Verehrte Anwesende,
die TA beschäftigt sich vom 24.11. an mit Eugenie Marlitt. Da es um etwas mehr Text geht, habt ihr schon jetzt die Möglichkeit, in die Lektüre einzusteigen,
Judith, die diesen Text vorgeschlagen hat, möchte vorher noch einige einleitende Worte loswerden:
TA Eugenie Marlitt, bürgl. Eugenie John
Reichsgräfin Gisela, Kapitel 26 und folgende, 1869
Ich weiß, dass ich euch diesmal viel abverlange. Viel Text (die letzten 7 Kapitel eines Romans), der sich noch dazu nicht wirklich nach den modernen Vorstellungen von Spannung zu richten scheint und keine Scheu vor großen Gefühlen hat, die häufig genug eher in der Beschreibung als in der Handlung zu finden sein könnte. Sollte man zumindest erwarten, schließlich sind personale Erzähler noch nicht über den Kanal geschwappt und show don't tell hat auch noch keiner in Stein gemeißelt, ja dieser Marmor ist noch gar nicht gebrochen. Wieso stellt man sie ins Spielhagens Nähe? Wieso entdeckt sie die Kritik immer mal wieder und warum fällt es so schwer, sich nicht dafür rechtfertigen zu müssen?
Genau darum so viel Stoff. In der Diskussion soll es aber dann ums pars pro toto gehen, um die Textstellen, die euch am meisten auffallen, die Techniken, die sich wiederholen. Der Vorteil der Gutenberg-Ausgabe besteht darin, dass sich Passagen leicht kopieren lassen. Also keine Scheu, schnipselt ein paar Sätze raus und untersucht sie auf die Fragen hin, die ich unten stelle.
Warum nun Eugenie Marlitt?
Ja, sie hat Trivialromane geschrieben, könnte man sagen. Ihre Charaktere neigen dazu, gut oder böse zu sein, am Ende. Ja, ihre auktorialen Erzähler beziehen Stellung, ziemlich eindeutige, und wechseln die Position, von der aus sie auf Figuren blicken, manchmal satzweise. Aber ...
In vielen, wenn nicht die meisten ihrer Texte tritt zum Aschenputtel auch ein Aschenputter, ist die Suche nicht auf das Materielle, sondern auf die Liebe gerichtet.
He, das ist typisch für den Liebesroman?
Ja, sicher, aber in einer Welt, wo auch Bürger und Bauern die Ehe als Versorgungseinrichtung sahen, endeten literarische "Liebesheiraten" eigentlich nie glücklich. Das Happy-End ist jenseits des Märchens zu Marlitts Zeit wahrscheinlich eher noch eine relativ neue Erfindung.
Und dann ein Aschenputter, der die Reichsgräfin bekommt, aber den allfälligen Adelstitel vor der Hochzeit zurückweist, welcher moderner historische Roman, welche moderne Prinzessinnenkomödie ginge dieses Wagnis ein?
Und welche Pfarrersfrau in den Hosenrollenromane würde, wo sie grade einer Gräfin Sturm Asyl im Pfarrhaus gewährt, wohl darüber nachdenken, welchen Beruf das Mädchen ergreifen wird?
Und wie kann das die Auflage einer Frauenzeitschrift so steigern, dass die Marlitt am Ende eine Leibrente erwirtschaften hat, wenn da das 1869 drin steht:
»Wie, ins Kloster will man mich stecken? Zwischen vier enge hohe Mauern? Mich, die ich im grünen Wald aufgewachsen bin?« stöhnte sie. »Ich soll, solange ich lebe, nur das eingeschlossene Stückchen Himmel über mir sehen? Ich soll ein ganzes Leben lang Tag und Nacht Gebete hersagen, immer dieselben Worte, die schon in den ersten Tagen eine sinnlose Plapperei werden? Ich soll mich zwingen, nicht mehr Gottes Ebenbild zu sein, sondern eine stumpfe Maschine, der man das Herz ausgerissen und den Geist zertreten hat?... Nein, nein, nein!...«
Sie sprang auf und steckte ihrem Stiefvater gebieterisch den Arm entgegen.
»Wenn du wußtest, was mir bevorstand, dann mußte auch von meinem ersten Denken an alles geschehen, mich mit meiner furchtbaren Zukunft vertraut zu machen; so aber habt ihr mich meinen eigenen Gedanken und Schlüssen überlassen, und ich will dir sagen, wie ich über das Kloster denke!... Hat sich je der Mensch von Gott und der klaren Vernunft weit verirrt, so ist es in dem Augenblick gewesen, da er das Kloster erfunden hat! Es ist Wahnsinn, eine Anzahl Menschen in ein Haus zusammenzustecken, um Gott zu dienen!... Sie dienen ihm nicht, sie verdrehen seine Absichten, denn sie lassen die Kräfte in Nichtstun verwelken, die ihnen zur Arbeit gegeben sind. Sie schlagen das Pfund tot, das er ihnen hinter die Stirn gelegt hat, und je weniger sie denken, desto hochmütiger sind sie und halten ihre Stumpfheit für Heiligkeit. Sie arbeiten nicht, sie denken nicht, sie nehmen von der Welt und geben ihr nichts zurück – sie sind ein isolierter, unnützer, träger Menschenhaufen, der sich von den Arbeitsamen füttern läßt...«
Der Minister stand auf; sein Gesicht war fahl wie das einer Leiche. Er ergriff den Arm des jungen Mädchens und bog ihn nieder.
»Besinne dich, Gisela, und bedenke, was du lästerst! Es sind geheiligte Institutionen –«
»Wer hat sie geheiligt? Die Menschen selbst... Gott hat nicht gesagt, als er den Menschen schuf: Verstecke dich hinter Steinen und verachte alles, was ich der Welt Schönes und Herrliches gegeben habe.«
»Schlimm für dich, mein Kind, daß du in dein neues Leben eine solche Philosophie mitbringst!« sagte der Minister achselzuckend. Er stand mit verschränkten Armen vor ihr. Einen Moment maßen sich die vier Augen, als wolle jedes die Kraft des anderen angesichts des ausbrechenden Sturmes prüfen.
Was also tut sie da, diese Marlitt, in den letzten Kapiteln der "Reichsgräfin Gisela"?
Und wie tut sie es?
Und wieso Marlitt und nicht Buck?
Weil ich diesmal keine Übersetzungsdikussion wollte. Nein, eigentlich deshalb, weil man die Entwicklung erst sehen kann, wenn man noch bei den Wurzel beginnt, zwar schon da, wo sie den Erdboden durchstoßen, aber immer noch bei den Wurzeln.
Es ist schon ein bisschen seltsam, wenn nun ausgerechnet ich dieses Thema moderiere, die ich eigentlich nicht in den typischen Leserkreis gehöre. Doch was mich an der Marlitt reizt, ist das, was vielleicht moderne Leserinnen des Genres gerade abstößt, die spürbare Authentizität und die Distanz zur adligen Gesellschaft, die allerdings in der Reichsgräfin noch stärker ausgeprägt ist als sonst. Selbst die durchaus überdeutliche politische Parteinahme, die diese Geschichten auszeichnet, die, ja, das tun sie, märchenhafte Formate verwenden, um einen Teil der Wirklichkeit zu spiegel. Und weil ihre Sprache, auch wenn es eine orthographisch angepasste Ausgabe ist, deutlich zeigt, dass es gar nicht so altertümlich klingt, dieses Deutsch.
Vier Fragenkomplexe sollen uns durch die nächsten zwei Wochen begleiten.
Wie ändert sich der Blickwinkel (auf die Figuren) des auktorialen Erzählers(1) mit den Erzählsituationen? Welche Wirkung hat die Änderung Zeiteben/-form im "Epilog" auf euch? Was bedeutet das für die erzählte Zeit und Erzähltempo? Was davon könnte man heute noch als Werkzeug verwenden, was nicht?
(!)Achtung: Hier ist der klassische allwissende Erzähler der Schreibtheorie gemeint, der alles weiß und sich frei entscheiden kann, ob und wann er in den Kopf einer Figur schlüpft oder sie von außen betrachtet, ob er sich direkt an den Leser wendet, kommentiert oder nur beobachtet, was er von jedem Punkt einer Szene aus tun kann)
Wo sind die Beschreibungen detailliert, wo scheint sich die Marlitt auf die Bilder verlassen zu können, die sie in ihrem (bürgerlichen) Lesern erwarten kann? Und wie sieht es mit ihren manchmal erstaunlich "modern" erscheinenden Vergleichen wie z.B. der chinesischen Mauer aus, welche wirken schräg oder unsauber und warum?
Für ihre Zeit sind Marlitts Dialoge durchaus knackig. Wie charakterisieren sie ihre Figuren und warum scheint sie dem Inhalt des Sprechtextes trotzdem nicht zu vertrauen und "erklärt" sie scheinbar doch sehr häufig in den Sprechunterbrechungen? Und was können wir daraus für die eigene Arbeit gewinnen? Können Romane wie dieser dabei zumindest als Steinbruch für authentische Sprechtexte in Romanen dienen, die in dieser Zeit spielen?
Welche Frauentypen werden in diesen letzten Kapiteln einander gegenüber gestellt? Und gibt es geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Figurentiefe?
Zusätzlich:
Wenn ihr danach noch genug Kraft habt, das erste Kapitel zu lesen, und zwar wirklich erst danach: Wie eröffnet der Text seinen Kreis und kann er ihn schließen?
Und schließlich: Ist jede Unterhaltungsliteratur trivial? Und was ist das überhaupt, trivial. So was ähnliches wie Pornos, "das man wirklich nicht fassen kann, aber erkennt, wenn man es sieht", oder gibt es handfeste Kriterien, die diese Literatur gegenüber anderer abgrenzen, und wo finden die sich in diesem Text?
So, und nun wünsche ich euch viel Spaß oder zumindest gewinnbringende Mühe mit diesem "Monster".
Liebe Grüße
Judith
Lesehinweise:
- der Fürst ist ein alter Mann
- der Minister (Baron Fleury) wird oft als der Mann mit den hängenden Lidern beschrieben
- die Zigeunerin, die dem Portugiesen aus der Hand liest, ist nicht die Reichsgräfin, sondern eine der Hofdamen, denen sich Gisela aufgrund ihrer abgeschiedenen Erziehung unterlegen fühlt
- Konvenienz - hier die Einhaltung der schicklichen gesellschaftlichen Abstände (der Begriff ist im Deutschen verlorengegangen, die K(C)onvienz(ce)produkte von heute sind eine Neuentlehnung aus dem Englischen :evil)
- Urias Weib = Batseba
- Terzerol - eine Damenpistole
Soweit die sehr ausführlichen Hinweise von Judith.
Ich wünsche euch ab Mittwoch eine spannende und interessante Textanalyse.
Herzlichst
Wolf P.