Haruki Murakami: 1Q84, Buch 3

  • Tschechows Gesetz



    Etwa auf Seite 500 von "Buch 3", also auf Seite 1500 des gesamten "1Q84"-Epos, lässt Murakami seine Figuren über "Tschechows Gesetz" parlieren. Jene Maßgabe des vor über hundert Jahren verstorbenen russischen Schriftstellers besagte, dass eine Waffe, die im ersten Akt eines dramatischen Werks eingeführt wird, auch irgendwann im Verlauf der Handlung abgefeuert werden muss, aus Gründen der dramaturgischen Konsistenz (weil es sonst sinnlos wäre, die Waffe überhaupt zu erwähnen). "Literatur ist heute anders", erklärt eine Murakami-Figur, die Tschechow'sche Regel verneinend, was einer Botschaft an den Leser gleichkommt. Ob das mit der Andersartigkeit der Literatur grundsätzlich stimmt, sei dahingestellt, in jedem Fall aber gilt es für dieses Buch. Denn nur ein Bruchteil der vielen Aspekte, Handlungsstränge, Rätsel und Andeutungen, die Murakami über insgesamt fast 1600 Seiten hinweg eingeführt hat, wird im Verlauf von "1Q84, Buch 3" zu einer befriedigenden Auflösung geleitet. Immerhin, der Roman verfügt über ein Finale, hinterlässt den Leser aber mit mehr offenen Fragen als mit beantworteten. Was für Murakami-Leser keinen sonderlich ungewöhnlichen Umstand darstellt: Auch bei Büchern wie "Mister Aufziehvogel" oder "Kafka am Strand" fragte man sich nach der Lektüre das eine ums andere Mal, welche Bedeutung einige Elemente hatten, möglicherweise fälschlich unterstellend, dass es überhaupt eine gab. Und obwohl die ersten beiden Bücher, in Deutschland zusammengefasst zu einem, Hoffnung machten, scheint es auch bei "1Q84" wieder so zu sein.
    Leider, wie ich aus persönlicher Sicht anfügen möchte.


    Die beiden Monde sind noch immer am Himmel, während Aomame und Tengo, keine 300 Meter voneinander entfernt in einem Vorort von Tokio lebend, darauf warten und hoffen, sich zu begegnen, was durch Aomames Isolation ' sie versteckt sich vor ihren Häschern ' und Tengos Unkenntnis von ihrer Nähe nicht gerade erleichtert wird. Zugleich befindet sich der verwachsene, unansehnliche, aber sehr gewiefte Privatermittler Ushikawa auf der Suche nach Aomame, beauftragt von den "Vorreitern", jener Sekte, deren Anführer Aomame auftragsgemäß getötet hat, und die sich seitdem, vor allem aber seit dem Erscheinen des Fantasy-Romans "Die Puppe aus Luft", den Tengo umgeschrieben hat, in einer existentiellen Krise zu befinden scheint. "Buch 3" erzählt wechselnd aus den Perspektiven von Tengo, Aomame und Ushikawa, und nicht selten wiederholt sich dadurch, was man aus Sicht einer anderen Person bereits erfahren hatte. Das täuscht kaum darüber hinweg, dass die Handlung eher schmal ausfällt ' diese Fortsetzung, die möglicherweise auch das Ende ist, handelt vom Warten. Genau das tut auch der geneigte Leser: Er wartet darauf, dass sich die beiden endlich treffen. Leider bleibt unterm Strich auch nicht viel mehr übrig. Anders gesagt: Das Warten hat sich nicht gelohnt.


    Die ausdrücklich ' stellvertretend durch sein Romanpersonal ' erwähnte Ablehnung herkömmlicher dramaturgischer Konzepte und "Vollständigkeitszwänge" hat bei diesem ansonsten doch recht klassisch erzählten Buch die Wirkung eines langen und sehr komplizierten Rätsels, dessen Lösung man schließlich entnervt ergoogelt. Stunden-, gar tagelang hat man herumprobiert, gegrübelt, verworfen und erneut ausprobiert, um schließlich zur Erkenntnis zu gelangen, dass man schlicht zu dumm ist ' oder der Rätseldesigner einen entscheidenden Fehler gemacht, also ein unlösbares Rätsel konstruiert hat. Was auch in Ordnung wäre, hätte es bisher wenigstens Spaß bereitet. Das aber gilt leider nur für die ersten beiden Teile; "Buch 3" kommt nicht nur mit einer anderen Struktur daher, sondern scheint auch sprachlich und stilistisch ziemlich auf der Bremse zu stehen. Es gibt beispielsweise eine Stelle, an der Tengo zur Einäscherung seines Vaters fährt und ein Krematorium aufsucht. Die Beschreibung des Ortes fasst der Autor in Worte, die die sprachliche Simplizität des gesamten Werkes ' Murakami ist fraglos kein großer Stilist ' noch in den Schatten stellen, was wirklich etwas heißen will. Und überhaupt mutet "Buch 3" seltsam linear, ermüdend, selbstreferentiell an, verstrickt sich in Wiederholungen, repetierten Behauptungen und Beobachtungen. Ja, die Zeit steht still. Natürlich geht es ' in gewisser Weise ' genau darum im gesamten "1Q84". Aber es gibt abseits derjenigen, die Tschechow formuliert hat, noch andere Regeln, die eben nicht ungültig sind. Eine davon lautet: Wenn etwas nicht interessant genug ist, um erzählt zu werden, dann erzähl es eben bitteschön auch nicht. Der (vorerst?) letzte Band des vielversprechend gestarteten "1Q84" scheint aber hauptsächlich aus solchen Elementen zu bestehen. Und er laviert dabei auch noch ständig am Rand zur sprachlichen Katastrophe.


    Wie schade. Wie äußerst schade. Was bleibt? Der großartige Eindruck, den die ersten beiden Teile hinterließen. Und die Möglichkeit, des Rätsels Lösung zu ergoogeln.


    ASIN/ISBN: 3832195882

  • Zitat

    Immerhin, der Roman verfügt über ein Finale, hinterlässt den Leser aber mit mehr offenen Fragen als mit beantworteten. Was für Murakami-Leser keinen sonderlich ungewöhnlichen Umstand darstellt: Auch bei Büchern wie "Mister Aufziehvogel" oder "Kafka am Strand" fragte man sich nach der Lektüre das eine ums andere Mal, welche Bedeutung einige Elemente hatten, möglicherweise fälschlich unterstellend, dass es überhaupt eine gab.


    Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich mit Murakami nichts anfangen kann.

  • Ich habe dieses Mammutwerk gestern zu Ende gebracht. Mag sein, dass ich ihm deshalb positiver gegenüberstehe, als Vorrezensenten, da ich alle drei Bände in einem Rutsch gelesen habe, wenngleich die Verdauung noch im Gange ist.

    Vorweg: Ich mag Murakami. Sehr sogar! Ob Kafka am Strand, Mr. Aufziehvogel, Wilde Schafsjagd oder diverse Kurzgeschichten, anyway. Zu behaupten, Haruki hätte keinen oder einen mangelhaften Stil kann ich in keinster Weise nachvollziehen. Ganz im Gegenteil!

    Vor diesem Gewaltepos, 1Q84, stehe ich jedenfalls fassungslos, staunend, wie ein gläubiger Moslem vor der Kabaa. Eine solche Geschichte zu erfinden, über rund 1.570 Seiten hinweg zu entwickeln, und das mit derartiger Figurentiefe, quasi jede Perspektive auszuleuchten, bis ins kleinste Detail, ohne jemals die Fäden zu verwirren, geschweige denn zu verlieren, Leute ... wenn das nicht hohe Kunst der Literatur ist, dann verstehe ich nichts davon.

    Ich bin zu klein für dieses Werk, um es gebührend zu rezensieren. Eingedampft auf einen einzigen Satz: (Welche Anmaßung!) Eine utopische Liebesgeschichte, im wahrsten Wortsinn. Wenn auch die komplexeste und wahrlich seltsamste, die ich jemals gelesen habe.

  • Hallo, Manuela.


    Du gehörst offenbar auch zu den Leuten, die Murakami sogar den LitNob geben würden. Ehrlich, ich würde ihn dann später aus genau diesem Grund ablehnen. 8)


    Ich bin eigentlich ziemlich entspannt, also weder Fan, noch energischer Gegner, obwohl ich sanft-bestätigend genickt habe, als irgendein Redakteur - SZ, glaube ich - vor ein paar Jahren wohlbegründet ausführte, Hurakami sei einer der größten Blender der Gegenwartsliteratur. Das ist eine mögliche Auslegung seiner oft verwirrenden Arbeit. Aber ich finde dann vieles wieder auch sehr fantasiereich, dramaturgisch toll gebaut, beeindruckend konstruiert. Murakami ist ein guter Erzähler, aber, entschiedenes Nein, er ist kein Stilist. Selbst in "Hard-boiled Wonderland" nicht, das ich wirklich sehr, sehr mag.


    Mit 1Q84 hat er mich anfangs gehabt, fast überzeugt, aber dann kam dieser bescheuerte dritte Band - der ja damals auch mehrfach verschoben wurde - und hat alles vernichtet. Wieder einmal fand der Meister selbst keine Erklärung für all das Zeug, hat einfach das meiste auf der Strecke liegenlassen, eine weitschweifige Erzählung ohne Boden, gar ohne Fundament geliefert. Auch Du müsstest mir wahrscheinlich ziemlich viele Antworten schuldig bleiben. Und das ist ja absolut in Ordnung, aber ich mag es halt nicht, ich fühle mich getäuscht und veralbert. Ich finde, er ist wirklich ein guter Erzähler, aber kein guter Romancier, und er hat ein grundsätzliches Problem mit seinen Plots. ;)

  • Ich finde, es löst sich doch alles auf. Was bleibt offen? Ob Tengo und Aomame schlussendlich wieder in ihrer vertrauten Welt sind ist doch Schnuppe. Sie sind nicht mehr in1Q84. Und darauf kommt es an. Der seitenverkehrte Esso-Tiger deutet an, dass sie erneut in einer Parallelwelt sind, eigentlich sind diese Realitäten gar nicht parallel, sondern überlappend, aber sicher ist das nicht. Anyway. Jedenfalls gibt es dort keine little people, mothers und daughters bzw. preceiver und receiver mehr. Und darauf kommt es doch an.

    Für mich ist diese Geschichte schlüssig. Was bleibt tatsächlich offen? Wer oder was die little people sind und warum sie so sind, wie sie sind, und woher sie kommen? Das steht doch nicht im Vordergrund des Plots. Sie sind einfach da und das, wie der Leader sagte, seit ewigen Zeiten. Das genügt mir.

    Es gibt Längen, keine Frage, das eine oder andere müsste nicht so detailliert und mitunter langwierig ausgewalzt werden, aber mich hat das nicht gestört. Auch fand ich keine literarischen Sackgassen, wie in so manch anderen, teils berühmten Werken. Und zum Literaturnobelpreis: Bob Dylan hat ihn eher verdient? :rofl

    Wie auch immer, mir hat es gefallen.


    Greetings from Manila,

    Manuela :)

  • Ich habe die drei Teile in einem Zug gelesen und war vor allem von dem Sog der Geschichte begeistert. War bisher mein einziger Murakami, will aber schon sehr gerne noch einen lesen. Auch ich war am Ende etwas unbefriedigt, denn ich hatte auch erwartet, dass man über diese kleinen Männchen und die Puppen mehr erfahren würde. Insgesamt war es aber dennoch ein großartiges Leseerlebnis. Vor allem der geheimnisvolle Charakter der Autorin - deren Namen ich vergessen habe - und die mystische Atmosphäre, die Murakami erzeugt, haben es mir angetan.