Der Anschlag auf Charlie Hebdo ...

  • Unser österr. Bundeskanzler wies in seiner heutigen Trauerrede anlässlich der Terroranschläge ausdrücklich darauf hin, dass diese schrecklichen Taten keinesfalls auf den religiösen Hintergrund der Täter zurückgeführt werden dürften. Deren Motivation hätte nämlich mit dem Islam überhaupt nichts zu tun. Ein Stehsatz, der mir reflexartig aus so gut wie allen Medien entgegenschlägt. Und das nach jedem Attentat dieser Art. Ich frage mich nur, worauf derartige Verbrechen dann zurückzuführen sind? 8-)


    Darauf, das diese Attentäter durchgeknallt und verrückt sind.


    Schau mal hier. Die Mehrheit aller Morde passieren außerhalb von Krigsgebieten.
    In New York wird fast jeden Tag ein Mensch ermordet. das sind nicht alles Islamisten. Sondern durchgeknallte Idioten. Genau wie die Attentäter in Paris. Die einen berufen sich auf Blutrache, die anderen auf Aliens, die ihnen den Auftrag gegeben haben, die meisten sind wütend, manchmal ist Allah im Spiel und hat sie angeblich berufen, manchmal ist es die Bibel und der Wille, das Abendland sauber zu halten.
    Gründe gibt es viele und es gibt auch viele Möglichkeiten Schriften auszulegen. Keine der religiösen Schriften ruft jedoch zu Mord auf. Keine.

  • Hallo, Ulli.


    Es ist eine nachvollziehbare Überzeugung/Erklärung/Ausrede, dass die Menschen, die Gewalttaten im Namen ihrer Religionen oder sonstigen Überzeugungen verüben, einfach nur durchgeknallt oder wahnsinnig oder sonstwie gestört sind. Schließlich sind ihre Taten ganz offensichtlich wahnsinnig, durchgeknallt und vieles andere mehr. Es kommt mir aber sehr vereinfachend vor, jeden, der Gewalt anwendet, einfach als irre zu kategorisieren, also auf eine psychische Störung zu reduzieren, und die in diesem Fall mindestens erklärungsbedürftigen Ursachen der Störung auszublenden. Womit auch längst noch nicht gesagt ist, dass eine vorliegt. Wir - wenigstens einige von uns - nennen umgekehrt Leute "Märtyrer", die für ihre Überzeugung gestorben sind, also die Gewalt gegen sich selbst in Kauf genommen, in gewisser Weise zugelassen haben, Gewalt, die sie hätten vermeiden können, wenn sie ihre Überzeugung verleugnet hätten. Zum Beispiel die Redakteure der "Charlie Hebdo". Ich fürchte, ganz so einfach ist es nicht.


    Zitat

    Keine der religiösen Schriften ruft jedoch zu Mord auf. Keine.


    Die religiösen Schriften tun aktiv überhaupt nichts. Es sind Schriften, Texte - nichts weiter; sie sind nicht tätig, sie machen nichts. In diesem Zusammenhang sei auf Alexanders Ausführungen zum Thema "Hermeneutik" verwiesen. Man kann nahezu allen bekannten "heiligen" Schriften alles mögliche entnehmen, je nach Lesart, Schule, Einfluss, Übersetzung, Überlieferung und Zeitalter. Bibel wie Koran enthalten sehr viele Informationen, Gebote, Verbote, Anweisungen, einige davon sind vergleichsweise eindeutig, andere kaum. Was ich mit dem, was in diesen Texten enthalten ist, anfange, hängt nicht überwiegend von ihnen selbst ab, sondern davon, wie sie adaptiert und interpretiert werden - aber auch davon, wie ich sie verstehen will. Bibel wie Koran lassen viele Interpretationen und Adaptionen zu, und beide erlauben absolut eine sehr aggressive Interpretation. Es gibt Koransuren, die man als Aufforderung zur Tötung der Ungläubigen verstehen kann, und es gibt Bibelabschnitte, für die das ebenso gilt. Beide Werke lassen aber auch die exakt gegenteilige Auslegung zu. Die Bücher sind an und für sich nicht gut oder schlecht, was ihre Inhalte anbetrifft (schließlich sind es nur erdachte Erzählungen; "Hänsel und Gretel" fordert nicht dazu auf, kleine Kinder zu essen, aber man könnte diese Botschaft dem Text entnehmen), aber die Suche nach der Intention ihrer Autoren lässt nahezu jedes denkbare Motiv zu. Das macht die Gefahr aus, wenn man diese Texte zu "heiligen Schriften" erklärt und daherbehauptet, sie stammten von Gott, der ja schließlich die hypothetisch höchste bekannte Macht darstellt. Erst in diesem Kontext wird es problematisch. Dazu kommt, dass keine der Interpretationen nachprüfbar ist; sie sind alle zugleich richtig und falsch. Deshalb gibt es Konfessionen, Strömungen, Gruppen und Grüppchen. Alle berufen sich auf die gleichen Schriften, und sie glauben alle, dass sie richtig liegen.


    Man könnte jetzt über viele Aspekte reden - Erziehung, ethnische Zugehörigkeit, Zustand des umgebenden Nationalstaats, Konfliktsituationen, wirtschaftliche Fragen usw. Es gibt diesen ästhetisch unattraktiven Begriff "Lynchmob". Leute, die gemeinsam in Rage geraten, gemeinsam ein Ziel anvisieren und dann vernichten. Dieses Phänomen ist kulturübergreifend bekannt, und in verschiedenen Größenordnungen. Nach verrichteter Tat die Motive - die eigenen Motive - zu erkennen, den Moment, in dem die Werte zusammengebrochen sind, das Tier im Menschen die Oberhand gewonnen hat (ich weiß, eine Tieren gegenüber ungerechte Formulierung, Schulljung), das gelingt vermutlich wenigen von den Leuten, die so etwas aktiv miterlebt haben. Aber "durchgeknallt" waren sie sehr wahrscheinlich nicht. Ich weiß nicht, ob verständlich wird, was ich mit diesem Beispiel sagen will, aber es ist auch halb zwei Uhr nachts und ich habe einen langen Tag hinter mir. In diesem Sinne: Frieden für die Welt!

  • Der unermüdliche Todenhöfer (dem - bei aller von ihm bemühten Polemik - im Nachhinein noch Weit- und die nötige Umsicht bescheinigt werden wird, da bin ich mir immer noch sicher) hat sich unter sie IS-Kämpfer getraut und einen Deutschen unter ihnen interviewt:
    Auf seiner facebook-Seite zu sehen: https://www.facebook.com/video.php?v=10152723644955838

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Liiieber Tom,

    Zitat
    Gibt es Dir nicht zu denken, dass ich als gläubiger Christ permanent den Islam gegenüber Dir als ... hüstel: überzeugtem Atheisten verteidige?



    Nee. Erstens habe ich nicht diesen Eindruck und zweitens wärst Du wahrscheinlich Muslim, wärst Du nicht zufällig in Europa geboren worden, als (vermute ich) Kind christlicher Eltern.


    Stimmt. Wenn ich ein anderer wäre, könnte ich alles mögliche sein. Auch Hindu, Bahai oder Laternenanbeter. Ich bin aber ich. Da du meine Eltern ins Spiel bringst: Mein Vater ist hardcore anti-religiös, so wie Du. Von daher weiß ich, dass von seiner und Deiner Seite Fanatismus im Spiel ist, den Du den Religionen gerade vorwirfst.

    Spaß beiseite. Willst Du mir jetzt erklären, dass es den Absolutheitsanspruch nicht gibt? Oder was?

    Ja. Es gibt ihn bei vernünftigen Gläubigen nicht im Sinne von "Wir haben recht, andere Religionen nicht." Dazu stehen hier Verweise auf die Ringparabel, die Parabel mit dem Elefanten und den Blinden usw.


    Sascha Lobo schreibt in seiner aktuellen Kolumne etwas über Ratlosigkeit nach den Anschlägen. Und über einfache und schwierige Erklärungen. Sehr empfehlenswert . Sorry, Tom, aber es ist viel zu leicht, nach dem Terror von Paris auf die bösen Religionen zu zeigen.


    Herzliche Grüße,


    Alexander

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Der unermüdliche Todenhöfer (dem - bei aller von ihm bemühten Polemik - im Nachhinein noch Weit- und die nötige Umsicht bescheinigt werden wird, da bin ich mir immer noch sicher) hat sich unter sie IS-Kämpfer getraut und einen Deutschen unter ihnen interviewt:
    Auf seiner facebook-Seite zu sehen: https://www.facebook.com/video.php?v=10152723644955838


    Ich habe nur das Foto der beiden gesehen und ein bisschen was auf SPON gelesen. Also, wenn DAS die Typen sind, die die Menschheit ausrotten wollen, um Himmels willen! Die perfekte Karikatur des Losers. Das ist der, mit dem schon in der Schule keiner spielen wollte und vor dem die Mädels scharenweise davonrannten. Wenn es nicht so schrecklich wäre, könnte dieser Hansel einem sogar leid tun.
    Nachdem ich mir jetzt das Interview angesehen habe, hoffe ich, dass das in der nächsten "heute show" aufgeklärt wird. Das kann nur ein gut geschminkter Olli Welke sein. Und einer der Vermummten im Hintergrund ist Gernot Hassknecht. Bitte lasst es so sein! :bonk

  • Zitat

    Es kommt mir aber sehr vereinfachend vor, jeden, der Gewalt anwendet, einfach als irre zu kategorisieren, also auf eine psychische Störung zu reduzieren, und die in diesem Fall mindestens erklärungsbedürftigen Ursachen der Störung auszublenden.


    Der Gedanke, dass jemand so etwas tut, weil er gestört ist, ist für mich persönlich noch am erträglichsten.
    Aber dass jemand gestört, krank ist, setzt für mich auch voraus, dass es theoretisch eine Chance auf Heilung gibt.
    Da bin ich mir nicht immer so sicher.

  • Zitat

    Der Gedanke, dass jemand so etwas tut, weil er gestört ist, ist für mich persönlich noch am erträglichsten.


    Das macht ihn aber nicht richtiger oder zutreffender.


    Ich bin kein Terror-"Experte", wie sie durch die Medien gereicht werden, aber ich meine, zu verstehen, dass Terror, sehr freundlich ausgedrückt, nicht selten etwas damit zu tun hat, dass sich eine originelle Idee, von deren Richtigkeit man auf fundamentale Weise überzeugt ist, mit legitimen Mitteln in einer Gesellschaft nicht durchsetzen ließe. Das könnte man "Kalkül-Terror" nennen, den es in verschiedenen Spielarten gibt und gab, jedenfalls nach meinem Eindruck. Natürlich steht ein gerütteltes Maß an Verblendung dahinter (je nach Perspektive möglicherweise), wenn man sich zu diesem Schritt entscheidet, und es dürfte sehr kompliziert sein, sich die persönliche moralische Legitimation dafür irgendwo abzuholen, was wenig an der Ausgangssituation ändert: Ich will eine andere Welt als diese hier, und es gibt keine anderen Mittel als solche, um sie durchzusetzen. Zudem gibt es verschiedene Abstufungen von "Terror"; in Guerilla- und Partisanenkriegen, sogar in einigen sehr blutigen Revolutionen, die wir, aus Jahrzehnten und Jahrhunderten Abstand inhaltlich begrüßen, kam es im Vorfeld und anschließend zu Taten, die man zumindest in der direkten Nachbarschaft ansiedeln könnte. Hinrichtungen, Massaker - was auch immer der menschliche Geist, wenn man ihn denn jeder Verantwortung entbindet, sich auszudenken in der Lage ist. In nicht wenigen jüngeren Konflikten - denken wir an die IRA, denken wir an die PLO (und Jassir Arafat, der sogar den Friedensnobelpreis bekam) - hat äußerst blutiger, wohlkalkulierter Terror viele, viele Opfer gefordert, darunter nicht wenige völlig Unbeteiligte, und wurde anschließend geadelt, in die politische Landschaft integriert - hat (mehr - PLO - oder weniger - IRA) gesiegt - jedenfalls hat niemand mehr die Täter zur Rechenschaft gezogen. Die unfassbaren Ängste, die die Bürger der betroffenen Länder zu dieser Zeit auszustehen hatten, will man sich nicht einmal vorzustellen versuchen, und es ist ja längst nicht vorbei. Der organisierte, kalkulierte Terror, weit jenseits aller (Mit-)Menschlichkeit ("Menschlichkeit" ist ein irritierender Terminus), gehört in nicht wenigen Ländern dieser Welt zum Alltag.


    Und auch die Attentäter von Paris waren ganz offensichtlich keine Leute, die am Morgen der Tat aufgestanden, komplett durchgedreht und dann eben zur "Charlie Hebdo"-Redaktion gerast sind. Sondern Leute, die das konzentriert und wohlüberlegt geplant haben, die die auf sie angesetzten Geheimdienste genarrt haben, sich Netzwerke gesucht haben, Quellen für Waffen und anderes Material. So ein Terroranschlag ist auch eine logistische Aufgabe, und kein Amoklauf aus einem Affekt heraus. Es macht die Reflexion einfacher, es sich unter diesen Vorzeichen vorzustellen, aber das grenzt an Selbstbetrug. Ich will nicht wissen, wie sich das im faktischen Erleben darstellt, aber ich habe die Befürchtung, dass die Entscheidung, bestimmte Menschenleben für weniger wertvoll und lebenswert als andere zu halten, ist für nicht wenige von uns eine nicht einmal sonderlich große ist. Dieses Häutchen mit dem Namen "Zivilisation", das uns schützend umgibt, ist dünn und verletzlich. Um das zu verstehen, muss man sich nicht einmal Terroristen anschauen. Oft genügt ein Blick in die benachbarte Wohnung.


    Und noch etwas zum Thema Glauben. Fast alle großen Religionen unterscheiden qualitativ zwischen den Gläubigen und den Ungläubigen; einige bieten explizite Begriffe hierfür an, die überwiegend abwertend konnotiert sind, jedenfalls im Kontext des jeweiligen Glaubens. Das lässt sich am Ende auf eine Unterscheidung zwischen guten und schlechten, erleuchteten und nicht-erleuchteten, wertvolleren und wertloseren Menschen reduzieren, vielleicht nicht in dieser direkten Lesart, aber irgendwo findet sich das immer. Auch diese Unterscheidung gehört zum jeweiligen Dogmengebäude, und wenn man das betritt, gehört die Verinnerlichung dieser Kategorisierung dazu. Wenn man aber andere für schlechter, für weniger wertvoll hält, nur weil sie nicht einem oder dem jeweiligen Glauben angehören, hält man das Streichholz bereits in die Nähe der Zündschnur.

  • Hallo Tom,


    Du magst ja mit Deiner Aussage Recht haben, dass Religionen immer die Gefahr des Fanatismus oder, wie Du es nennst, die Gefahr der Nähe des Zündholzes zur Zündschnur in sich bergen. Aber wie willst Du der Gefahr begegnen?


    Kein noch so überzeugter Atheist wird den Glauben abschaffen. Insofern ist seine Verurteilung doch relativ fruchtlos. Und, wie gesagt, man übersieht dabei oft, dass die Mehrheit der Gläubigen in den meisten Glaubensgemeinschaften eben nicht fanatisch ist.


    Ich frage mich nämlich mittlerweile, welche Konsequenzen diese Kritik an der Religion haben soll. Abschaffen kannst weder Du noch alle Atheisten dieser Welt die Religion. Wie also weitermachen? Oder eher: Wie mit dem Terrorismus umgehen?


    Nur einfach zu sagen "Ich hab es ja gewusst, Religionen sind Mist", bringt die Diskussion nicht weiter :)


    Und irgendwie dreht sich das hier auch im Kreis. Die einen sagen, nicht alle Gläubigen sind fanatisch, die anderen sagen, aber Religionen tragen den Fanatismus zumindest in sich. Gut. Das sind zwei Positionen. Aber nur damit, dass wir uns die hier noch länger gegenseitig erklären, passiert wenig :) .


    Liebe Grüße


    Anja

  • Hallo, Alexander.


    Zitat

    Mein Vater ist hardcore anti-religiös, so wie Du. Von daher weiß ich, dass von seiner und Deiner Seite Fanatismus im Spiel ist, den Du den Religionen gerade vorwirfst.


    Diesen und vergleichbare "Vorwürfe" habe ich mir schon so oft anhören müssen, dass sie mich nicht einmal mehr amüsieren. Nein, ich bin kein Fanatiker. Ich bin energisch dagegen, welche Position die Religionen in unserer Welt (noch) haben, das ist alles. Ich bin nicht gegen "den Glauben", weder den persönlichen, noch gegen den abstrakten Überbau (den ich mir aber zu kritisieren erlaube, bevorzugt auf einer philosophischen Ebene). Ich bin für ein respektvolles Miteinander, vielleicht für Humanismus (ganz sicher bin ich da nicht) - und dafür, dass jeder auf die Weise glücklich zu werden versuchen darf, die ihm die richtige zu sein scheint, vorausgesetzt, er lässt andere Menschen damit in Ruhe. Das ist unterm Strich alles. Ich verstehe, warum Menschen glauben und glauben wollen, weil das Trost und Halt bietet, Antworten auf diffuse Fragen und nicht zuletzt eine Daseinsperspektive, die dabei helfen kann, den Alltag zu bewältigen (was allerdings auch nicht ganz ungefährlich ist). Auf die eine oder andere Art glauben wir alle, an Zufälle, an persönliche Orakel, an moralische Strukturen ("Atheismus" jedoch ist kein "Glaube"). Manchmal gehe ich morgens vor die Haustür, höre einen gesangsbegabten Vogel, sehe ein possierliches Eichhörnchen, werde von einem Nachbarn nett gegrüßt - und denke dann: Das wird ein guter Tag. Das ist ein abergläubischer Ansatz, den ich allerdings nie verifiziere, aber es hat etwas mit recht absurden Annahmen zu tun, die jedweder Grundlage entbehren, nicht einmal einer statistischen Überprüfung standhalten werden, vielleicht eine gewisse Wirkung haben, die sich psychologisch erklären lassen, vor allem aber sind sie weitgehend ungefährlich, und ich käme im Traum nicht auf die Idee, daherzugehen und zu versuchen, andere von meinem persönlichen Vogel-Eichhorn-Nachbarn-Orakel zu überzeugen, um meinen eigenen Glauben zu stärken, und zwar notfalls mit Gewalt.

  • Selbstzitat:


    Zitat

    Und auch die Attentäter von Paris waren ganz offensichtlich keine Leute, die am Morgen der Tat aufgestanden, komplett durchgedreht und dann eben zur "Charlie Hebdo"-Redaktion gerast sind. Sondern Leute, die das konzentriert und wohlüberlegt geplant haben, die die auf sie angesetzten Geheimdienste genarrt haben, sich Netzwerke gesucht haben, Quellen für Waffen und anderes Material. So ein Terroranschlag ist auch eine logistische Aufgabe, und kein Amoklauf aus einem Affekt heraus.


    Und, ergänzend: Er funktioniert. Er zeigt Wirkung, er verändert die Welt, generiert hier Solidarität, da Ablehnung, vertieft die Gräben, erschwert das Zusammenleben, fokussiert - wie u.a. diese Diskussion zeigt, die eine Reaktion von Millionen ist - auf die vermeintlichen Hintergründe, führt dazu, dass Paradigmen hinterfragt und Strukturen adaptiert werden. Es gibt, wenn man so will, auch positive Effekte, aber überwiegend haben die Attentäter genau das erreicht, was sie auch erreichen wollten. Wie ihre Vorgänger vor 13 Jahren, die Flugzeuge ins WTC gelenkt haben, woraufhin der halbe Planet in Schockstarre verfallen ist, sich den Generalverdacht verordnet hat, "Islamismus" flächendeckend thematisiert wurde, das "Appeasement" auf den Plan trat und vieles, vieles mehr. Ich finde, dass das das eigentlich Erschütternde ist. Es überrascht mich wenig, wozu Menschen fähig sind, wobei nicht einmal besonders relevant ist, welches die vermuteten Motive sind. Terror ist ein wirksames Mittel. Es ist keine Dummheit, kein Reflex, der auf eine psychische Störung zurückzuführen wäre, sondern eine Waffe mit - aus der Sicht des Waffentragenden - positiven Folgen.


    Wir können uns noch so sehr einreden, uns dem nicht zu beugen. Wir haben es längst getan.

  • Da hast du sehr wohl Recht. Diese Menschen richten Chaos an. Und sie richten es gezielt in Gesellschaften an, in denen ihrer Meinung nach starre Systeme und bürokratische Menschen existieren. Es ging ihnen nicht um die Religion oder die Meinungsfreiheit. Sie haben einfach nur dort draufgehauen, wo es den Menschen am meisten wehtut. Das Ziel ist, dass wir von diesem Anschlag erfahren, Angst bekommen und den Glauben infrage stellen. Das eigentliche Ziel ist, dass so viel Chaos wie möglich unter den Menschen entsteht. Dem Chaos kann man mit Denken, Intelligenz und Bildung nicht beikommen. Nicht einmal mit den Fäusten, denn dadurch entsteht noch mehr davon.
    Man muss kreativ werden, um im Chaos klarzukommen.

  • Die einen sagen, nicht alle Gläubigen sind fanatisch, die anderen sagen, aber Religionen tragen den Fanatismus zumindest in sich. Gut. Das sind zwei Positionen. Aber nur damit, dass wir uns die hier noch länger gegenseitig erklären, passiert wenig :) .

    :oma Also da bin ich längst nicht mehr!

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Stefanie, der psychologische Ansatz kommt hier noch zu kurz, das finde ich auch! Ich hab leider deinen Link nicht gelesen.
    Es geht darum, dass das eigene Böse, Aggressive, auch Ungläubige, vielleicht parasitär Gierige usw. abgespalten wird, nach Außen projeziert (Ungläubige, Gotteslästerer oder schlicht Fremde/ Andere) und dort wird es dann verfolgt und mitleidlos vernichtet. Das stellt eigene Reinheit und Unschuld her.
    Das sind unreife, frühe Abwehrmechanismen. die hier vor 70 Jahren auch sehr populär waren, gar nicht so lange her, oder auf dem Balkan sind es gerade mal gut zwanzig Jahre. Das sind keine im Sinn von "durchgeknallt" Störungen, sondern tatsächlich menschliches Potential, das haben wir drauf. Und in Krisen, bei Beschämung und Entwertung, in existentiellen Konflikten, da neigen wir alle dazu. Man muss sich nur Scheidungskriege anschauen.
    Deshalb funktioniert Terror auf so tragische Weise. Er verändert die Welt und uns alle und zwar zum Schlechten. Es ist ein Gift. Obwohl z.B. die New Yorker sagen, dass sie seit 9/11 viel weniger kalt und viel zugewandter zueinander sind.
    Aber das erklärt nicht dieses Desaster zur Zeit! Ich verstehe das nicht. Boko Haram und ISIS, das ist ja alles noch viel schlimmer. Ich verstehe auch nicht, warum es nicht gelingt, Geldgeber zu isolieren und zu sanktionieren oder Infrastruktur zu stören. Die wissen alles über Angela Merkel und nicht über die Geldflüsse zu ISIS und Konsorten? Woher haben die Attentäter in Paris ihre Waffen und das Geld dafür?
    Und jetzt komme mir keiner mit einer Verschwörungstheorie. Gleiches Prinzip, spalten, nach Außen projezieren und dann vor der eigenen Projektion Angst haben.
    Also nur soziologisch geht es nicht, nur psychologisch geht es nicht, nur religionskritisch geht es nicht. Aber solche Diskussionen hier, die finden zu wenig statt, ein tatsächliches Nachdenken, ohne gleich Rache und Überwachung und die ganze Scheiße.

  • Im Grunde ist die Soziologie ja die Psychologie der Gruppe. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass das hier ein gesellschaftliches Problem ist. Es werden hier wieder alte Werte an Licht gezerrt, die längst überwunden glaubten. Dass dieser IS-Kämpfer tatsächlich der Meinung sein kann, dass Sklaverei etwas gutes und im Grunde reine Nächstenliebe ist, schließlich schützt man die Ungläubigen ja vor sich selber, mutet ja geradezu antik an. So lässt sich vielleicht auch die fehlende Vaterfigur vieler Islamisten in die Gleichung mit aufnehmen. Eine kaputte Familie weckt natürlich Sehnsüchte nach einer anderweitigen Gemeinschaft. Dazu mischt sich eine gewisse Wut, auf die Situation, auf das Leben allgemein und ich kann mir vorstellen, dass daraus schnell Fanatismus erwachsen kann.
    Und ich finde es sehr treffend, dass Herr Todenhöfer ausgerechnet diesen Mann ausgegraben hat und dass Gerald so reagiert hat, wie er reagiert hat. Denn, ohne dir zu nahe treten zu wollen, was macht denn den Loser zum Loser? Er selber, oder diejenigen die ihn als solchen bezeichnen? Ich möchte den Kerl in seiner Absicht für den IS zu töten nicht verteidigen, wohl aber als angeblicher Loser in unserer Gesellschaft. Was nehmen wir uns denn heraus zu sagen: "Du bist ein Loser, du bist es nicht!" Wie weit ist das davon entfernt zu sagen: "Ich bin besser als du, denn ich sage dir, du bist ein Loser." Man ersetze "Loser" durch "Ungläubiger" und die Gleichung ist gelöst.
    Und ich muss mich selber an die eigene Nase fassen, Gerald, also sei mir bitte nicht böse, dass ich hier solche Unterstellungen betreibe ;) Wenn man sich dieses Video anschaut, liegt der Verdacht nahe, dass er keine Freunde hatte und ihm die Frauen nicht gerade zugewandt waren. So funktioniert eben der Mensch als Schubladenwesen. Wirklich traurig ist dabei doch, dass wir behaupten wir seien aufgeklärt. Dass jeder Mensch gleich ist. Dass wir einander respektieren. Dass wir uns wertschätzen. Wir sind nicht alle gleich, weder vor dem Gesezt, noch vor unseren Vorgesetzten. Erst recht nicht vor der NSA. Wir respektieren einander auch nicht, denn dann kämen Aussagen wie: "Was für ein Loser" nicht vor. Ich bin kein Soziologe, aber für mich ist es völlig einleuchtend, dass sich Menschen über andere erheben. Das gibt Sicherheit, Macht, ein gutes Gefühl und Schulterklopfen von der Peer-Group. Wertschätzen tun wir uns auch nicht, denn im Grunde halten wir uns alle für unersetzbar und die Krone der Schöpfung. Und auch wenn ein gesundes Selbstbewusstsein wichtig ist, kreist meine Peer-Group nur noch um sich selbst. Natürlich immer respektvoll und wenn von schon nicht den anderen, zollt man sich den Respekt eben selbst.
    Warum ist der Loser aus der Gesellschaft ausgebrochen und jetzt beim IS? Ich bezweifle, dass sie ihn für einen Loser halten. Ist es dann nicht ein logischer Schritt Deutschland zu verlassen und nach Syrien zu gehen? Das leuchtet mit absolut ein.


    Ich möchte mein Statement gerne wiederholen: WIR müssen UNSERE Gesellschaft HIER ändern. Und es geht mir hier gar nicht um irgendwelchen Nächstenliebe-Kram.
    Respekt und Wertschätzung... ich könnte mir vorstellen, dass das die Welt tatsächlich ein kleines bisschen besser machen würde. :blume

  • Ich lese das erst jetzt - und leider nicht alles. Hier ein paar einseitig ausgewählte Links dazu, die vielleicht zur Sache beitragen:


    Titanic-Chef Tim Wolff über die Funktionen von Humor und Satire. Der Redakteur Tietze und Oliver-Maria Schmitt über Solidarität und Religionskritik. Interview mit den Zeichnern Greser und Lenz.


    Nochmal Wolff, der sich weigert, dem Panikansinnen des Moderators zu entsprechen. Daran erfährt man auch, warum Titanic bislang nur selten gegen den Islam ausgeteilt hat. Gutes, ein paar Jahre altes, Bild zur Terrorraktion auf Titanic-online.


    Wie Charlie Hebdo auf die (da erst ankündigte) Kondolenz von Pegida reagiert haben.


    Beispiel dafür, wie lange die Satirefreudigkeit in den deutschen Leitmedien angehalten hat. Titanic-Redakteur Ziegelwangner vorab über diese Solidarität.

  • Darauf, das diese Attentäter durchgeknallt und verrückt sind.


    Schau mal hier. Die Mehrheit aller Morde passieren außerhalb von Krigsgebieten.
    In New York wird fast jeden Tag ein Mensch ermordet. das sind nicht alles Islamisten. Sondern durchgeknallte Idioten. Genau wie die Attentäter in Paris. Die einen berufen sich auf Blutrache, die anderen auf Aliens, die ihnen den Auftrag gegeben haben, die meisten sind wütend, manchmal ist Allah im Spiel und hat sie angeblich berufen, manchmal ist es die Bibel und der Wille, das Abendland sauber zu halten.
    Gründe gibt es viele und es gibt auch viele Möglichkeiten Schriften auszulegen. Keine der religiösen Schriften ruft jedoch zu Mord auf. Keine.


    sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
    Sie sind die Bundeskanzlerin aller Menschen, die in Deutschland leben, und somit selbstverständlich auch die Kanzlerin der Muslime. Das ermächtigt Sie aber nicht dazu zu behaupten, der Islam gehöre zu Deutschland. Es ist nicht die Aufgabe eines Politikers, eine Religion zu rehabilitieren oder zu bewerten. Politiker sind für die Menschen da nicht für die Ideologien dieser Menschen.
    Bevor Sie diese Behauptung in die Welt setzen, sind Sie verpflichtet, den Bürgern dieses Landes zu erklären, was der Islam ist!
    Gehört die Aufteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige auch zu Deutschland? Was ist mit Dschihad? Was ist mit Polygamie? Was ist mit der Todesstrafe für Apostaten? Was ist mit Körperstrafen für Diebe und Ehebrecher und Alkoholtrinker? Was ist mit Frauenrechten, die im Islam kaum vorhanden sind? Was ist mit Sklaverei, die im Islam nicht verboten ist? Was ist mit dem Recht der Kinder Angstfrei erzogen zu werden und nicht mit der Drohung mit Höllenqual aufzuwachsen?
    Entweder wissen Sie nicht, dass all das auch zum Islam gehört, dann sind Sie nicht qualifiziert, dieses Urteil zu fällen. Oder Sie wissen bescheid und täuschen die Bürger dieses Landes um weiterhin Saudi Arabien Panzer zu verkaufen und dem türkischen Handelspartner nicht zu verärgern!
    Auch ich bin ein Bürger dieses Landes und sage Ihnen, Sie irren sich. Und Sie tun Muslimen kein Gefallen in dem Sie etwas behaupten, was der Wahrheit nicht entspricht und was die Mehrheit der Deutschen anders sieht, übrigen auch viele deutsche Muslime und Ex-Muslime, die vor dem Islam in ihren ehemaligen Heimatländern fliehen mussten!


    Hamed Abdel-Samad

  • "Ich glaube nicht, dass die Deutschen schon sicher sind vor einer neuen Selbstüberhebung.", sagt Augstein hier im November in der Diskussion mit Precht über die These unseres Bundesspräses Gauk (Tätää!): Deutschland müsse mehr Verantwortung in der Welt übernehmen. Dürfen wir das? Wie demokratisch ist Deutschland, der Westen überhaupt, dass er sich heraus nehmen darf, überall auf der Welt seine "Werte" zu pflanzen? Angenehm in dieser Sendung: mehr Fragen als Antworten. Finde, das passt hierher, weil sowohl die Attentäter in Paris, als auch der (vielleicht noch) harmlose PEGIDA-Demonstrant auf der Straße meinen, sie handeln aus Überzeugung und im Sinne ihrer Werte. Gefährlich, zu meinen, man wäre die Antwort, anstatt Fragen zu stellen.


    Wünsche sämtlichen Anhängern der Steigerungsformen Pegida, Neonazi und nationaler/religiöser Terrorist (egal auf welchem Fleck der Erde) die Zwangsverordnung von mindestens zehn Stunden sokratischen Dialogs an den Hals...täglich!

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt