hätte einen Tag lang durchgeschlafen, aber was hätte das schon ausgemacht. Ich spüre schon jetzt, dass ich morgen Abend bedauern werde, dass es nicht wieder eine Lesung dieses Geschichtenzauberers gibt.
Und jetzt im Nachsinnen geht mir die ganze Vielfalt dessen auf, was Rafik Schami erzählt hat. Er berichtete davon, wie die kleinen Jungen mit in das Frauenbad durften, wie er es geliebt hat, unter diesen Frauen, die schwatzten, erzählten, tanzten, sangen, aßen und tranken zu sein und welcher Verlust es für ihn war, als es eines Tages hieß: du kommst jetzt nicht mehr mit, du gehst mit Vater baden. Beim Zuhören spürte man den Verlust mit, den der Junge erlitten hatte. Er erzählte von Scheherezade und der Radiosendung des syrischen Rundfunks, die über zwei Jahre die kompletten Märchen aus Tausendundeiner Nacht gegen Mitternacht ausstrahlten. Er berichtete, wie er da seine erste Schule im Geschichtenerzählen erhielt, wenn er nach der Sendung im Bett lag, nicht schlafen konnte, weil er sich ausdenken musste, wie es weiterging. Was ihm regelmäßig misslang.
Wenn ich es für einen Augenblick schaffte, meine Konzentration vom Erzähler wegzulenken, dann sah ich Frauen, die mit offenem Mund zu Rafik Schami aufschaute, Männer, die ihre Coolness verloren hatten, die sie zuvor noch zur Schau und in die Buchhandlung getragen hatten. Und ich möchte wetten, dass, wenn die Lesung tagsüber gewesen und Kinder zugelassen wären, sie zu seinen Füßen gesessen hätten.