Der Anschlag auf Charlie Hebdo ...

  • AnMa
    Jürgen B.
    Ich kann euch beiden nicht folgen. Mir drängt sich auf, dass ihr eine Beurteilung vornehmt ausschließlich aus eurer eigenen Position heraus. Lessing ging es m.E. nicht um die Versöhnung der Christen mit den Muslimen. Lessing vertrat die Meinung, dass sich die Vernunft über die göttliche Offenbarung, die er nicht anerkannte, in den Religionen durchsetzen müsse. Deshalb veröffentlichte er nach und nach Fragmente aus einem entsprechenden Papier von Reimarius, das in diese Richtung ging. Das führte zum »Fragmentenstreit« (insbesondere mit dem Pastor Goeze) und schließlich zum Verbot für Lessing, religionskritische Schriften zu veröffentlichen. Nathan ist die Antwort darauf.

    Vermutlich dreht sich Lessing gerade im Grabe herum, wie ihr beide ihn für eure eigenen ideologischen Zwecke instrumentalisiert.


    Der "Nathan" ist keine "religionskritische Schrift", sondern Literatur, die aus sich selbst heraus zu verstehen ist. Die Ringparabel ist Teil des Dramas "Nathan" und nur als solches (und nicht als Ansicht des Herrn Lessing) zu interpretieren.


  • Der "Nathan" ist keine "religionskritische Schrift", …


    Hab ich nicht geschrieben! Lies mal nach. Lessing wich auf die Literatur aus, als er sich religionskritisch in Essays und als herausgeber nicht mehr veröffentlichen durfte.


    Zitat


    –sondern Literatur, die aus sich selbst heraus zu verstehen ist. Die Ringparabel ist Teil des Dramas "Nathan" und nur als solches (und nicht als Ansicht des Herrn Lessing) zu interpretieren.


    Das ist theoretischer Mumpitz. Selbstverständlich ist die Ringparabel auch als Ansicht des Herrn Lessing zu interpretieren. Literatur darf durchaus auch in Bezug zu seinen Autoren und deren Motivation gebracht werden. Machst du ja im Prinzip auch, wenn du schreibst: »Lessing ging es m.E. nicht …«

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    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • AnMa
    Jürgen B.
    Ich kann euch beiden nicht folgen. Mir drängt sich auf, dass ihr eine Beurteilung vornehmt ausschließlich aus eurer eigenen Position heraus. Lessing ging es m.E. nicht [...] Vermutlich dreht sich Lessing gerade im Grabe herum, wie ihr beide ihn für eure eigenen ideologischen Zwecke instrumentalisiert.


    Schon möglich. Selbstverständlich beurteile ich aus meiner eigenen Position heraus, und diese Beurteilung ist vielmehr gegen die übliche Beurteilung gerichtet als gegen das, was Lessing vielleicht mal ursprünglich damit mal sagen wollte. Die Ringparabel wird heutzutage üblicherweise wie folgt interpretiert: "Hallo, wir glauben doch alle denselben Gott, haben da nur etwas andere Interpretationen, warum also streiten. Kann man sich doch auch mal liebhaben." Und diese Interpretation wird dann gerne als Kritik an und Alternative für die üblichen Konfessions- und Religionskriege herangezogen.
    Und genau das halte ich persönlich für Quatsch. Das funktioniert argumentativ generell nur bei Monotheismen, im speziellen nur bei den abrahamitischen, weil die eine starke gemeinsame Entstehungsgeschichte haben. Obendrein muß man die Gültigkeit der Offenbarung dabei außer Acht lassen, was die Grundlage einer Offenbarungsreligion sofort demontiert, und somit kaum irgendeinen Eindruck auf einen (fanatischen) Anhänger macht. Der einzige Grund, solcherart zu argumentieren, ist ein statistischer, nämlich daß zwei dieser Monotheismen die Hälfte der Weltbevölkerung anhängt.
    Das Problem an diesen drei Religionen ist die sog. Mosaische Unterscheidung (nach Jan Assmann), die in der Ringparabel indirekt mitschwingt. Wir haben recht, alle andern nicht. Wer bei uns mitmachen will, muß alles andere ablehnen. Steht schon im 1. Gebot. Da steht nicht "ich bin ein toller Gott, verehrt mich". Da steht "habe keinen anderen Götter". Man definiert sich weit mehr über Abgrenzung zum Negativen da draußen, welches immer die anderen sind, als über positive eigene Eigenschaften. Das ist ein guter Nährboden für Gewalt gegen außen.


    edit/ps: Plus die Ansicht, daß die eigene religiöse und somit hochgradig subjektive Wahrheit für alle Menschen zu gelten habe. Da ist allerdings das Judentum eine Ausnahme (was auch gut ist, um als das Böse da draußen zu gelten), welches in der Geschichte m.W. nur einmal und nur sehr kurzfristig missioniert hat.

    Περὶ θεῶν λέγε, ὡς εἰσἰν. Von den Göttern sage: sie sind. (Bias von Priene)
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    Einmal editiert, zuletzt von AnMa ()

  • … Die Ringparabel wird heutzutage üblicherweise wie folgt interpretiert: "Hallo, wir glauben doch alle denselben Gott, haben da nur etwas andere Interpretationen, warum also streiten. Kann man sich doch auch mal liebhaben." Und diese Interpretation wird dann gerne als Kritik an und Alternative für die üblichen Konfessions- und Religionskriege herangezogen. Und genau das halte ich persönlich für Quatsch.


    Das kann ich nachvollziehen und aus dieser Richtung deine Kritik auch verstehen.


    Zitat

    Das funktioniert argumentativ generell nur bei Monotheismen, im speziellen nur bei den abrahamitischen, weil die eine starke gemeinsame Entstehungsgeschichte haben.


    Und das halte ich jetzt wieder für überzogene Ideologisierung. Aber sei's drum. Es ist nicht Thema dieses Fred's, sich darüber zu streiten.

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    Emanuel von Bodmann


  • Und das halte ich jetzt wieder für überzogene Ideologisierung. Aber sei's drum. Es ist nicht Thema dieses Fred's, sich darüber zu streiten.


    Das ist zwar etwas OT und nichts zum Streiten, aber mich würde schon interessierieren, was genau an dem Satz jetzt ideologischer und nicht definitorischer oder historischer Natur sein soll.

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  • Das ist zwar etwas OT und nichts zum Streiten, aber mich würde schon interessierieren, was genau an dem Satz jetzt ideologischer und nicht definitorischer oder historischer Natur sein soll.


    Ungern in diesem Fred. Das zieht sich dann in die Länge und lenkt vom Hauptthema ab. Das will ich nicht. Ich werde versuchen, das in ein paar Sätze zu packen und dir dann als PN senden (kann auch morgen werden, also nicht ungeduldig werden). Wenn du magst, kannst du dann einen eigenen Fred dazu aufmachen.

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  • Hab ich nicht geschrieben! Lies mal nach. Lessing wich auf die Literatur aus, als er sich religionskritisch in Essays und als herausgeber nicht mehr veröffentlichen durfte.



    Das ist theoretischer Mumpitz. Selbstverständlich ist die Ringparabel auch als Ansicht des Herrn Lessing zu interpretieren. Literatur darf durchaus auch in Bezug zu seinen Autoren und deren Motivation gebracht werden. Machst du ja im Prinzip auch, wenn du schreibst: »Lessing ging es m.E. nicht …«


    Horst-Dieter,
    es reicht nicht aus, irgendwelche Thesen aus der Sekundärliteratur aufzuwärmen und nachzubeten; nur ein Wort: Das Stück handelt im 12. Jahrhundert - da gab es noch lange keine religionskritische Aufklärung! Besser ist es, das Stück mit eigenen Augen zu lesen. Mit welcher Begründung sollte man den Kontext der Ringparabel für unwichtig erachten?
    Viele Grüße
    Jürgen


  • Horst-Dieter,
    es reicht nicht aus, irgendwelche Thesen aus der Sekundärliteratur aufzuwärmen und nachzubeten; nur ein Wort: Das Stück handelt im 12. Jahrhundert - da gab es noch lange keine religionskritische Aufklärung! Besser ist es, das Stück mit eigenen Augen zu lesen. Mit welcher Begründung sollte man den Kontext der Ringparabel für unwichtig erachten?
    Viele Grüße
    Jürgen


    Lieber Jürgen,


    dass das Stück im 12. Jahrhundert handelt ist bei der Betrachtung nebensächlich. Bei mir verstärkt sich immer mehr der Verdacht, dass du dieses Stück für eigene Verdächtigungen instrumentalisieren möchtest.


    Nachtrag: Das Stück »Die Juden« ist ein gutes Beispiel dafür, dass G.E.Lessing auch diese Religionsgemeinschaft in seine Toleranzüberlegungen mit einbezog.

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    Emanuel von Bodmann


  • Ihr Lieben,


    ich möchte Euern Diskurs zum "Nathan" wirklich nicht groß unterbrechen :).


    Aber das hier würde ich trotzdem gerne dazwischenschieben:


    Ich bin normalerweise eine sehr große Verfechterin von Interpretationen, die einen Text in seinen literarhistorischen Kontext einordnen.


    Aber in diesem Fall ging es mir tatsächlich um eine reine Textrezeption für uns heute. Und da, AnMa, ist die Ringparabel meiner Ansicht nach überhaupt kein "Mumpitz", sondern ein Postulat für religiöse Toleranz im Allgemeinen, egal, ob Mono- oder Polytheismen, das bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat.


    Liebe Grüße


    Anja

  • Und da, AnMa, ist die Ringparabel meiner Ansicht nach überhaupt kein "Mumpitz", sondern ein Postulat für religiöse Toleranz im Allgemeinen, egal, ob Mono- oder Polytheismen, das bis heute seine Gültigkeit nicht verloren hat.


    Nun, in Polytheismen stellt sich das in der Parabel geschlderte Problem ja nicht. Da sagt man, du hast deine Götter, ich hab meine, das war's. Streiten tut man sich da höchstens ob anderer Dinge.
    Aber Toleranz ist das richtige Stichwort. Tolerieren muß man ja nur Dinge, die man abartig findet. Um zur Einsicht zu gelangen, daß man etwas tolerieren müsse, muß man wohl erkannt haben, daß man dasselbe wie der andere tut, nur vielleicht mit einem anderen geistigen Hintergrund. Und das fehlt diesen Attentätern völlig, weil sie sich im Besitz der einzigen Wahrheit wähnen und somit machen dürfen, was andere noch lange nicht dürfen.
    Der Anschlag ist ja eine Strafe für blasphemische Äußerungen. Letztere stehen übrigens auch in unserer Gesellschaft unter Strafe (§ 166 StGB). Und da finde ich es äußerst bezeichnend, daß diejenigen, die sich über Blasphemie echauffieren, selbst an Blasphemie gegenüber anderen nicht zu überbieten sind. Wenn jemand Mohammed oder Jesus oder "Gott" vereimert, dann ist das strafbar und keineswegs tolerierbar. (Die Art der Strafe ist bei dieser Geisteshaltung übrigens wenig relevant. Ob Berufsverbot, Knast oder Kugel - ich finde die Grundidee schon falsch.) Andere religiöse Systeme zu vereimern, ist dagegen gottgefällig und somit völlig in Ordnung. Buddha-Statuen sprengen, Altäre verschandeln, heilige Bäume fällen, Götter als Götzen oder Dämonen zu titulieren. Zu erkennen, daß hier dieselben Mechanismen nur in die andere Richtung greifen, überfordert die intellektuelle Potenz der Gewalttäter und vielleicht auch der Anstifter.
    Es hilft dabei nicht, darauf hinzuweisen, daß sie im Prinzip dasselbe glaubten und nur falsch handelten. Das tun sie nicht. Unterschiedliche Religionen, schon unterschiedliche Konfessionen, und da kann man locker noch diverse politische Ansichten mit religiösem Kern wie Kommunismus eingliedern, glauben bzw. verehren etwas unterschiedliches. Sie handeln nur alle ähnlich bis gleich. Wenn sie diese Handlungen auf Ritus, Ethik und Werte mal beschränken würden, anstatt den Glauben auch in andere Leute prügeln zu müssen, dann hätten wir eine bessere Welt.
    So, Predigt zuende.

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  • Zurück zu Lück. Mit dezidiertem Dank an Anja für den Verweis auf die Ringparabel als Postulat nach religiöser Toleranz - meiner Meinung nach ist das die einzige ernst zu nehmenden Lesart.


    Als die Alliierten das nationalsozialistische Deutschland besiegt hatten, fragten sie sich, wo der Zusammenhang zwischen der deutschen Kultur und Geschichte und dem Holocaust und anderen Massenverbrechen liege. Was läuft falsch bei einem Volk, das systematisch und fabrikmäßig Millionen von Menschen ausrottet?


    Ein Schlüssel waren auch Grimms Märchen. Irgendein amerikanischer Offizier soll gesagt haben, ein Volk, das seinen Kindern solche Märchen vorlese, könne nur Massenmörder hervorbringen. Grimms Märchen wurden auch kommunistisch instrumentalisiert, wie der folgende Link zeigt, aber das ist jetzt nicht mein Schwerpunkt.

    Zitat

    1945 wurden die Grimmschen Märchen in den westlichen Besatzungszonen sogar verboten. Sie wurden von den Westmächten für den Nationalsozialismus mit verantwortlich gemacht. Bernhard Lauer:


    "Es gibt in der Nazizeit eine Verballhornung der Kinder- und Hausmärchen. Es gibt zum Beispiel ein furchtbares Machwerk, da liegt Dornröschen schlafend, ist natürlich total blond und germanisch, und dann steht der Prinz dort und erweckt sie mit dem Hitlergruß."


    Man nehme etwa diesen Bericht des SWR über "Grimms Märchen als Schlachtfeld der Ideologien " und übertrage ihn sinngemäß auf Koran und Islam.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)


  • Als die Alliierten das nationalsozialistische Deutschland besiegt hatten, fragten sie sich, wo der Zusammenhang zwischen der deutschen Kultur und Geschichte und dem Holocaust und anderen Massenverbrechen liege. Was läuft falsch bei einem Volk, das systematisch und fabrikmäßig Millionen von Menschen ausrottet?


    …[/size]


    Wobei diese Allierten dabei total ausblenden, das viele der grimmschen Märchen Motive enthalten, die aus viel weiteren Märchen- und Erzähltraditionen stammen, aus Frankreich zum Beispiel oder dem Osten. Auch das Sammeln und Aufschreiben haben die Grimms nicht angefangen, sondern eine Tradition aufgegriffen, die in Frankreich und England längst eingesetzt hat.


    Das Ideologien alles mögliche aufgreifen und vereinnahmen, das lesen wir hier und da auch in diesem Fred.

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    Emanuel von Bodmann


  • ...Als die Alliierten das nationalsozialistische Deutschland besiegt hatten, fragten sie sich, wo der Zusammenhang zwischen der deutschen Kultur und Geschichte und dem Holocaust und anderen Massenverbrechen liege. Was läuft falsch bei einem Volk, das systematisch und fabrikmäßig Millionen von Menschen ausrottet?
    ...

    In den Siebzigern schon hat Klaus Theweleit sich genau diese Frage viel beachtet in einem Riesenwerk vorgenommen.
    Wen politische und soziologische Erklärungen alleine nicht weiterbringen, ist mit dieser überbordenden Wissenscollage hinterher um eine Dimension reicher. Man muss sich durchwühlen, ja, aber es lohnt sich meiner Meinung nach sehr.
    Hab ich hier bestimmt schon hundertmal verlinkt. Hat einer von euch inzwischen vielleicht schon gelesen? Ich wäre sehr an Austausch interessiert.

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Als die Alliierten das nationalsozialistische Deutschland besiegt hatten, fragten sie sich, wo der Zusammenhang zwischen der deutschen Kultur und Geschichte und dem Holocaust und anderen Massenverbrechen liege. Was läuft falsch bei einem Volk, das systematisch und fabrikmäßig Millionen von Menschen ausrottet?


    Bemerkenswert ist dabei, daß die Art der Fragestellung schon völkisch bis rassistisch ist. Als ob es am Volk hinge, saßen ja keine Deutschen im KZ. Kultur und Geschichte paßt da schon eher, aber da war die allierte selbige ja nun auch nicht so weit von weg.
    Bezogen auf Charlie würde man dann fragen, was denn mit den Arabern bzw. deren Kultur und Geschichte falsch liefe, daß sie solche Attentäter produzierten. Die richtige Frage ist m.E. aber, was denn mit der Weltanschauung falsch sei, die solche Leute produziert. Was die nächste Frage produziert, inwieweit man Kultur und Weltanschauung trennen kann. Da denke ich aber, daß das denkenden Menschen möglich ist.

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  • AnMa, Du hast mich aufgeklärt und möglicherweise mit dem Wissen um § 166 StGB, den ich tatsächlich noch nicht kannte, womäglich vor Knast bewahrt. Danke! Und ich kenne einige, die ich auch unbedingt warnen muss. Besser also: Klappe halten. Oder noch besser: Zur Not im Knast sitzen!

  • Liebe Karen, liebe Ketzer, Heiden, Häretiker, Gotteslästerer, seid vorerst unbesorgt - Ihr kommt zwar alle in die Hölle, aber nicht in den Knast. :evil Hier ein auch für Laien verständlicher Artikel aus der "Legal Tribune" zu § 166 StGB im Lichte von "Charlie Hebdo": Schützt nicht religiöse Gefühle

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Toleranz bedeutet "Duldung", negativer ausgedrückt: Hinnehmen. Ich toleriere, dass es so etwas Obskures wie Religionen immer noch gibt, aber das hindert mich keineswegs daran, dieses Phänomen, wo immer es mir begegnet, kritisch zu hinterfragen und auf damit einhergehende Probleme zu verweisen, selbstverständlich aus meiner ganz subjektiven Sicht heraus. Toleranz und Kritikverzicht sind nicht dasselbe. Gerade wenn die Exponenten religiöser Bewegungen Toleranz einfordern, meinen sie aber häufig genau das. Mehr noch, einige Protagonisten verlangen gar, dass damit einhergeht, dass man die "Gesetze" der jeweiligen Religion auch noch akzeptiert. Also beispielsweise darauf verzichtet, Mohammed zu karikieren, was lediglich die Spitze des Eisbergs markiert.


    Zwei Worte zur Hermeneutik noch. Tatsächlich gibt es diesen Begriff und Ansatz auch in der Rechtswissenschaft; die faktische Anwendung von Gesetzen legt diese vor dem Hintergrund der realen Tat immer auch aus (und nicht nur in diesem Kontext gibt es hier hermeneutische Ansätze). Der Unterschied zur Interpretation und zum Versuch, religiöse Schriften zu verstehen und zu adaptieren besteht hier in zwei Aspekten: Zum einen sind geltende Gesetze deutlich jünger und man kennt zumeist ihre Entstehungsgeschichte und damit auch ihre beispielsweise ethischen Grundlagen. Zum anderen sind die Ausführungs- und Kontrollinstanzen irdisch, während dies bei heiligen Gesetzen überwiegend nicht der Fall ist - Gesetzgeber und oberste kontrollierende Instanz ist der jeweilige Gott. Außerdem frage ich mich, warum und, vor allem, wozu man Geboten und Handlungshinweisen überhaupt folgen sollte, wenn sie einen so gewaltigen Interpretationsspielraum zulassen. Und ob man nicht mit der einen, der - sagen wir mal: sanfteren Interpretation auch immer zugleich die orthodoxe und fundamentalistische legitimiert. Die Frage, welche davon richtig ist, kann schließlich kein lebender Mensch beantworten.


    Ich bleibe bei meiner Feststellung aus dem meinem ersten Posting in diesem Thread. Religionen sind Brandsätze. Menschen sind Zündschnüre. Das hereingelesene "immer" vor "Brandsätze" und "Zündschnüre" steht da allerdings nicht.

  • AnMa, Du hast mich aufgeklärt und möglicherweise mit dem Wissen um § 166 StGB, den ich tatsächlich noch nicht kannte, womäglich vor Knast bewahrt. Danke! Und ich kenne einige, die ich auch unbedingt warnen muss. Besser also: Klappe halten. Oder noch besser: Zur Not im Knast sitzen!


    Na ja, um nach §166 StGB verknackt zu werden, müssen sich erst andere finden, die ob der Gotteslästerung massiv den öffentlichen Frieden stören. Landfriedensbruch oder so. Ob ein paar Leute erschießen schon reicht, liegt wohl locker in der juristischen Grauzone. Die Kunstfreiheit wurde jedenfalls schon mehrmals aufgrund dieses § eingeschränkt, auch wenn der letzte mir bekannte Fall schon 1994 war. Aber das heißt ja nichts.

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  • Mich lässt diese ganze Situation sehr hilflos zurück.
    Man sitzt zu Hause, liest sich verschiedene Zeitungsartikel durch, viele davon unreflektiert auf Redaktionslinie oder von vermeintlichen Experten, die eine rein emotionale Diskussion führen und dies als große Errungenschaft ihrer eigenen Differenziertheit feiern.
    Die Generation Y, zu der ich ja nun gehöre, entwickelt gerade eine fast beängstigende Tendenz zur Realitätsflucht. Erst kürzlich habe ich einen Artikel in der 'Zeit' gelesen, der sich genau damit auseinandersetzt. Auch wenn die 'Hipster' argumentieren "Erst wenn man mit sich selbst klarkommt, kann man anderen helfen", wird im Grunde diagnostiziert, dass sich meine Generation vor der Verantwortung drückt. Und genau so ist es!


    In den letzten 300 Jahren drehte sich die Welt immer schneller, in den letzten 70 Jahren durchbrachen wir informationstechnisch die Schallmauer und mit dem Internet haben wir es geschafft, dass jeder immer und überall durch jeden immer und von überall erreicht werden kann. Unsere Zeit ist so schnelllebig, die politischen Probleme so komplex, dass es gar nicht mehr möglich ist alles zu durchschauen. Wer von den Normalbürgen kann sich den rühmen die Finanzkrise wirklich zu durchschauen? Griechenland rein oder raus? Was war das noch gleich mit den Republikanern im US-Senat? Dieses Unvermögen zu verstehen schürt Angst. Ich empfinde es als sehr bedrohlich, was die Finanzkrise da über uns gebracht hat und genauso bedrohlich empfinde ich die Republikaner im Senat der USA.
    "Das beste Mittel gegen die Angst ist Bildung, Aufklärung und Information." Grundsätzlich stimme ich dem zu, aber es gibt so viele tendenziöse Artikel im Internet über die Finanzkrise, dass ich nach deren Lektüre genauso klug bin wie vorher, nur jetzt habe ich noch mehr Angst, weil jeder Artikel eine ganz konkrete Dystopie ersinnt wie der Euroraum gegen die Wand fährt.


    Und hier spanne ich jetzt den Bogen zur Religion. Solange es die Gesellschaft/Politik nicht schafft, den Menschen einen Perspektive zu geben, werden Religionen Zulauf haben. Meine Kommilitonen wünschen sich ihr Reihenhaus, ihre 2,3 Kinder, die 1,5 Autos und den halben Apfelbaum den sie in ihrem Garten pflanzen. Aber wie realtistisch ist dieser Wunsch für einen Jungen mit 15 in einem der Pariser Brennpunkte, der jeden Tag hoffen muss sein Abendessen zu bekommen? Die Religion dagegen bietet dir eine Perspektive, völlig unabhängig von deinen Finanzen, deiner Herkunft und auch deiner aktuellen Lebensrealität, die geradezu bestechend ist - ein Leben nach dem Tod im Paradies. Über Sinn und Unsinn und über Glaubhaftigkeit lässt sich trefflich streiten, das möchte ich hier auch gar nicht weiter beschreiben. Aber wenn man mal die Realität für einen kurzen Augenblick beisete schiebt, ist das nicht eine verlockende Vorstellung?
    Ich möchte die Attentäter nicht verteidigen. Ganz im Gegenteil, ich klage sie an Menschen umgebracht zu haben, dass ist eine furchtbare Tat. Aber gleichsam klage ich die Gesellschaft an, die Politik, aber auch die Menschen um uns herum, dass sie es zulassen, dass das Leben von Menschen so schlecht ist, dass die hypothetische Möglichkeit eines Paradieses nach dem Tod das verlockenste Angebot ist, was sie ergreifen können.


    Natürlich hat der Islamismus etwas mit dem Islam zu tun, die Kreuzzüge hatten auch was mit dem Christentum zu tun. Wenn man den Vergleich bemüht, dann ist die Zahl der Islamisten geradezu überschaubar.
    Und auch wenn der Islamismus etwas mit dem Islam zu tun hat, widerstrebt es mir zutiefst den Muslimen zu verbieten in Köln Moscheen zu bauen. Auch wenn sie unsere Glaubensfreiheit torpedieren, sollten wir nicht das gleiche im Gegenzug machen. Gleichsam muss man ein Zeichen setzen und ich empfand diesen Marsch in Frankreich mehr als ein Zeichen. Die Berichterstattung hat sich vielerorts wieder nur darauf beschränkt darauf hinzuweisen, dass am Tag darauf alles wieder beim alten ist und die Probleme dadurch nicht gelöst werden. Da haben sie zweifellos recht. Aber wann waren das letzte mal 2 000 000 Menschen auf den Beinen. 2 000 000! Ist das nicht unglaublich? Sollte das einem nicht Mut machen? Ich finde schon.


    Menschen sind Zündschnüre, aber nur wenn die Gesellschaft das Pulverfass ist.

  • Hallo, Benedikt.


    Keine noch so gut funktionierende Gesellschaft kann ihren Mitbürgern eine Perspektive über das Lebensende hinaus bieten. An dieser Stelle müssen Deine - nicht uninteressanten - Gedanken scheitern. ;)