Wann sind beim Erzählen Verstöße gegen den guten Stil erlaubt?


  • (...)
    Um einen besonderen Zweck zu erreichen, mag man Ausnahmen von der Regel zulassen. (...)


    Wenn ich die Postings durchgehe, sehe ich (wenn ich es einmal zuspitzen darf) folgenden Gegensatz in der Beantwortung der Problemfrage:
    Auf der einen Seite wird der Stilbruch als Ausnahme gesehen, die einen besonderen Grund hat (z.B. bei der Formulierung eines besonderen und für viele doch verständlichen Gedankens oder beim perspektivischen Erzählen).
    Auf der anderen Seite kann der Stilbruch aber auch als Regel gesehen werden, die man beim Schreiben anstrebt. Wenn man davon ausgeht, dass Inhalt und Form eine Einheit bilden, dann muss man doch, wenn man etwas Neues und Besonderes ausdrücken will, ständig die Konventionen des Hergebrachten und Ausgelutschten durchbrechen und es auf neue Weise zum Ausdruck bringen - selbst auf die Gefahr hin, nicht für alle verständlich zu sein.
    Oder?

  • Wenn ich die Postings durchgehe, sehe ich (wenn ich es einmal zuspitzen darf) folgenden Gegensatz in der Beantwortung der Problemfrage:
    Auf der einen Seite wird der Stilbruch als Ausnahme gesehen, die einen besonderen Grund hat (z.B. bei der Formulierung eines besonderen und für viele doch verständlichen Gedankens oder beim perspektivischen Erzählen).
    Auf der anderen Seite kann der Stilbruch aber auch als Regel gesehen werden, die man beim Schreiben anstrebt. Wenn man davon ausgeht, dass Inhalt und Form eine Einheit bilden, dann muss man doch, wenn man etwas Neues und Besonderes ausdrücken will, ständig die Konventionen des Hergebrachten und Ausgelutschten durchbrechen und es auf neue Weise zum Ausdruck bringen - selbst auf die Gefahr hin, nicht für alle verständlich zu sein.
    Oder?


    Kein »Oder«
    :dafuer

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Auf der anderen Seite kann der Stilbruch aber auch als Regel gesehen werden, die man beim Schreiben anstrebt. Wenn man davon ausgeht, dass Inhalt und Form eine Einheit bilden, dann muss man doch, wenn man etwas Neues und Besonderes ausdrücken will, ständig die Konventionen des Hergebrachten und Ausgelutschten durchbrechen und es auf neue Weise zum Ausdruck bringen - selbst auf die Gefahr hin, nicht für alle verständlich zu sein.

    Tue ich mich schwer mit. Nicht, dass man das so nicht versuchen kann, aber ich denke, dass es in 999 von 1000 Fällen (vermutlich noch häufiger) zu einer fürchterlich gestelzten Ausdrucksweise führen wird. Ich würde sagen, dass der Stilbruch als Regel (eigentlich ein Widerspruch in sich selbst) dann in Ordnung ist, wenn er sich beim Schreiben des Werks natürlich ergibt... und dass man dann die Sache nicht zerstören sollte, indem man um der Schreibratgeber willen alle Stilbrüche eliminiert. Aber... nein, ich würde den Stilbruch nicht um seiner selbst willen anstreben.

  • Aber... nein, ich würde den Stilbruch nicht um seiner selbst willen anstreben.


    Das, lieber Achim, ist sicher eine Überzeichnung. Es geht weniger um den Stilbuch "um seiner selbst" als um den Stilbruch, um das Neue und von dem Bisherigen abweichende darzustellen.

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    Emanuel von Bodmann


  • Aber... nein, ich würde den Stilbruch nicht um seiner selbst willen anstreben.

    Das kann aber ein toller Effekt sein. Beispiel: Catcher in the Rye.
    Diese rotzige Jugendlichen-Sprache aus der Ich-Perspektive. Stilistisch ein Desaster, umgangssprachliches Kauderwelsch. Aber genau dadurch besonders plastisch. Fast greifbar.
    Kann auch übelst nach hinten losgehen, klar.
    Aber man kann sich ja an den gelungenen Versuchen orientieren statt an den misslungenen.

  • @ Alexander R. Zitat


    "Zweimal: Nein. Es ist nicht alles larifari. Oder subjektiv.


    Wenn man zu einer Gruppe stößt, in der die anderen sich kennen, dann stellt man sich vor. Das gilt überall im Leben und auch in diesem Forum.


    Bei Literatur und Stil gibt es unterschiedliche Geschmäcker. Die einen mögen es schlicht, die anderen opulent und so weiter. Im Rahmen dieser Geschmäcker gibt es aber Regeln für guten Stil. "


    Ebenfalls zweimal: Nein. Zum ersten meine ich, in diesem Thread geht es um Schreibstil (Literaturstil, Erzählstil etc.) und nicht um ANDERE Stiligkeiten (gleich ob nun Stilvolligkeiten oder Stillosigkeiten anderer Coleur).


    Zum zweiten möchte ich Dich beim Wort nehmen: "...im Rahmen dieser Geschmäcker..." Für mich gibt es keinen festen Rahmen - ein solcher ist beliebig ziehbar. Und es gibt obendrein nur individuelle Geschmäcker - und Milliarden Individuen, welche sich obendrein noch dazu stetig ändern ( πάντα ῥεῖ = panta rhei - alles fließt, nach Simplikios "Πάντα χωρεῖ καὶ οὐδὲν μένει "= „Pánta chorei kaì oudèn ménei“, „Alles bewegt sich fort und nichts bleibt.“, in einem Kommentar zu Aristoteles, ursprünglich von Ἡράκλειτος ὁ Ἐφέσιος = Herákleitos ho Ephésios: „Wir steigen in denselben Fluss und doch nicht in denselben, wir sind es und wir sind es nicht.“, Fragment 49a DK = Diels/Kranz, Übersetzung nach Wilhelm Capelle, Die Vorsokratiker). "...Im Rahmen dieser Geschmäcker..." ist für mich deswegen die Beliebigkeit der Beliebigkeit und keine Regel für einen "Guten Stil". Ich halte nichts von der Idee einer "Stilfibel" für alle. Vom Haiku bis zum hyperpostmodernen Anti-Stil kann ALLES zur Richtschnur des "Guten" ernannt werden.


    Mit freundlichen Grüßen


    Walter Hilton

  • Tue ich mich schwer mit. Nicht, dass man das so nicht versuchen kann, aber ich denke, dass es in 999 von 1000 Fällen (vermutlich noch häufiger) zu einer fürchterlich gestelzten Ausdrucksweise führen wird. Ich würde sagen, dass der Stilbruch als Regel (eigentlich ein Widerspruch in sich selbst) dann in Ordnung ist, wenn er sich beim Schreiben des Werks natürlich ergibt... und dass man dann die Sache nicht zerstören sollte, indem man um der Schreibratgeber willen alle Stilbrüche eliminiert. Aber... nein, ich würde den Stilbruch nicht um seiner selbst willen (J.B.) anstreben.


    Genau, sinnvoll scheint der Stilbruch nur dann zu sein, wenn der Inhalt und der Zweck des Erzählens ihn erfordern.


    Aber dann ergibt sich ein neues Problem: Wenn einem der jeweilige Erzählzweck eines Textes nicht einsichtig wird, sieht man nur störende Stilbrüche eines (vermeintlich) schlechten Textes. Dieses Gefühl, über einen Text nur den Kopf schütteln zu können, kennt doch jeder, der sich an seine ersten Lektüre-Erlebnisse bei Goethe, Brecht oder Grass erinnert. War es damals eine Hilfe, als man den Erzählzweck von einem anderen gesagt bekam? Oder lag das Entscheidende nicht vielmehr darin, dass man mit seinen eigenen Bordmitteln selbst auf den Trichter kam? Jetzt benenne ich das Problem (einmal aus Sicht des Lesers, dann aus Sicht des Autors):
    Wie viele Zumutungen an Stilbrüchen sollte ich als Leser erdulden, bis mir der Erzählzweck aufgeht?
    Was muss ich als Autor tun, um den Leser trotz aller (notwendiger) Stilfehler bei der Stange zu halten?


  • Aber dann ergibt sich ein neues Problem: Wenn einem der jeweilige Erzählzweck eines Textes nicht einsichtig wird, sieht man nur störende Stilbrüche eines (vermeintlich) schlechten Textes. Dieses Gefühl, über einen Text nur den Kopf schütteln zu können, kennt doch jeder, der sich an seine ersten Lektüre-Erlebnisse bei Goethe, Brecht oder Grass erinnert. War es damals eine Hilfe, als man den Erzählzweck von einem anderen gesagt bekam? Oder lag das Entscheidende nicht vielmehr darin, dass man mit seinen eigenen Bordmitteln selbst auf den Trichter kam?


    Ich war fünfzehn, vielleicht fast sechzehn Jahre alt, als ich "Katz und Maus" von Grass gelesen habe. Ich war beeindruckt, fühlte mich angesprochen und das Thema Stilbruch interessierte mich überhaupt nicht. Ich habe weder den Kopf geschüttelt noch das Buch um des Stil willens verurteilt. Es war auch keine Schullektüre sondern wurde willkürlich aus dem Regal der Erwachsenenbibliothek gezogen, zu der ich frühzeitig Zutritt bekam, weil die Bibliothekarin wusste, dass es für mich in der Jugendabteilung nichts mehr gab und mir ohnehin für Literatur, die ich für Arbeiten in der Schule benötigte, den Zugang in den "gehobenen Bereich" geöffnet hatte. Gleichzeitig hatte ich mir damals den "Knulp" von Hesse gezogen (kein Stilbruch) und als ich dann beim nächsten Besuch zur »Blechtrommel« und dem »Steppenwolf« griff, sortierte die Bibliothekarin letzteren (der durchaus Stilbrüche enthält) wieder aus. Das wäre nun doch noch nichts für mich, sagte sie, ich sollte da noch ein bis zwei Jahre mit warten. Heute vermute ich, dass sie Grass damals selbst nicht gelesen hatte, sonst hätte ich den nicht mit durchbekommen.


    Was ich sagen wollte: Stilbrüche müssen als solche nicht immer hinterfragt werden vom Leser. Manchmal kommen die genau richtig.


    Zitat


    Jetzt benenne ich das Problem (einmal aus Sicht des Lesers, dann aus Sicht des Autors):
    Wie viele Zumutungen an Stilbrüchen sollte ich als Leser erdulden, bis mir der Erzählzweck aufgeht?
    Was muss ich als Autor tun, um den Leser trotz aller (notwendiger) Stilfehler bei der Stange zu halten?


    Wie schon geschrieben: Stilbrüche müssen nicht unbedingt erduldet werden. Das ist eine sehr merkwürdige Anschauung. Stilbrüche können eine Erleichterung - nicht nur für den Autor, sondern auch für den Leser sein. Mir kommt diese Frage sehr "akademisch" vor. Als Leser sollte ich ein Buch fortlegen, wenn ich das Gefühl habe, ich erdulde da etwas.


    Lieber Jürgen, du verwendest die begriffe »Stilfehler« und »Stilbrüche« synonym. Das scheint mir nicht angemessen zu sein. Ich meine, der Autor muss überhaupt nichts tun, um den Leser bei der Stange zu halten. Wenn er einen Stilbruch für nötig hält, dann muss er ihn begehen, ganz gleich, ob das ein Leser als Fehler ansieht oder nicht.


    Horst-Dieter

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    Emanuel von Bodmann



  • (...)
    Stilbrüche müssen nicht unbedingt erduldet werden. Das ist eine sehr merkwürdige Anschauung. (...) Als Leser sollte ich ein Buch fortlegen, wenn ich das Gefühl habe, ich erdulde da etwas.


    Hey, lieber Horst-Dieter, wer hier wohl eine merkwürdige Anschauung hat. Wie soll man sich bitte schön das Lesen ohne Leiden vorstellen? Noch nie was von Katharsis gehört?


    ;)

  • Hey, lieber Horst-Dieter, wer hier wohl eine merkwürdige Anschauung hat. Wie soll man sich bitte schön das Lesen ohne Leiden vorstellen? Noch nie was von Katharsis gehört?


    ;)


    Lieber Jürgen,


    bereits Brecht hat gegen die Katharsis (als Element des Theaters) polemisiert, und er war nicht der erste. Was mit Katharsis in Zusammenhang zu bringen ist, ist auch eher »die Leidenschaft« und nicht primär »das Leiden«. Zumindest wird die (aristotelische) Katharsis heute sehr kontrovers disktutiert. Wenn Stilbrüche dem Leser eine gewisse Duldung abverlangen,ist das sicher in Ordnung aber dass er etwas erdulden (erleiden) muss, halte ich für abwegig. So gesehen hätten dann auch solche Stilbrüche ihre Berechtigung.


    Horst-Dieter

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    Emanuel von Bodmann


  • Stile ändern sich. Was vor hundert Jahren ein guter Stil war, mag heute mühsam erscheinen.
    Wenn ich mir eure Beispiel so ansehe komme ich mir wie ein Kulturbanause vor :D .


    Stil ist etwas rein subjektives, betreffend wie etwas geschrieben wird und wie es beim Leser ankommt. Wenn ich einen Roman lese, will ich primär unterhalten sein und mir nicht bei jedem Satz überlegen müssen, wie ich ihn auszulegen habe.
    Wenn ich Fachbücher lese, will ich mich informieren. Dementsprechend ist der Stil dann nüchterner.


    Alexandre Dumas wurde damals nach Seitenanzahl bezahlt. Sein Stil ist mitunter sehr ausschweifend und mag nicht immer zu fesseln ...


    Stile sind so unterschiedlich wie Autoren, Leser, Zeiten und ständig im Fluss. Wer weiß, was man in hundert Jahren über die Stile unserer Zeit sagt?

  • Stile ändern sich. Was vor hundert Jahren ein guter Stil war, mag heute mühsam erscheinen.
    Wenn ich mir eure Beispiel so ansehe komme ich mir wie ein Kulturbanause vor :D .


    Bis jetzt wurden hier aber keine Beispiele gepostet, die hundert Jahre alt sind.


    Nehmen wir etwas ganz aktuelles, den neuen Roman von Reinhard Jirgl. Ich habe einen Absatz der Leseprobe entnommen:


    Zitat


    !Tretet Allemauern Allebarrieren !nieder. – !Ja, rasch noch sagen & wagen Das, was noch NIemals von Keinem gesagt & von Niemandem gewagt: Das-Äußerste. doch ?was ist das-Äußerste : 1 zugespitzte Landzunge aus einer öden Meeresbucht - ?Was findet sich im-Äußersten : im Flachwasser angeschwemmt Unrat Müll Kotbatzen Auswürfe der Immergleichen. haldenhoch ausgestreut Schallscherben über die Ufer die getrümmerten Schreie - All=ungehört – ?Wohin wagt sich die Atridenschwemme mit verrosteten Schwertern, Bell Kantoh der Säkulum-Yahoos mit troglodytem Blök & Gemaule, Religion Jogging Nordick Wall-King die Geh-Hilfen fürs ramponierte Hirn, milde Kräutertees & Stullenpapier beschmiert mit Schamanenfett Yogakringel in Butterkrem die Gemüteratzung & Schmalzbrote im Gepäck für den Seelenwandertag : Zum Ex-Oriente-Horizont – Ab-Zucht Gehirnphimose, bedrängt & gehetzt von Notwendigkeiten »Sale. Alles muß raus« – die Heut&hier leben: hartgesotten=verweichlicht.….


    ASIN/ISBN: 3446241272


    Und nun? Wer rechtfertigt dies?

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    Emanuel von Bodmann


  • Zitat von »Horst-Dieter

    Bis jetzt wurden hier aber keine Beispiele gepostet, die hundert Jahre alt sind.

    Ich bezog die hundert Jahre nicht auf die geposteten Beispiele. Ich hätte auch schreiben können, was vor vierhundert Jahren ... Ich wollte damit ausdrücken , dass ein Stil auch von der Zeit abhängen kann, in der etwas geschrieben wurde.

    Nehmen wir etwas ganz aktuelles, den neuen Roman von Reinhard Jirgl. Ich habe einen Absatz der Leseprobe entnommen:

    Zitat


    !Tretet Allemauern Allebarrieren !nieder. – !Ja, rasch noch sagen & wagen Das, was noch NIemals von Keinem gesagt & von Niemandem gewagt: Das-Äußerste. doch ?was ist das-Äußerste : 1 zugespitzte Landzunge aus einer öden Meeresbucht - ?Was findet sich im-Äußersten : im Flachwasser angeschwemmt Unrat Müll Kotbatzen Auswürfe der Immergleichen. haldenhoch ausgestreut Schallscherben über die Ufer die getrümmerten Schreie - All=ungehört – ?Wohin wagt sich die Atridenschwemme mit verrosteten Schwertern, Bell Kantoh der Säkulum-Yahoos mit troglodytem Blök & Gemaule, Religion Jogging Nordick Wall-King die Geh-Hilfen fürs ramponierte Hirn, milde Kräutertees & Stullenpapier beschmiert mit Schamanenfett Yogakringel in Butterkrem die Gemüteratzung & Schmalzbrote im Gepäck für den Seelenwandertag : Zum Ex-Oriente-Horizont – Ab-Zucht Gehirnphimose, bedrängt & gehetzt von Notwendigkeiten »Sale. Alles muß raus« – die Heut&hier leben: hartgesotten=verweichlicht.….

    Und nun? Wer rechtfertigt dies?

    ICH bestimmt nicht ;-). Aber wer das lesen möchte: gerne! Vielfalt ist schon o.k., es muss ja nicht jeden gleich vom Hocker reißen.

  • Zweimal: Nein. Es ist nicht alles larifari. Oder subjektiv.


    Wenn man zu einer Gruppe stößt, in der die anderen sich kennen, dann stellt man sich vor. Das gilt überall im Leben und auch in diesem Forum.

    Das hast du eindeutig Recht. Finde ich auch.


  • Nehmen wir etwas ganz aktuelles, den neuen Roman von Reinhard Jirgl. Ich habe einen Absatz der Leseprobe entnommen:



    Und nun? Wer rechtfertigt dies?


    Ich weiß nicht, ob es um Rechtfertiung geht; eher darum, ob der Text etwas bei einem auslöst - also um Katharsis einerseits und andererseits um den Erklärungsversuch, weshalb es zu kathartischen Wirkung kommt (oder eben nicht).


    Ich kann mit diesem Zitatschnipsel wenig anfangen, da ich den Erzählanlass nicht kenne; dafür müsste ich mir den ganzen Roman vornehmen.


    Zunächst fällt an dem Jirgl-Text wohl der großzügige und auf den ersten Blick vielleicht spinnerte Gebrauch der Satzzeichen auf. Wenn man aber z.B. die Ausrufezeichen wie in der Musik als Dynamikzeichen auffasst, die im Text lautliche Sinn-Akzente setzen, könnte man einen praktischen Sinn in der scheinbaren Exzentrik sehen. Wenn eine solche von den herkömmlichen (auf die Syntax bezogenen) Regeln abweichende Interpunktionspraxis einen Stilbruch darstellt, dann müsste man trotzdem schlussfolgern, dass "Stilbrüche" keine "Brüche" mit Tradition und Sprachgeschichte sind: So lange Menschen schreiben, versuchen sie, die Dynamik der gesprochenen Sprache in der Schrift abzubilden. Stilbrüche sind in der deutschen Sprache Tradition. Klassisches Beispiel für die Imitation alltäglicher Rede (mit dem dynamischen Einsatz des Ausrufezeichens):


    Zitat


    "Habe nun ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn."


    J. W. Goethe: Faust. Erster Teil. (1808)

    ASIN/ISBN: 395494104X


    "schönheit ist das versprechen, daß das werden kann, was wir uns wünschen." (Ronald M. Schernikau: Die Tage in L.)

    2 Mal editiert, zuletzt von Jürgen B. ()

  • Kafka operiert gern mit "öfters" und hat da und dort Konjunktivprobleme. Im Übrigen wird bei ihm ständig "sagte" benutzt.
    Kleist schert sich kein Deut um Konjunktiv I oder II.
    Schiller schwäbelt grammatisch und flucht. Dazu liebt er Bilder wie "Die Augen krass in die Ecke geworfen" (Kabale und Liebe).
    Goethe reimt hessisch (Neige, Du Schmerzenreiche)
    Grass setzt keine Kommata und "klaut" bei Kinderliedern.
    Brecht klaut häufig nur (Dreigroschenope= Beggars Opera).


    Kurz, Stil und Blüten können durchaus literarisch sein - müssen aber nicht.

  • Könnte es vielleicht so sein, dass guter/schlechter Stil sich ähnlich verhält wie gut/schlecht generell?


    Was ist gut, was schlecht? Ist reine Wertung finde ich. Alles, was dem eigenen Wertebild entspricht finden wir mal von Haus aus gut. Den Rest schlecht. Weil gut gleich ist (wie man selbst), passt, wohl tut, Sicherheit gibt. Aus diesem Grund sind wir ja oft auch so versessen darauf, einen Partner so zu machen, dass er wohl tut ... ;-)


    Mit dem Stil kommt mir das ähnlich vor. Wenn jemand gehobene und eloquente Literatur mag, dann findet er solchen Stil gut, weil er ihm entspricht. Schnoddriges oder Seichtes wird für ihn als schlechter Stil gewertet.


    Aus diesem Grund habe ich für mich allgemein gut und schlecht durch stimmig und nicht stimmig ersetzt. Sogar beim Essen. Gibt mehr Freiheit.


    In Folge würde ich sagen, dass es stimmigen und nicht stimmigen Stil gibt. Und das wiederum hat letztlich nur mit der Geschichte, den Orten, den Figuren, den Stimmungen zu tun. Und mit der Perspektive. 'Boah ey!' finde ich stimmig bei einem Vierzehnjährigen, Beim Uniprof passt's wohl nicht so. Oder vielleicht gerade, wenn er einen Verunglückten auf jugendlich-jovial machen möchte. Somit kann ich als Autor stimmig oder nicht stimmig schreiben. Ist nicht der Stil vielleicht sogar lediglich eine Komponente eines Bildes? Ein sechster Sinn sozusagen? Eine Mischung aus dem Geist des Geschriebenen und dem des Schreibers, idealerweise auf den des Lesers ein wenig abgestimmt?


    Dann kommt eine weitere Komponente dazu: Der Leser. Dort wird man vielleicht den Stil etwas relativieren müssen - wenn einem am Leser liegt (und nicht nur am Kritiker). Vielleicht wie im real life: Man möchte ja was rüberbringen, also sollte man auch in einem gewissen Maß auf sein Gegenüber eingehen. Wobei man diese Erkenntnisse natürlich weiters nutzen kann, um den Leser bewusst zu verstören. Letztlich wieder: stimmig? Nicht stimmig?


    Ich finde, dass Stilwechsel ein genauso geschicktes Mittel sein kann wie der Einsatz der Interpunktationsfülle. Auf jeden Fall im Dialog, aber warum nicht auch im Text, wechselnden Perspektiven angepasst?

    Versuchen Sie nicht, mir zu helfen. Viel zu viele Menschen haben mich schon als ihr Hobby verwendet.
    Jojo Moyes in ›Eine Handvoll Worte‹