Hi!
Unfertige oder schlechte Texte erkennt man u.a. an den Verstößen gegen den „guten“ Stil. Ich meine zum Beispiel: Grammatikschnitzer, verunglückte sprachliche Bilder, ungewöhnliche Wortkombinationen etc. Häufig liegen solche Verstöße (scheinbar?) so klar auf der Hand, dass man sie gar nicht näher erklären muss. Andererseits ist es aber auch so, dass man ähnliche Verstöße auch in guten und arrivierten Texten ausmachen kann, wo sie in keiner Weise stören. Da stellt sich für mich die Frage: Wann sind beim Erzählen Verstöße gegen den guten Stil erlaubt?
Ich führe im Folgenden zwei willkürlich ausgewählte Beispiele aus der modernen Literatur an:
Zitat
„Die Straße rutschte vor mir her. Ein verweintes Pferd sah mich aus Linsen an. Dann mußte ich aber nach rechts; wie es die alten Maurer gewollt hatten, in der ihrem Steinkanal. (Der Regen perkutierte leiser mein Schädeldach; der Blutstrom golfte; Glieder hingen und standen an mir herum : wenn ‚man wollte’, bewegte sich ein Daumen).“
(Arno Schmidt: Das steinerne Herz. Historischer Roman aus dem Jahre 1954. Zürich 1985. S. 7)
Hier gibt es ungewöhnliche Bilder: rutschende Straße, linsendes Pferd, golfender Blutstrom, herumhängende Glieder. Man könnte sagen, dass mit diesen Bildern die Ich-Perspektive eines durch den Regen laufenden und japsenden Brillenträgers zum Ausdruck kommt. So wäre auch die Umschreibung des Genitivs („in der ihrem Steinkanal“) zu erklären: An diesem umgangssprachlichen Einsprengsel (geht nicht etwa Sicks-mäßig das Abendland unter, sondern) wird die Perspektive eines „normalen“ Menschen deutlich – auf diese Weise wird etwas Nähe geschafft zu dem sonst so Schmidt-typischen arroganten Ich-Erzähler, der den Leser häufig zu belehren versucht mit Vorträgen über Politik, Mathematik und Staatshandbüchern.
Zweites Beispiel:
Zitat
„Aber weil ich gerade sage sauber. Das ist natürlich nicht im streng hygienischen Sinn gemeint. Weil gestunken hat es schon immer ein bisschen im Internat, sprich Ausdünstung von Internatsbuben nicht immer ganz Rosengarten.“
(Wolf Haas: Silentium!. Reinbek bei Hamburg 1999. S. 5)
Das ist der typische Haas-Stil (-Bruch), in dem sich das literarische Erzählen an der Satz-Grammatik der gesprochenen Umgangssprache orientiert. Typisch ist zum Beispiel der „epistemische“ Weil-Satz (in Hauptsatzform), der die subjektive Meinung des Sprechers hervorhebt („Weil gestunken hat es schon immer ein bisschen im Internat“). Kenntlich wird dadurch eine durch und durch mittelmäßige Erzählperson, die genau so bemittelt ist wie die Person, über die sie erzählt: Privatdetektiv Brenner, der so viele Sachen nicht auf die Reihe kriegt – aber auf wunderbare Weise doch den Fall löst. Darüber hinaus finde ich bemerkenswert, dass der Erzähler mit dieser Umgangsprache in der Lage ist, seine Geschichten differenziert und poetisch auszudrücken; die Umgangssprache ist also eine vollständige und qualitativ gleichwertige Sprache (Register) wie unser Hochdeutsch.
Kennt Ihr weitere Beispiele, in denen die Verstöße gegen den guten Stil sinnvoll sind?