Wann sind beim Erzählen Verstöße gegen den guten Stil erlaubt?

  • Hi!


    Unfertige oder schlechte Texte erkennt man u.a. an den Verstößen gegen den „guten“ Stil. Ich meine zum Beispiel: Grammatikschnitzer, verunglückte sprachliche Bilder, ungewöhnliche Wortkombinationen etc. Häufig liegen solche Verstöße (scheinbar?) so klar auf der Hand, dass man sie gar nicht näher erklären muss. Andererseits ist es aber auch so, dass man ähnliche Verstöße auch in guten und arrivierten Texten ausmachen kann, wo sie in keiner Weise stören. Da stellt sich für mich die Frage: Wann sind beim Erzählen Verstöße gegen den guten Stil erlaubt?


    Ich führe im Folgenden zwei willkürlich ausgewählte Beispiele aus der modernen Literatur an:

    Zitat


    Die Straße rutschte vor mir her. Ein verweintes Pferd sah mich aus Linsen an. Dann mußte ich aber nach rechts; wie es die alten Maurer gewollt hatten, in der ihrem Steinkanal. (Der Regen perkutierte leiser mein Schädeldach; der Blutstrom golfte; Glieder hingen und standen an mir herum : wenn ‚man wollte’, bewegte sich ein Daumen).“


    (Arno Schmidt: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954. Zürich 1985. S. 7)




    Hier gibt es ungewöhnliche Bilder: rutschende Straße, linsendes Pferd, golfender Blutstrom, herumhängende Glieder. Man könnte sagen, dass mit diesen Bildern die Ich-Perspektive eines durch den Regen laufenden und japsenden Brillenträgers zum Ausdruck kommt. So wäre auch die Umschreibung des Genitivs („in der ihrem Steinkanal“) zu erklären: An diesem umgangssprachlichen Einsprengsel (geht nicht etwa Sicks-mäßig das Abendland unter, sondern) wird die Perspektive eines „normalen“ Menschen deutlich – auf diese Weise wird etwas Nähe geschafft zu dem sonst so Schmidt-typischen arroganten Ich-Erzähler, der den Leser häufig zu belehren versucht mit Vorträgen über Politik, Mathematik und Staatshandbüchern.




    Zweites Beispiel:




    Zitat


    „Aber weil ich gerade sage sauber. Das ist natürlich nicht im streng hygienischen Sinn gemeint. Weil gestunken hat es schon immer ein bisschen im Internat, sprich Ausdünstung von Internatsbuben nicht immer ganz Rosengarten.“


    (Wolf Haas: Silentium!. Reinbek bei Hamburg 1999. S. 5)




    Das ist der typische Haas-Stil (-Bruch), in dem sich das literarische Erzählen an der Satz-Grammatik der gesprochenen Umgangssprache orientiert. Typisch ist zum Beispiel der „epistemische“ Weil-Satz (in Hauptsatzform), der die subjektive Meinung des Sprechers hervorhebt („Weil gestunken hat es schon immer ein bisschen im Internat“). Kenntlich wird dadurch eine durch und durch mittelmäßige Erzählperson, die genau so bemittelt ist wie die Person, über die sie erzählt: Privatdetektiv Brenner, der so viele Sachen nicht auf die Reihe kriegt – aber auf wunderbare Weise doch den Fall löst. Darüber hinaus finde ich bemerkenswert, dass der Erzähler mit dieser Umgangsprache in der Lage ist, seine Geschichten differenziert und poetisch auszudrücken; die Umgangssprache ist also eine vollständige und qualitativ gleichwertige Sprache (Register) wie unser Hochdeutsch.


    Kennt Ihr weitere Beispiele, in denen die Verstöße gegen den guten Stil sinnvoll sind?



  • Was ein guter Spatenstiel ist, weiß ich so ziemlich genau. Beim Schreibstil muß ich ob der gravierenden Subjektivität in der Bewertung passen.


    Arno Schmidt würde in seiner Weise heutzutage wohl nicht mehr auf den Buchmarkt ankommen wie damals. Schick doch mal eine Leseprobe von ihm an ein paar renommierte Verlage...


    Zu Wolf Haas enthalte ich mich an dieser Stelle lieber.


    Mit freundlichen Grüßen


    Walter Hilton


  • Lieber Walter,


    guter Stil ist hier im Forum, wenn man sich im Vestibül vorstellt, bevor man an Diskussionen teilnimmt.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hallo Jürgen,


    konkrete Beispiele fallen mir nicht ein, aber mal just my 10 Cent:


    Was guter Stil ist, bestimmen Kritiker, Lektoren und Schreibratgeber. Der Anfänger tut gut daran, sich erstmal an erprobten Stilratschlägen entlang zu hangeln, bis er sein Handwerk beherrscht. Der Meister kann es wagen, den guten Stil zu brechen, weil er das Gespür dafür hat, welcher Stilbruch beim Leser etwas auslöst. Er kann sozusagen Grenzen überwinden. So in der Art hat es Otto Schumann formuliert (auch ein Schreibratgeber).


    Liebe Grüße
    Achim

  • Was ein guter Spatenstiel ist, weiß ich so ziemlich genau. Beim Schreibstil muß ich ob der gravierenden Subjektivität in der Bewertung passen.



    Ob die Subjektivität nun in der Bewertung graviert oder passt, egal: Ich versuche es mal so: Bei einem guten Stil sind Inhalt und Form gleichberechtigt, ja, ich will sagen: identisch.


    Bei einem schlechten Stiel eben nicht.

  • [color=#000000]…


    Kennt Ihr weitere Beispiele, in denen die Verstöße gegen den guten Stil sinnvoll sind?


    Lieber Jürgen,


    ich finde die Idee zu diesem Fred gut. Allein schon deshalb, weil sie die Frage aufwirft, was guter Stil ist. Arno Schmidt ist jedenfalls auch heute noch ein Schriftsteller, den man lesen kann, anders als manche(n) andere(n) aus den 50er und 60er Jahren. Seine Bücher sind gewissermaßen zeitlos und können auch heute noch mit Genuss gelesen werden, wie ich noch vor wenigen Jahren beim wiederlesen von Das steinerne Herz feststellen konnte.


    Ein bisschen hast du ja zumindest zu erläutern versucht, was du als "gegen den guten Stil" geschrieben ansiehst. Aber ist immer, wenn sich jemand bemüht, nicht gegen Stilregeln zu verstoßen, das Ergebnis ein guter Stil? Wie sieht es mit folgendem Anfang einer Novelle aus:


    Zitat


    In einem parkumstandenen, durch seine unauffällige Abgerücktheit herrschaftlich anmutenden Haus, dem der elegante, südländische Loggienstil wohl anstand, wohnte seit dem Tod ihres Gatten eine junge, um ihrer Schönheit sowohl als um ihre Tugend willen nie anders als verehrungsvoll genannte Witwe, die sich in größter Zurückgezogenheit der Erziehung ihrer beiden Kinder widmete. Außer mit ihren unter demselben Dach wohnenden Eltern, einem pensionierten Obersten und seiner trotz ihres vorgerückten Alters die gesellschaftlichen Bande noch eifrig weiterpflegenden Gattin, sowie einigen engeren Freunden des Hauses verbanden sie nur wenige Beziehungen mit der menschlichen Außenwelt; derart, daß die beiden Alten, die, da die heimgekehrte Tochter mit den Kindern nur wenige Räume für sich beanspruchte, auch jetzt noch den Großteil des Hauses bewohnten, allein fast die Reste gesellschaftlichen Lebens repräsentierten, das früher einmal die Villa zu einem gern besuchten Sammelpunkt gemacht hatte.


    Diese zwei Sätze entstammen der Novelle »Der Kris« von Heinrich Schirmbeck (1915 - 2005). Darf man, mehr als hundert Jahre nach Kleist, noch einen derart manierierten Stil pflegen, der kaum noch ohne Mühe gelesen werden kann und oft dazu zwingt, innezuhalten, da sonst die Zusammenhänge und Inhalte dieser langen Sätze nicht preisgegeben werden? Man muss sie mühsam aus den Satzkonstruktionen herausklopfen. Es ist nicht so, dass mir Schirmbeck missfällt. Ich habe ihn früh entdeckt Anfang der 70er und immer gern gelesen, weniger allerdings wegen solcher Satzungetüme als wegen der Ideen und Gedanken, die er in seine Geschichten einzuweben verstand und nicht zuletzt auch deshalb, weil die Fähigkeit zu erzählen auch durch solche Satzgebilde bei ihm nicht kaputt gemacht wurde.


    Ist das vielleicht der Grund? Wenn jemand zu erzählen weiß, dann kann er sich alles erlauben? Auf Schmidts »Das kalte Herz« trifft das ja auch zu.


    ASIN/ISBN: 3927110213

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  • Was guter Stil ist, bestimmen Kritiker, Lektoren und Schreibratgeber. Der Anfänger tut gut daran, sich erstmal an erprobten Stilratschlägen entlang zu hangeln, bis er sein Handwerk beherrscht. Der Meister kann es wagen, den guten Stil zu brechen, weil er das Gespür dafür hat, welcher Stilbruch beim Leser etwas auslöst. Er kann sozusagen Grenzen überwinden. So in der Art hat es Otto Schumann formuliert (auch ein Schreibratgeber).


    Liebe Grüße
    Achim


    Und mit einer der ältesten in Deutschland. Sein Buch entstand in den 50er Jahren und wurde seither wieder und wieder aufgelegt, manchmal komplett, manchmal in Auszügen.


    Aber, Achim, vielleicht kannst du uns ja kurz und knapp erklären, was guter Stil ist.


    Hoffnungsvolle Grüße


    Horst-Dieter

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  • Oder dies hier:

    Zitat


    Herzen brachen. Sie steckte ihre Hände tiefer in die Manteltaschen. Herzen konnten brechen. Sie hätte die Daunenjacke anziehen sollen. Der Stoffmantel nicht warm genug. Ihres. Ihr Herz. Das würde diese dünne Linie entlang. Diese Linie. Links. Links vom Brustbein. Diesen scharfen Schmerz entlang. Innen. Diesen Schmerz entlang. Der aus der Erinnerung aufstieg. Der aus der Erinnerung aufsteigen konnte. Mittlerweile. Dieser messerklingenscharfe Schnitt links in der Brust sich an sich selbst erinnern konnte. Längst nicht mehr die drängende Schwere einer Verzweiflung brauchte. Sich sammeln konnte. Zu diesem fadenspitzen Stechen gerann. Der Schmerz ein heller Metallfaden die Brust herauf gespannt. Mit sich trug. Oft.


    Der Anfang. Die erste Seite. Aus dem Buch. Von Marlene. Marlene Streeruwitz. Morire in Levitate. Darf man? Das. So machen. Hacken. Sätze zerhacken. Unvollständige Sätze. Bringen.


    Dieser Stil irritiert zu Beginn unglaublich. Richtiger Lesefluss will sich nicht aufbauen. Immer wieder die Frage - warum macht sie das? - man wird aus der Handlung herausgerissen. Nach und nach versteht man dann, dass dieser Stil angemessen ist. Besser kann die Zerissenheit der Protagnistin gar nicht dargestellt werden. Und wenn man sich dann drauf einlässt, ohne den Stil weiter zu hinterfragen, dann kommen auch die Bilder, die in diesem Text versteckt sind.


    Eine weitere These: Wenn der Stil die (innere) Situation des Protagonisten angemessen wiedergeben kann, ist es erlaubt mit der Sprache umzugehen wie sonst nicht.

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    Emanuel von Bodmann


  • Gar nicht so einfach zu beantworten, wie ich finde.


    Für mich ist ein guter Schreibstil, wenn man sich selbst treu bleibt, sich dabei aber ständig neu erfindet und seiner Geschichte mit seinen eigenen Ideen Leben einhaucht. Schlüsselfaktoren wie Grammatik müssen allerdings immer vorhanden sein, selbst verschwommene Rhetorische Figuren wirken alles andere als geschmackvoll. Wenn man schon auf grundlegende Fertigkeiten wie die Grammatik verzichtet, dann könnte man ja theoretisch auch gleich die Rechtschreibung oder Interpunktion nach seinen "Gunsten" verändern. Na ja Bücher u.a mit dem Titel "Chantal tu ma die Omma winken" :omastehen ja bereits in den Bücherregalen, frag mich ob die Geschichte auch mit ähnlicher "Rechtschreibung" verfasst wurden. Vielleicht kommt das mal in Mode, dann können wir uns wenigstens etliche Korrekturlesungen sparen. ;)




    Zitat

    Lieber Walter,


    guter Stil ist hier im Forum, wenn man sich im Vestibül vorstellt, bevor man an Diskussionen teilnimmt.


    Horst-Dieter


    Da hast du Recht. Immerhin wollen wir doch ein (grobes) Bild von unseren neuen Mitstreitern bekommen.



  • Lieber Horst-Dieter,
    auf die Schnelle geantwortet (ich kenne den Schirmbeck nicht) fällt mir nur ein: Hier liegt kein gelungener Stil vor, da die Personen, über die erzählt wird, total verkalkt sind, die zu solchen (auch wieder geschlossenen) Schachtelsätzen gar nicht mehr fähig sind. War das jetzt gemein? Ich versuche es noch einmal: Mir ist nicht klar, weshalb der auktoriale Erzähler so umständlich erzählt; er schwebt doch über der Szenerie, dann muss er doch keine Erzählerstimme aus dem 19. Jahrhundert nachahmen. Wenn er allerdings die Stimmen der erzählten Personen imitieren will, dann ist mir nicht klar, weshalb er sich so objektiv gebärdet in seinen Beschreibungen (z.B. "herrschaftlich anmutendes Haus": aus Sicht des Obersten mutet das Haus nicht nur an, sondern ist herrschaftlich.)
    Mit einem Wort: In diesem kurzen Zitat sehe ich noch keine Einheit von Form und Inhalt.


    Viele Grüße
    Jürgen

  • Vielleicht noch das:

    Zitat


    GELIEBTER, WEISSHAARIGER, SCHNEEBEDECKTER, KOPFLOSER, VERFEMTER, MIT SEINEN OPFERN SICH VERWECHSELNDER, SEINER EIGENEN GESCHICHTE ENTRATENER, WUNDERBARER, UNVERZEIHLICH VON SEINEM SOHN MISSACHTETER, UNVERZEIHLICH VON SEINEM SOHN VERRATENER, SÜSSESTER, ZÄRTLICH ANGEBETETER, ÜBERSCHULDETER, DER ICH DEINE SCHULD NICHT HABE ABTRAGEN HELFEN, DER ICH DICH IN DER NOT DES VERBRECHENS DER UNSCHULD VERDÄCHTIGTE, DER ICH JENEN VERURTEILTE, DER DU NICHT WARST, DER DU BIST, DER ICH DEINEN SEGEN SUCHTE, DEINE VERZEIHUNG, DEINE NACHSICHT, DEINE ANTWORT AUF MEINE ANKLAGEN, DER ICH DICH ANKLAGTE, DER ICH DICH ALS HERSTELLER VON MORDWERKZEUGEN ANGEKLAGT HABE, DER ICH MICH DER UNNACHSICHTIGKEIT ANKLAGE, DASS DU BIST DER DU BIST, SCHÖNSTER, VON SCHULDBERGEN ÜBERFORDERTER, VON SCHULDGEBIRGEN UNBEZWINGBARER, IM ABGRUND WINSELNDER, ZU BEKENNTNISSEN UNFÄHIGER, LIEBSTER, VERGREISTER, VERSCHÜTTETER, DER WAHRHEIT ENTFREMDETER, LÜGNER, HAKENSCHLAGENDER, FLÜCHTIGER, DU HERRLICHER, DU UNWISSENDER, DU GEWISSENLOSER, DU WISSENDER, WEISS GOTT DU LEUGNENDER, DICH VERLEUGNENDER, UNABSCHÄTZBARER UNTER DEN TÄTERN, TATENLOSER GEWALTMENSCH, TADELLOSER GEWALTTÄTER, IN DAS NICHTS ZURÜCKGLEITENDER, VERFAHRENER, ALLERLIEBSTER, DU MEIN VATER, DU NICHT ENDEN WOLLENDE AUFZÄHLUNG, DU UNGEZÄHLTER, DU VIELFÄLTIGER, DU STERBENDER, DU EINZIGER, GELIEBTER, UNGLÜCKLICHER VATER, DU UNGLÜCKLICHER.


    Ein Gestammel, dazu noch in Versalien. Sowieso schon schwer zu lesen und durch die Großbuchstaben noch schwerer. Darf man das? Offensichtlich ist da jemand emotional sehr angespannt. Einen Protagonisten gibt es nicht, weil hier der Sohn das Buch über seinen Vater schreibt und seine Zerrissenheit. Er liebt ihn und hasst ihn gleichzeitig. Er gibt ihm Schuld und möchte ihm Schuld nehmen. Dem Autor fällt nichts besseres ein, als dies GANZ GROSS zu zeigen, nicht zu verschweigen, es unübersehbar zu machen. Dafür schreibt er sogar gegen den guten Stil und sogar gegen gute Typographie. Einfach groß. Erfreulicherweise allerdings nur diese Stelle - der Rest des Buches kennt auch Kleinbuchstaben.


    Es ist Thomas Harlan und das Buch heißt Veit.

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    Emanuel von Bodmann


  • Lieber Horst-Dieter,
    auf die Schnelle geantwortet (ich kenne den Schirmbeck nicht) fällt mir nur ein: Hier liegt kein gelungener Stil vor, da die Personen, über die erzählt wird, total verkalkt sind, die zu solchen (auch wieder geschlossenen) Schachtelsätzen gar nicht mehr fähig sind. War das jetzt gemein? Ich versuche es noch einmal: Mir ist nicht klar, weshalb der auktoriale Erzähler so umständlich erzählt; er schwebt doch über der Szenerie, dann muss er doch keine Erzählerstimme aus dem 19. Jahrhundert nachahmen. Wenn er allerdings die Stimmen der erzählten Personen imitieren will, dann ist mir nicht klar, weshalb er sich so objektiv gebärdet in seinen Beschreibungen (z.B. "herrschaftlich anmutendes Haus": aus Sicht des Obersten mutet das Haus nicht nur an, sondern ist herrschaftlich.)
    Mit einem Wort: In diesem kurzen Zitat sehe ich noch keine Einheit von Form und Inhalt.


    Viele Grüße
    Jürgen


    Dass Heinrich SchirmbeckKleist bewundert, zeigt er auch in seinen anderen Büchern. Keine leichte Kost, heute wie damals nicht. Trotzdem lesenswert. Insbesondere sein Roman »Ärgert dich dein rechtes Auge«

    ASIN/ISBN: 3927110191

    Die Novelle »Der Kris« wurde Zeit seines Lebens nicht veröffentlicht. Erst zögerte der Verleger und gab sie ihm anschließend zurück und dann zögerte der Autor, und ließ sie liegen. Veröffentlicht wurde sie aus dem Nachlass. Insofern habe ich dir vielleicht ein Negativbeispiel geliefert. Obwohl - so ganz glaube ich das auch wieder nicht. Vielleicht fehlt auch einfach nur der letzte Schliff an dieser Novelle.

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Dass Heinrich SchirmbeckKleist bewundert, zeigt er auch in seinen anderen Büchern. Keine leichte Kost, heute wie damals nicht. Trotzdem lesenswert. Insbesondere sein Roman »Ärgert dich dein rechtes Auge«

    ASIN/ISBN: 3927110191


    Vielen Dank für den Tipp!


    Jürgen

  • Weiteres Beispiel:


    Zitat


    „Rings um uns hoben sich die Leiber aus dem Stein, zusammengedrängt zu Gruppen, ineinander verschlungen oder zu Fragmenten zersprengt, mit einem Torso, einem aufgestützten Arm, einer geborstnen Hüfte, einem verschorften Brocken ihre Gestalt andeutend, immer in den Gebärden des Kampfs, ausweichend, zurückschnellend, angreifend, sich deckend, hochgestreckt oder gekrümmt, hier und da ausgelöscht, doch noch mit einem freistehenden vorgestemmten Fuß, einem gedrehten Rücken, der Kontur einer Wade eingespannt in eine einzige gemeinsame Bewegung.“


    (Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands. Band 1. Frankfurt 1975. S. 7)




    Endlose Aufzählungen von Partizipien – hier müsste eigentlich der Deutschlehrer einschreiten. Aber der Satz stellt etwas Elementares dar: Der Ich-Erzähler erzählt, wie er den berühmten Altarfries im Pergamon-Museum betrachtet. Dabei werden die konkreten Eindrücke („geborstne Hüfte“) aufgezählt, bis sie sich in einem (nicht abwertend gemeinten) abstrakten Gedanken aufheben („eine einzige gemeinsame Bewegung“). Es ist dies (frei nach Kleist) die Verfertigung des Gedankens beim Sprechen. Dieser Satz, mit dem der Roman von Peter Weiss beginnt, bildet also einen Erkenntnisprozess ab, den der Leser selbst vollzieht, indem er sich durch den Satz arbeitet.

  • … – hier müsste eigentlich der Deutschlehrer einschreiten. …


    Und sollte das auch. Es besteht ja ein Unterschied zumindest darin, sich verständlich ausdrücken zu können und Sprache für künstlerische Zwecke zu verwenden. Peter Weiss gestaltet deiner Einschätzung nach mit der Sprache einen »Erkenntnisprozess« nach. Das ist mit einfachen, Schultauglichen Sätzen kaum zu machen. So wie Maler mit Farben, Flächen und Formen ins Abstrakte gehen mussten, um Erkenntnisprozesse »sichtbar« zu machen, so muss der Autor die Sprache von - sonst nötigen - Beschränkungen befreien, um mehr als nur das direkt gesagte zu zeigen. Es ist aber auch immer noch ein Stück zusätzlicher Information nötig. Der Textauszug von Peter Weiss gibt solcherart isoliert die Erkenntnis nicht preis, sondern erst, wenn man das fehlende Stichwort - Pergamon-Altarfries - bekommt und möglicherweise auch noch ein Bild von ihm hat.


    Peter Weiss und Marlene Streeruwitz gehören mit den hier zitierten Beispielen zusammen. Beide verändern die Sprache so, dass sie vom täglich gehörten abweicht und beide machen das, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, tiefer in das Denken und Empfinden der (Roman)Protagonisten einzudringen.

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    Emanuel von Bodmann


  • @ Horst-Dieter


    Zitat: "Lieber Walter,


    guter Stil ist hier im Forum, wenn man sich im Vestibül vorstellt, bevor man an Diskussionen teilnimmt.


    Horst-Dieter"


    Da siehst Du doch gleich mal, wie recht ich habe, daß "guter Stil" sehr subjektiv ist.


    @ all


    Da es DEN guten Stil nicht gibt, kann es auch keine Verstöße dagegen geben. Bei jedem Stilbruch ist es lediglich eine Frage der Beurteilungsparameter, ob der Stil vor oder der Stil nach dem Bruch der bessere ist - ob der Text dadurch verbessert oder verschlimmbessert wird.


    Mit freundlichen Grüßen


    Walter Hilton

  • Sorry ist ein wenig OT, aber mein Seelenheil hängt davon ab:  

    Was guter Stil ist, bestimmen Kritiker, Lektoren und Schreibratgeber. [...]


    Der Meister kann es wagen, den guten Stil zu brechen, weil er das Gespür dafür hat, welcher Stilbruch beim Leser etwas auslöst.

    Ich glaube, man muss etwas genauer hinsehen. Ich meine, wie sind denn die Autoren von Ratgebern an ihre Informationen gekommen? Im Idealfall haben sie die durch die Lektüre von ganz ganz vielen Romanen gewonnen. Im weniger idealen Fall haben sie die einfach aus älteren Ratgebern abgeschrieben. Beide Fälle gibt es.


    Entscheidend ist in meinen Augen keineswegs die Autorität eines Ratgebers oder Lektors, sondern letztlich immer nur man selbst. Und auch nicht erst, wenn man ein "Meister" oder was-weiß-ich ist. Sondern schon vom ersten Satz an, den man schreibt. Man sollte sich überlegen, was man tut.


    D.h. man sollte sich darüber klar sein, dass die Auswahl und Platzierung von Wörtern im Satz eine bestimmte Wirkung haben (und eben auf die meisten Menschen die gleiche). Es gibt Lesegewohnheiten.


    Als Anfänger hat man davon keine Ahnung, klar. Also sucht man nach Regeln (und investiert u.U. eine Menge Euros, um das Gefühl der Unsicherheit loszuwerden).


    Ich persönlich glaube, Schreiben kann man nicht lernen, sondern nur üben. Man muss selbst ausprobieren. "Regeln" aus Ratgebern sind bestenfalls Werkzeuge. Um damit umgehen zu können, muss man sie in die Hand nehmen und selber machen. Einfach mal zwei Seiten lang ein Stilmittel konsequent einsetzen. Feststellen, dass das Ergebnis Scheiße ist. Danach hat man ein bisschen was verstanden. Und dann kann man auch den eigenen Stil verbessern. Natürlich subjektiv. Wie denn sonst?


    So, zurück zur Stildiskussion. Da geht noch was.

  • Zweimal: Nein. Es ist nicht alles larifari. Oder subjektiv.


    Wenn man zu einer Gruppe stößt, in der die anderen sich kennen, dann stellt man sich vor. Das gilt überall im Leben und auch in diesem Forum.


    Bei Literatur und Stil gibt es unterschiedliche Geschmäcker. Die einen mögen es schlicht, die anderen opulent und so weiter. Im Rahmen dieser Geschmäcker gibt es aber Regeln für guten Stil. Die sind weder zwingend noch ausschließlich, treffen aber in den meisten Fällen zu, etwa: eher im Aktiv als im Passiv zu schreiben (wenn nicht gerade eine Leidensform ausgedrückt wird), vorsichtig mit vielen Adjektiven zu sein, keine Schachtelsätze zu bilden, eher Verben als Substantive oder Substantivierungen zu verwenden, das Verb nicht zu spät im Satz zu bringen ...


    Also eine farbige, lebendige Sprache zu benutzen statt einer sperrigen, bürokratischen. Ein Beispiel für gute Gesetzestechnik, aber grauenvolles Deutsch kann jeder in meiner Signatur lesen (mehrfache Verneinungen; daran ist sogar Lessing in "Emilia Galotti" gescheitert).


    Zu Jürgens Frage fiel mir "Deutsch für Profis" von Wolf Schneider ein. Schneider meint darin, gutes Deutsch sei in den meisten Fällen auch verständliches Deutsch. Am Schluss nennt er Beispiele von irgendwelchen Genies, die die Form brechen und zwar zum Teil schwer verständlich, aber trotzdem gut schreiben. Das heißt also: Guter Stil ist fast immer verständlicher Stil. Denn dazu sind Schreiben und Lesen doch da - dass die Leser den Schreibenden verstehen.


    Um einen besonderen Zweck zu erreichen, mag man Ausnahmen von der Regel zulassen. Das ändert aber nichts daran, dass die Regeln für guten Stil meistens zutreffen. Daher möchte ich die Ausnahmen eng fassen.

    Es gibt drei Regeln, wie man einen Roman schreibt. Unglücklicherweise weiß niemand, wie sie lauten. (William Somerset Maugham)

  • Mal abgesehen vom guten Stil des Sich-Einführens (dessen Kritik ich hier nur zustimmen kann).


    Der "gute Stil" beim Schreiben ist einigermaßen kompliziert. Für mich zählt dazu auch ein "schlechter" Stil. Nämlich dann, wenn z.B. bei einem Ich-Erzähler (wahlweise in etwas komplizierterer Weise bei einem Er-Erzähler) aus einer weniger gebildeten Schicht die Sprache entsprechend ist. Damit nicht stilistisch gut.


    Oder auch aus der Sicht eines Nicht-Muttersprachlers. Oder eines möglicherweise geistig Behinderten. Oder - berühmtes Beispiel "Die Sturmhöhe" sowas dagegen quasi Banales wie jemand, der "nur" Dialekt oder stark gefärbt spricht.


    Das aber sind eher schlichte Beispiele.


    Letztendlich ist die Frage, ob ein schiefes Bild "guter Stil" anhängig davon, ob es zum Erzähler oder Sprecher passt. In gesprochener Sprache kann man wesentlich mehr durchgehen lassen, auch bei einem Ich-Erzähler. Es gibt auch Ich-Erzähler, denen man schiefe Bilder verzeiht, wenn sie ihre persönlich Eigenschaft sind, also durchgehend (und vorzugsweise originell).


    Und allerletztendlich ist das eine Frage an den Leser, den nur er beantworten kann. Akzeptiert der Leser das, dann kommt es einfach überzeugend rüber.