Das Diktat der Politisch Korrekten


  • Ich habe manchmal den Eindruck, dass die Fähigkeit, eine abweichende Meinung und meinetwegen auch eine extrem abweichende Meinung auf argumentativem Weg zu bekämpfen, im Schwinden begriffen ist. Irgendwann gibt es nur noch Gruppenkonsens und Niederschreien.

    diese Befürchtung hege ich auch - zunehmend.

  • Tom, du meinst, sie darf.


    Eine große Gruppe Menschen meint, sie darf vielleicht, weil das ja jeder darf, aber sie sollte es nicht tun. Privat, nichtöffentlich, sonstwie ja - aber nicht als Büchnerpreisträgerin, der man anders zuhört als Lieschen Müller oder Otto Fisch. In der Funktion ist sie als Meinungsbildnerin unterwegs und hat da so was wie eine Verantwortung. So altmodisch das klingt. Wenn sie also losrennt und Dinge sagt, die nicht weniger Hetzreden darstellen als das Geseire eines Sarrazin oder von irgendwelchen Homophobikern, dann tut sie das in ihrer öffentlichen Funktion und muss sich darin auch gefallen lassen, dass "der Mob" ??? aufschreit. Und der 'Mob' hat dann ebenso das Recht, zu sagen, dass Frau L. da Hirnschiss geäußert hat.
    Wenn das nicht so wäre, wäre es allerdings um die Meinungsfreiheit arg bedenklich gestellt.

  • Hallo, Susanne.


    Zitat

    aber sie sollte es nicht tun


    Exakt darum geht es mir. Es wird angenommen bzw. oktroyiert, dass es einen wie auch immer gearteten gesellschaftlichen Konsens gibt, der aber tatsächlich ein Diktat ist. Als wären beispielsweise die meiner Meinung nach ziemlich bescheuerten, nichtsdestotrotz offenbar leider erforderlichen Antidiskriminierungsgesetze zugleich Bestandteil der Verfassung, mindestens aber des Strafgesetzbuchs. Sind sie nicht. Sie sind vor allem keine Denkvorschriften. Wären sie welche, müssten viele Menschen auswandern, darunter die meisten gläubigen Katholiken und Muslime.


    Der Georg-Büchner-Preis wird an Schriftsteller vergeben, die sich (nach Auffassung der Jury) in besonderer Weise um die deutsche Literatur verdient gemacht haben. Zu den Preisträgern gehört neben vielen anderen, mal mehr, mal weniger bekannten Leuten auch Günter Grass, der damit schon vor 50 Jahren geehrt wurde, aber ich nehme kaum an, dass dies sein Handeln und Reden in den folgenden Jahren in irgendeiner Form beeinflusst hat. Warum sollte es das auch? Die "Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung" befasst sich mit dem Werk und vergibt dann den Preis. Damit ist kein Vertrag verbunden, in dem Formulierungen wie "Der Preisträger hat sich fortan vorbildlich zu verhalten" vorzufinden sind. Präsident der Akademie ist übrigens ein Literaturwissenschaftler.


    Diese Forderung, "öffentliche Menschen" und/oder "insbesondere Schriftsteller" sollten sich irgendwie verhalten, irritiert mich regelmäßig. Erstens wird damit den Schriftstellern etwas zuerkannt, das möglicherweise nicht existiert (nämlich besondere Weisheit o.ä.), und zweitens werden sie damit in eine Verpflichtung genommen, die sie höchstens freiwillig übernehmen könnten. Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, weiß der Geier was - das sind Jobs. Niemand verlangt von einem Supermarktkassierer, ein besonders guter Mensch zu sein, obwohl der täglich mit mehr Leuten spricht als manch ein Mittelklasseschriftsteller auf Lesereise. Diese Macht, mit der Verantwortung einhergehen sollte, existiert nicht. Einige wenige "von uns" haben vielleicht stärkeren Zugang zu den Medien, weshalb ihr Geschwurbel eine größere Reichweite hat, wenn sie sich abseits ihrer Arbeit äußern. Warum sie sich dann nicht als der Idiot präsentieren sollten, der sie u.U. sind, ist mir ein Rätsel. Zumal der umgekehrte Fall ja absolut zulässig zu sein scheint: Oberlehrerhaftes Gutmenschengetue geht immer durch, ob derjenige nun Ahnung hat oder nicht.


    Frau L. ist überzeugte Christin, vermutlich sogar auf einer Linie mit den Hardlinern. Sie hat nichts gesagt, das man nicht sonntags von einer Kanzel in Bayern oder BaWü hören könnte. Die Entrüstung bezieht sich überwiegend auf die Tatsache, dass jemand offenbar ein anerkannter, sogar preiswürdiger Literat sein kann, und trotzdem kein Gefolgschaftslinker. Vergleicht man ihre Äußerungen beispielsweise mit dem Output von Joachim Meisner während seiner aktiven Zeit als Kardinal, bleibt fast nichts Skandalwürdiges. Aber selbst wenn es anders wäre - ich verstehe nach wie vor nicht, mit welchem verdammten Recht man sie bevormunden dürfte.

  • N

    ich verstehe nach wie vor nicht, mit welchem verdammten Recht man sie bevormunden dürfte.


    Niemand bevormundet Frau L. Aber wer will, darf doch eine Meinung zur Meinung von Frau L. haben und die auch sagen. Zum Beispiel: Frau L., Sie labern Scheiße. Oder: Frau L., Sie sind eine blöde Kuh. Oder: Frau L., sie sind keinen Deut besser als Herr Meisner, nur dass ich von dem nichts anderes erwartet hätte. Oder: Frau L., Sie verletzen Menschen in ihrer Würde, und das ist unchristlich, Sie sind also eine scheinheilige, blöde Kuh. Das würde ich zu ihr sagen wollen, ganz persönlich und ohne Öffentlichkeit. Dorit hat nämlich Recht, natürlich beziehen sich Meinungen auch auf Personen. Oder finden wir an Meisner etwa nur seine Meinung abscheulich?
    Das Problem am Shitstorm ist die Anonymität und damit die Enthemmung. Aber das Internet befördert in vielerlei Hinsicht die Enthemmung, wir wollen es trotzdem nicht missen oder zensieren, oder? Eben. Wegen der freien Meinungsäußerung. Und ich bleibe dabei: Frau L. wird eher profitieren, auch wenn sie das nicht geplant hat. Hoffentlich schämt sie sich, wenn sie merkt, wer ihr da so alles Beifall klatscht.

  • Ich bin davon überzeugt, dass es niemanden - oder nur wenige - gestört hätte, hätte sie lediglich gesagt: "Ich bin gegen künstliche Befruchtung! ". Das wäre bloß ihre Meinung gewesen. Aber das hat sie nicht gesagt. Sie hat eine ausgesuchte Gruppe als "Halbwesen" bezeichnet. Verlassen wir hier nicht den Bereich der Meinungsäußerung? Kann man nicht wegen Beleidigung verklagt werden?

    "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt." - Albert Einstein
    "Gib jedem Tag die Chance, der schönste Deines Lebens zu werden." - Mark Twain
    "Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt." - Mahatma Gandhi

  • Hallo Heike,


    jemandem zu sagen, dass er hanebüchenen Blödsinn redet und damit die Würde von Menschen verletzt, ist etwas anderes, als ihm zu verbieten, dass er seinen Blödsinn sagen darf oder zu verlangen, dass er nicht die Worte verwenden darf, mit denen er ihn sagt. Das ist meiner Ansicht nach der entscheidende Unterschied.

  • Herrje Tom, du schaltest aber auch auf "Ich hör mal nicht zu" im Moment.


    Sie sagt, was sie sagen will. Sie hat das Recht dazu, das zu tun.


    ABER ALLE ANDEREN AUF DIESER WELT HABEN DAS GLEICHE GOTTVERDAMMTE RECHT, DANN AUCH SAGEN ZU DÜRFEN, WAS SIE DAVON HALTEN! OHNE DASS DAS GLEICH ALS SHITSTORM ODER MOB-ÄUSSERUNG DISQUALIFIZIERT WIRD!


    Himmelsakra! Du misst mit zweierlei Maß und das regt mich tierisch auf!

  • Hallo Siegfried!
    Ich würde niemandem verbieten, etwas zu sagen. Ich verstehe bloß nicht, dass man sich über den Shitstorm mehr aufregt als über den Shit in dem Vortrag. Das ist alles. Und ich bin sehr froh darüber, dass Frau L. eine Reaktion bekommen hat. Sind wir halt doch noch in Europa und nicht im Bibelgürtel der USA. Regt das halt doch noch jemanden auf.
    Grüße aus Nürnberg nach Nürnberg übrigens!


    Susanne
    Himmelsakra, das entlastet mich ungemein, dass ich nicht allein bin mit meiner komischen Meinung!

  • Wieso isndashier so furchtbar aggro?
    Was kann falsch daran sein, seine Meinung unmissverständlich - sauber begründet - kundzutun? Und was in aller Welt kann richtig daran sein, dies in der Form moderner Lynchjustiz als "Shitstorm" zu tun? Wobei mich bei dem Wort der Sturm ebenso stört ("Nun Volk steh auf, und Sturm brich los ...") wie die Scheiße. Diese befindet sich bei den "Stürmern" wohl in den Schwach-Köpfen.

  • Ohne jetzt alle Postings gelesen zu haben, wage ich eine Synthese: Man darf jeden Quatsch zur Meinung haben und öffentlich sagen. Man darf aber auch jede Meinung über die Quatschmeinung öffentlich kundtun - inkl. dass die Quatschmeinung nicht öffentlich geäußert bzw. gedacht werden dürfe. Und dass man wiederum der Meinung sei, dass es keine Denk- und Äußerungsverbote geben dürfe.

  • :rofl Ja :rofl woll :rofl !!

    Ohne jetzt alle Postings gelesen zu haben, wage ich eine Synthese: Man darf jeden Quatsch zur Meinung haben und öffentlich sagen. Man darf aber auch jede Meinung über die Quatschmeinung öffentlich kundtun - inkl. dass die Quatschmeinung nicht öffentlich geäußert bzw. gedacht werden dürfe. Und dass man wiederum der Meinung sei, dass es keine Denk- und Äußerungsverbote geben dürfe.

  • Also, ich war eben bei der Veranstaltung mit Frau Lewitscharoff. Ich kriege langsam einen Krampf vom Kopfschütteln.


    Ich habe während der Diskussion mitgeschrieben und einiges notiert, was sie von sich gegeben hat. Aber ich hadere noch mit mir, ob ich das hier posten soll. Die hat echten Gehirnkrampf von sich gegeben und nachher behauptet noch jemand, ich hätte mir das ausgedacht ...


    Aber so viel kann ich sagen: Einige Argumente konnte ich einfach nicht nachvollziehen. Da es Frau Böttinger aber ab und zu auch so ging, liegt's wohl nicht an mir ...

    "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt." - Albert Einstein
    "Gib jedem Tag die Chance, der schönste Deines Lebens zu werden." - Mark Twain
    "Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt." - Mahatma Gandhi

  • Ach ja! Noch etwas ... Vielleicht haben sich das einige schon gedacht ... Aus dem Publikum kam nicht nur verärgertes Gemurmel - manche haben demonstrativ die Veranstaltung verlassen und sich dabei auch keine Mühe gegeben, leise zu sein, damit jeder merkte: "Jawoll! Wir gehen, weil es uns nicht passt, was hier gesagt wird!"

    "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt." - Albert Einstein
    "Gib jedem Tag die Chance, der schönste Deines Lebens zu werden." - Mark Twain
    "Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt." - Mahatma Gandhi

  • Hier mein Bericht von der lit.Cologne-Veranstaltung mit Sibylle Lewitscharoff. Ich weise darauf hin, dass dies meine subjektiven Mitschriften sind. So habe ich es mitbekommen und verstanden. Und natürlich ist es nicht vollständig (Steno kann ich nämlich trotz meines Berufsstandes nicht). Die Zitate sind nicht wortwörtlich, sondern sinngemäß. Selbstverständlich lasse ich es zu, wenn jemand der Meinung ist, dass ich etwas falsch aufgeschnappt haben soll. Gleichzeitig verweise ich aber auch darauf, dass ich als Sekretärin gewohnt bin, Ergebnisprotokolle zu verfassen.


    Zuerst kam ein Mitarbeiter der lit.Cologne (sein Name war irgendwas mit „O“) auf die Bühne. Er berichtete, dass auf die Veranstalter eingewirkt worden sei, die Veranstaltung abzusagen. Die lit.Cologne habe sich allerdings dafür entschieden, die Lesung stattfinden zu lassen und den Dialog zu suchen. Dafür gab es Applaus. Er wies daraufhin, dass die Diskussion über die Dresdner Rede ausschließlich zwischen Frau Böttinger und Frau Lewitscharoff stattfinden werde. Fragen aus dem Publikum würden lediglich zum Schluss und lediglich zu ihrem Kriminalroman zugelassen. Schon mal ein Spoiler vorweg: Das Publikum wurde gar nicht mehr gefragt, ob Fragen bestünden.


    Frau Böttinger und Frau Lewitscharoff betraten die Bühne und nahmen in aller Ruhe Platz. Erstmal herrschte Stille. Das war den Damen offensichtlich auch nicht unangenehm. Sie sortierten zunächst seelenruhig ihre Unterlagen. Dann ergriff Frau Böttinger das Wort.

    BB = Bettina Böttinger
    SL = Sibylle Lewitscharoff

    "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt." - Albert Einstein
    "Gib jedem Tag die Chance, der schönste Deines Lebens zu werden." - Mark Twain
    "Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt." - Mahatma Gandhi

  • BB: „Was hat Sie an der Reaktion zu Ihrer Rede überrascht?“
    SL: „Die komplette Reaktion hat mich überrascht. In Dresden gab es kein verärgertes Stimmengemurmel, keine Buh-Rufe. Die Leute haben applaudiert und Bücher gekauft.“



    BB ging noch darauf ein, dass SL gerne provoziere und übertreibe. SL wiederum meinte, dass der „Halbwesen-Satz“, auf den sich alle stürzten etwas Anderes zum Ausdruck hätte bringen sollen.
    (Was das war → das hat sie für mich nicht verständlich rüber gebracht)


    "Phantasie ist wichtiger als Wissen, denn Wissen ist begrenzt." - Albert Einstein
    "Gib jedem Tag die Chance, der schönste Deines Lebens zu werden." - Mark Twain
    "Sei Du selbst die Veränderung, die Du Dir wünschst für diese Welt." - Mahatma Gandhi