TA 7: E.T.A. Hoffmann "Der Sandmann"

  • Hallo HD,
    dann fange ich mal mit meiner Antwort an.


    Ich denke nicht, dass Nathanael für Hoffmann "geisteskrank" ist, das wäre eher eine Figur wie Cadillac. Aber ich gebe zu, dass ich auch keine Stellungnahmen Hoffmanns zum Sandmann kenne (ich glaube, es gibt gar keine). Für mich ist das eher die Geschichte eines Traumas. Coppola weckt eine "dunkle Vorahnung" in Nathanael, und die findet er bestätigt, als er die zerstörte Puppe sieht. Gleichzeitig greift Hoffmann hier auch das Motiv der Augen wieder auf. Nathanael sieht die zerstörten Augen der Puppe Olimpia und bricht zusammen.
    Im heutigen Sinne würde man sicher nicht von "Wahnsinn" sprechen, eher von einem Nervenzusammenbruch.
    In Hoffmanns Geschichte wird Nathanael ins Tollhaus gebracht, ich muss aber zugeben, dass ich nicht weiß, wie niedrig im 19. Jahrhundert die Toleranzschwelle war, ab der man einen Menschen dorthin gebracht hat. Ob er in Hoffmanns Definition und der seiner Zeitgenossen als wahnsinnig gegolten hat, weiß ich gar nicht.


    Ich würde übrigens Nathanaels Nervenzusammenbruch von der Ironie der Olimpia-Episode lösen. Hoffmann bricht zwar die Liebesbeziehung noch einmal ironisch durch seine Bemerkung zu den Teezirkeln, den "Wahnsinn" Nathanaels selber ironisiert er aber nicht. Für mich stehen diese beiden Elemente, Liebesbeziehung und Nervenkrise, eigenartig unabhängig nebeneinander. Hoffmann macht sich zwar über Nathanaels Künstlertum immer wieder lustig, den Zusammenbruch selber ironisiert er aber meiner Ansicht nach nicht.


    Das mal als Anfang.
    Nachher mache ich weiter.

  • Zitat

    Original von Anja


    Ich denke nicht, dass Nathanael für Hoffmann "geisteskrank" ist,


    Heute würde man von einer psychischen Störung sprechen, da die sich aber schon seit der Kindheit durchzieht möglicherweise aber auch von einer psychischen Krankheit


    Zitat

    Original von Anja
    Für mich ist das eher die Geschichte eines Traumas.


    Durchaus. Aber da es in der Kindheit bereits einen so starken Eindruck hinterlassen hat, dass er es nie wieder losgeworden ist, grenzt das zumindest an den Bereich, in dem man von Krankheit reden könnte


    Zitat

    Original von Anja
    Im heutigen Sinne würde man sicher nicht von "Wahnsinn" sprechen, eher von einem Nervenzusammenbruch. Nathanael wird ins Tollhaus gebracht, ich muss aber zugeben, dass ich nicht weiß, wie niedrig im 19. Jahrhundert die Toleranzschwelle war, ab der man einen Menschen dorthin gebracht hat. Ob er in Hoffmanns Definition und der seiner Zeitgenossen als wahnsinnig gegolten hat, weiß ich gar nicht.


    Hoffmann hat sich mit der psychiatrischen Fachliteratur seiner Zeit auseinandergesetzt (habe ich an anderer Stelle hier im Forum schon beschrieben). Deshalb gehe ich davon aus, dass er mit dem Sandmann eine Art (ausgedachter) Fallgeschichte in Erzählform brachte.


    Und seine Zeitgenossen haben weitgehend negativ auf den Sandmann und die anderen Nachtstücke reagiert. Schrieb ich schon und zitierte hier (und an anderer Stelle) schon einige Beispiele dazu.


    Zitat

    Original von Anja
    Das mal als Anfang.
    Nachher mache ich weiter.


    Freu mich schon :)

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    Emanuel von Bodmann


  • Hallo Horst-Dieter,


    keine Sorge, ich finde immer meine Nischen. :D


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



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  • Dann mal weiter:


    mit der Rezeption Hoffmanns durch seine Zeitgenossen habe ich mich eher wenig beschäftigt. Aber ich denke, er ist ihnen zu weit gegangen. Er hat offenbar Schmerzgrenzen überschritten, indem er sich nicht nur den "Nachtseiten" des Lebens zugewandt hat, sondern das alles noch durch seine Ironie überspitzt hat. Ähnliches ist mir nur noch von Heine bekannt.
    Hier persifliert er ja nicht nur die Gesellschaft, sondern eben auch das Künstlertum.
    Und auch Klara ist nicht eindeutig nur positiv zu sehen. Ich würde meinen, sie verkörpert auch die Aufklärung (die Hoffmanns Ansicht nach alles zu eindimensional gesehen und zu sehr aufs reine Verunftsdenken reduziert hat). Und sie verkörpert auch einen Teil der Philisterwelt. Das wird insbesondere durch den Schluss der Erzählung gezeigt.


    Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, daß Clara das ruhige häusliche Glück noch fand, das ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können.
    Bei Hoffmann ist das an sich nicht unbedingt ein versöhnlicher Schluss: Clara hat schließlich doch noch ihr (Spießbürger)Glück mit "freundlichem" Mann, Kindern und Landhaus gefunden. Sie ist dem seelisch zerstörten Nathanael gerade noch entkommen.


    Von Clara heißt es auch, die "Nebler und Schwebler" hätten bei ihr "böses Spiel". Also, alles, was sich der reinen Ration entzieht, lehnt sie ab.


    Dem "Philistertum" angenähert wird sie auch in diesem Abschnitt:


    Am frühen Morgen, wenn Clara das Frühstück bereiten half, stand er bei ihr und las ihr aus allerlei mystischen Büchern vor, daß Clara bat: »Aber lieber Nathanael, wenn ich dich nun das böse Prinzip schelten wollte, das feindlich auf meinen Kaffee wirkt? - Denn, wenn ich, wie du es willst, alles stehen und liegen lassen und dir, indem du liesest, in die Augen schauen soll, so läuft mir der Kaffee ins Feuer und ihr bekommt alle kein Frühstück!« -
    Sie wird zwar nicht mit derselben Ironie gezeichnet wie die Teegesellschaften, aber doch deutlich als eines dieser Hoffmannschen Bürgermädchen dargestellt, vor denen seine Künstlerfiguren nicht selten kapitulieren.


    Liebe Grüße
    Anja

  • Hallo Judith,


    ich glaube, da musst Du dieses Mal gar keine Nischen suchen :).
    Zu dem Text ließe sich sehr viel mehr sagen, als wir bisher gesagt haben und als wir in der nächsten Woche noch sagen werden. Zumal ich denke, dass sich vieles auch nicht auf eine eindeutige Interpretation festlegen lässt.
    Du hast also freies Feld. Tob Dich aus :D.


    Liebe Grüße
    Anja

  • Zitat

    Original von Anja
    Dann mal weiter:


    mit der Rezeption Hoffmanns durch seine Zeitgenossen habe ich mich eher wenig beschäftigt. Aber ich denke, er ist ihnen zu weit gegangen. Er hat offenbar Schmerzgrenzen überschritten, indem er sich nicht nur den "Nachtseiten" des Lebens zugewandt hat, sondern das alles noch durch seine Ironie überspitzt hat. Ähnliches ist mir nur noch von Heine bekannt.


    Wir sind ja gerade bei den Nachtstücken und speziell beim Sandmann. Das beides wirkte, hatte ich ja schon geschrieben. Von den Nachtseiten wollten viele nichts lesen und die Ironie saß allen quer im Hals. Richtig schädlich wurde Hoffmann das ja bei seinem »Meister Floh«. Aber das ist hier nicht Thema. Im Sandmann ist es die Kombination der Schattenseiten der menschlichen Seele (Nathanaels Seele) und der Ironie, die gesellschaftliche Zustände (indirekt) kritisiert. Deshalb wurden die Nachtstücke und die Elexiere des Teufels kein Erfolg. Zunächst.



    Da habe ich keinen Widerspruch. Aber: Indem die »Klare und Vernünftige« ins Bürgerliche abgleitet, wird sie für Hoffmann uninteressant. Dass ist aber eben erst am Ende der Geschichte der Fall. Während der Geschichte steht sie doch dem kranken Nathanel als gesundes Gegenstück beiseite und zeigt auch einen Weg, wie er gesunden könnte.


    Horst-Dieter

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  • Hallo HD,
    beim "Meister Floh" hat Hoffmann aber nicht seine Ironie geschadet, sondern sein Vorgehen, als Jurist aus Akten zu zitieren, die er vertraulich hätte behandeln müssen, und seinen Vorgesetzten, der ihm so schon nicht gerade wohlgesonnen war, für jeden eindeutig identifizierbar zu persiflieren.


    Und nicht mal das hätte schiefgehen müssen. Aber er hat zuerst in der Kneipe herumerzähllt, dass er genau das vorhabe (geschickt in Zeiten allegemeiner Hysterie), dann seinem Verleger zunächst einen größeren Textabschnitt geschickt und anschließend einen zweiten Brief hinterhergeschickt mit der Bitte, den entsprechenden Ausschnitt (man nennt das die "Knarrpanti-Episode, weil die Figur so heißt) nicht zu drucken.
    Dieser zweite Brief wurde von den Zuträgern seines Vorgesetzten abgefangen und sozusagen als "Schuldeingeständnis" in dem nachfolgenden Verfahren gegen Hoffmann gewertet.


    Das hat ihm so sehr geschadet, dass er vermutlich deshalb strafversetzt worden wäre.
    Der Jurist Hoffmann hat übrigens das Vorgehen des Schriftstellers Hoffmann rechtlich verteidigt. Ob er damit durchgekommen wäre, wird sich nicht mehr klären lassen.


    Liebe Grüße
    Anja

  • Zitat

    Original von cosmea


    Liebe Leute: nur keinen Streit vermeiden! :D
    Wie wär's mit "Absatz"?


    Ich weiß ja, was Anja gemeint hat und das sie »bewusst« Satz geschrieben hat. Und Anja weiß, dass ich das weiß :D Und dieses »Gerangel« gab's nur, damit das alle anderen jetzt auch wissen =)

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  • Noch mal zum Frauenbild: Klara entspricht in vielem dem Bild der aufgeklärten Frau der Romantik. Sie hört zu, aber nur wenn eine Geschichte ihre Aufmerksamkeit verdient. Nathanaels Texte scheinen ihr indes häufig langweilig, sie hört ihm nicht zu, strickt, füttert Vögel, schaut aus dem Fenster und zeigt Nathanel ihre Unlust. Er verübelt ihr diese Haltung, die sich am Ende sogar zur vernichtenden Kritik entwickelt, als sie ihm rät, das Märchen ins Feuer zu werfen. Hier setzt die romantische Ironie Hoffmanns an: Nathanael ruft Klara zu "Du lebloses verdammtes Automat" - gerade das ist sie nicht. Hingegen ist Olimpia, seine spätere stumme Zuhörerin und Geliebte, eben ein "lebloses Automat." Nathanael führt sich mit seiner Kritik an Klara selbst ad absurdum.
    Andererseits trägt Klara am Ende durchaus die Züge der "Philisterin", und hier entspricht sie nicht dem Idealbild der romantischen Frau wie etwa Caroline Schlegel oder Therese Forster, die für ihre Männer schufteten und , ohne geannte zu werden, teilweise deren Texte schrieben. Hatte Goethe noch gefordert "Dienen lerne beizeiten die Frau nach ihrer Bestimmung", so entfernt sich die Romantik von diesem "Ideal", aber nicht ohne Konflikte. Der Widerspruch zwischen Klara-Olimpia zeigt, dass auch Nathanel noch schwankt zwischen der kritischen Frau der sich unterwerfenden stummen Zuhörerin. Hoffmann zeigt in den beiden Frauengestalten den Konflikt, aus dem sich ein neues Frauenbild zu entwickeln beginnt. Nathanel zerbricht daran, Olimpia wird vernichtet und gehört der Vergangenheit an, Klara endet in kleinbürgelicher Idylle. Noch ist die neue Rolle der Frau nicht gefunden.