Haruki Murakami: 1Q84

  • Hoffen auf den dritten Teil



    Tengo bewirbt sich schon seit Jahren immer wieder für den Debütpreis einer Literaturzeitschrift, ist aber bisher nie über die Endrunde hinausgekommen. Der zuständige Redakteur bietet ihm nun an, ein Manuskript umzuarbeiten. Der Roman "Die Puppe aus Luft", geschrieben von einer Siebzehnjährigen, ist zwar inhaltlich beeindruckend und dramaturgisch fesselnd, aber so schlecht geschrieben, dass er keine Chancen hätte. Auch Tengo ist von diesem Text fasziniert, also nimmt er das unmoralische Angebot an. "Die Puppe aus Luft" gewinnt den Preis und wird zum Bestseller. Auf merkwürdige Weise war Tengo genau der richtige, um das Manuskript des seltsamen, wortkargen Mädchens umzuarbeiten.


    Aomame fühlt sich zu älteren Männern mit schütterem Haar hingezogen, mit denen sie One-Night-Stands verbringt, ansonsten ist ihr Leben - wenigstens nach außen - höhepunktarm. Nur zwei Menschen wissen, dass Aomame eine Technik perfektioniert hat, mit der man Menschen so gut wie spurlos töten kann. Eine seltsame, schwerreiche ältere Dame hat die junge Frau angeworben, um Männer um die Ecke zu bringen, die sich ihren Frauen gegenüber äußerst brutal verhalten haben. Der nächste, der vermeintlich letzte Auftrag für Aomame aber wird ein besonderer werden.


    Tengo und Aomame kennen sich aus der Schulzeit, haben sich allerdings aus den Augen verloren, weil Aomame seinerzeit den Zeugen Jehovas angehörte und Tengo seine Freizeit damit verbringen musste, den Vater auf seinen Touren als Fernsehgebühreneintreiber zu begleiten. Das aber ist nicht das einzige, was die beiden verbindet. Die junge Autorin, deren Buch Tengo umgeschrieben hat, ist einer abgeschotteten religiösen Landkommune entflohen. Und Aomames nächster Auftrag betrifft den Anführer dieser Kommune. Zudem ist die zarte Liebesbande, die zwischen den beiden zehnjährigen Schülern seinerzeit entstanden war, das einzig echte Gefühl, das die beiden erwachsenen Figuren im Tokio des Jahres 1984 noch empfinden.


    Dann bemerkt Aomame, dass am Himmel ein zweiter Mond zu sehen ist, den offenbar nur sie bemerkt. Nach und nach stellt sie fest, dass ihre Erinnerung an die Realität anders ist als die Realität selbst.


    Dieses Buch ist, vorsichtig ausgedrückt, absonderlich, aber auf faszinierende Art, vielleicht so wie ein Märchen, das man als kleines Kind gehört und damals nicht ganz verstanden hat. Murakami erzählt in sehr simpler Sprache, zuweilen fühlt sich der Text fast schon naiv an, jedenfalls wiederholt der Autor viel, erklärt über jeden Erklärungsbedarf hinweg, aber gleichzeitig schildert er auch emphatisch, präzise und sehr nachvollziehbar. Im Wechsel aus Tengos und Aomames Perspektive führt der Autor in deren Innenwelten, begleitet die Figuren dabei, wie ihr Verständnis wächst und gleichzeitig das Staunen zunimmt. Ähnlich ergeht es dem Leser, der allerdings bis zur letzten dieser knapp 1050 Seiten nicht so recht verstehen kann, was die "Little People" sind, woraus genau die "Puppen aus Luft" gefertigt werden und was der Wechsel aus der realen Welt des Jahres 1984 in die ebenso reale, aber abweichende Welt des Jahres 1Q84 zu bedeuten hat. Vieles davon wird sich - hoffentlich - im dritten Teil klären, denn obwohl dieses Buch nicht den geringsten Hinweis darauf enthält, handelt es sich nur um Buch eins und zwei einer Trilogie.


    Es geht um Gut und Böse, um Liebe, um die Kindheit und den Schaden, den man Menschen zufügt, die man ihrer Kindheit beraubt. Es geht um Missbrauch, Sexualität und merkwürdigerweise ziemlich vordergründig um Brüste. Wie immer bei Murakami spielen fantastische Elemente ihre Rollen, aber inwieweit das entscheidend ist, lässt sich erst nach Lektüre des hoffentlich bald erscheinenden Folgebandes feststellen.


    "1Q84" entwickelt einen starken Sog, trotz oder vielleicht gerade wegen der simplen Erzählsprache. Die Geschichte ist spannend, abwechslungsreich, überraschend und auf reizvolle Weise exotisch. Wenn es im dritten Teil so weitergeht, dürfte dieses zu den besten Büchern Murakamis gehören.


    ASIN/ISBN: 3832195874

  • Zitat

    Original von Tom
    …Vieles davon wird sich - hoffentlich - im dritten Teil klären, denn obwohl dieses Buch nicht den geringsten Hinweis darauf enthält, handelt es sich nur um Buch eins und zwei einer Trilogie.


    Wenn dazu nichts im Buch steht, woher weißt du das denn?

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Woher der Sog kommt, den dieser Roman erzeugt, kann man nicht recht in Worte fassen, Tom hat das sehr gut beschrieben. Auch ich fiebere dem 3. Teil entgegen. Meines Wissens ist er im April dieses Jahres in Japan erschienen, in einer Startauflage von 500.000.


    ASIN/ISBN: 4103534257


    Zitat

    Original von Horst Dieter
    Wenn dazu nichts im Buch steht, woher weißt du das denn?


    Z.B. hier.


    Herzliche Grüße
    Jochen

  • Zitat

    Original von Horst Dieter
    Wenn dazu nichts im Buch steht, woher weißt du das denn?


    Jochen Alexander kann Japanisch - und zwar fließend. Wir haben mal zusammen im nördlichen Südosttaubertal einen Japanisch-Kurs belegt. Er hat da eine japanische Masseurin kennenlernt, ich eine japanische Manga-Zeichnerin. Er hat Japanisch gelernt und ich ... ich auch. Ja!


    Er ist nur viel zu bescheiden, um das hier kundzutun. :P

  • Jetzt ist's raus. Vielleicht sollten wir den Rest auch noch erzählen: Thomas und meine Wenigkeit arbeiten in der gleichen Company. Thomas heiß eigentlich Max Putzig und wir vertreiben Zubehör für sehr moderne Staubsauger, und das recht erfolgreich wie ich meine. Die Firma will an dieser Stelle nicht genannt sein, es handelt sich aber in der Tat um ein japanisches Franchising Unternehmen mit Sitz in Fukuoka. Die Geschichte im Südosttaubertal... ha, ich muss immer wieder lachen, wenn ich dran denke. Wie doch die Zeit vergeht. Die Masseurin war nun aber wirklich nicht schlecht. Da hilft keine falsche Bescheidenheit.

  • Zitat

    Original von Th. Walker Jefferson


    Jochen Alexander kann Japanisch - und zwar fließend. Wir haben mal zusammen im nördlichen Südosttaubertal einen Japanisch-Kurs belegt. Er hat da eine japanische Masseurin kennenlernt, ich eine japanische Manga-Zeichnerin. Er hat Japanisch gelernt und ich ... ich auch. Ja!



    Jetzt erinnere ich mich schwach. Das ging hier durch die Regionalpresse. Zwei, die-nicht-von-hier sind, also keine Tauberfranken, hatten sich zwei russische Putzfrauen ohne Deutschkenntnisse geangelt, sich sinnlos mit Federweißen betrunken und dann nackt auf der Rotenburger Stadtmauer getanzt. Auf der Polizeiwache haben sie dann immer gerufen, sie wollten ihre Japanerinnen zurück. Erst als man sie ausgenüchtert durch Rotenburg führte und zeigte, wie Japanerinnen aussehen, sind die beiden still von dannen gezogen.


    Das ihr das aber auch wart … :D

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    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Mal ne Frage an die Murakami-Leser, einfach so, weil's mich interessiert. Kann es sein, dass das Zielpublikum dieses Autors eher männlich ist? Ich kenne keine Frau, die ihn besonders mag. Bzw. habe ich mal die männlichen User in einem Forum gefragt, was sie denn erotisch fänden und man gab mir 'die Geliebte' an. Das Buch fand ich aber alles andere als erotisch und hat mir auch gar nicht gefallen.

  • Zitat

    Original von Margot
    Mal ne Frage an die Murakami-Leser, einfach so, weil's mich interessiert. Kann es sein, dass das Zielpublikum dieses Autors eher männlich ist? Ich kenne keine Frau, die ihn besonders mag. Bzw. habe ich mal die männlichen User in einem Forum gefragt, was sie denn erotisch fänden und man gab mir 'die Geliebte' an. Das Buch fand ich aber alles andere als erotisch und hat mir auch gar nicht gefallen.


    Ich mochte es auch nicht besonders, damals. Vielleicht hast du mit deiner Hypothese Recht, ich müsste mal wieder reinlesen. Andererseits verkaufen sich seine Bücher so gut, dass wohl auch ein paar Frauen unter den Lesenden sind. :zwinker

    Frau: "Warum müssen Frauen immer still sein?"
    Mann: "Weil sie dann länger schön bleiben."
    (Der Hexer, 1964)

  • Ich sah neulich im ICE eine Amerikanerin, die im "Aufziehvogel" las. Es gibt also mindestens eine Frau, die Murakami liest. Q.E.D.


    Auf Murakami bin ich by chance über folgenden Lauf- und Schreibratgeber gekommen:


    ASIN/ISBN: 3832180648


    Gruß, Jochen.

  • Bisher habe ich nur eines von ihm gelesen:


    ASIN/ISBN: 3442736277


    Von selbst hätte ich es mir wohl eher nicht gekauft, aber nachdem ich es gelesen habe, liegt jetzt eine Kurzgeschichtensammlung von ihm auf meinem Lesestapel. 8-)


    Gruß
    Sabine

  • Hallo Margot,


    ich liebe Murakami auch.


    Und ich bin froh, wenn es um direkte Übersetzungen aus dem Japanischen handelt. Das könnte übrigens ein Teil des scheinbaren Sprungs von "Der Geliebten" und "Mr. Aufzievogel" sein, die beide Sekundärübersetzungen aus dem Englischen waren.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • :D ... das habe ich mir schon gedacht, dass, wenn ich so etwas frage, gleich alle kommen und rufen: aber ich mag ihn!


    Anyway. Freut mich für ihn, dass er anscheinend viele weibliche Leser hat. Und es sollte überhaupt nicht wertend sein. Aber was genau mögt ihr denn an ihm? Bzw. an seinem Stil?


    Ich habe übrigens noch Afterdark von ihm gelesen ... aber auch das hat mich nicht vom Hocker gerissen. Ich werde mit ihm einfach nicht warm. Aber egal.

  • Hallo Margot,


    da mir die Affinität zu Masseurinnen fehlt, was vielleicht erklärt, dass mein rudimentäres Japanischen noch lange nicht für Originalliteratur reicht *seufz*, will ich zu dem Stil gar nicht mehr sagen, als Tom gesagt hat. Zugeben muss ich das Gefühl, das mich immer begleitet, wenn ich Übersetzungen aus den Bildschriften lese: Wie viele Ebenen gehen mir da gerade verloren, die nicht in Nebensätzen stecken, sondern in der Vielfachbedeutung von Zeichen.


    Trotzdem dringt diese unglaubliche Vorstellungskraft durch, die wenigen Striche, die wie "Schafjagd" Figuren und Beziehungen zeichnen (eine Todesanzeige, der Erzähler fährt hin, Tristess - man erwartet eine tiefe, unerfüllte Beziehung -, Seitenhieb auf die Höflichkeit in Form von Mengen gekaufter Zigarettenschachteln, um den Ort zu finden, Erinnerungen daran, dass sie immer nur gelesen hat. Dann das Eingeständnis, dass sich der Erzähler nicht an den Namen erinnert, überhaupt keiner, das tut, sondern sie einfach " Damals- (gab-es-doch)-das-Mädchen-das-mit-jedem-schläft" heißt (ist auch so eine Sekundärübersetzung, ich hab das Buch auf Englisch) und gleich wieder das Eingeständnis, dass sie ihre Standards hatte. Nichts ist sicher, Bilder kommen und gehen, verweben sich, um sich immer wieder in die Realität und herausarbeiten. Diese Räume, die sich da öffnen, die man füllen kann, auch wenn man einem der kulturelle Kontext fehlt. (ne, stimmt so nicht, er kennt ja beide und setzt genug Anker, damit auch die eurozentrischen Leser mitkommen).


    Ich habe Murakami noch nie analytisch gelesen. Ich lass mich einfach ziehen und ich wage keine Analyse, warum das so ist, weil ich keine kommentierten Übersetzungen kenne.


    Höchstens, dass ich schon auf den Knien liege, wenn einer seinen Roman 1984 nennen kann, ohne mit irgendwas in Konflikt zu geraten. 8-)


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Die 'einfache' Sprache Murakamis wird oft benannt, sowohl positiv als negativ.


    Ein japanischer Freund sagte mir, dass dies für das japanische Original nicht zutreffend sei. Murakamis Sprache bewege sich auf höchsten Niveau - was sich u.a. auf die verwendeten Schriftzeichen bezieht. Aber nicht nur, japanische Literatur unterliegt anderen Regeln, die sich mir bisher nicht erschlossen haben. Nachhilfe nehme ich gern.


    Ich frage mich, inwieweit eine Bildsprache überhaupt übersetzbar ist. Allein Kleinigkeiten, wie z.B. das das Kanji für 'Schlaf' das gleiche ist wie für 'Tod' aber auch 'Ende des Tages' bedeutet. Darin liegen Welten, die nicht übertragbar sind.


    *


    Was an Murakami potentiell "Männerliteratur" sein könnte, ist der Hang zur Heiligen Hure. Seine Frauenfiguren sind sphärisch, ungreifbar und märchenhaft. Selbst in IQ84, in der mit Aomame eine Frau eine seltene zentrale Rolle einnimmt, ist mir Figur des Tengo näher und stimmiger. Aomame bleibt Behauptung - oder aber anders: 'Frau' ist sie nur bedingt.


    *


    Murakami schafft Welten, die den Leser verschlingen oder ausspucken. Erklärbar ist daran wenig.
    Ich für meinen Teil habe alles, was mir bisher in die Finger kam, suchtartig gelesen.
    Der "Aufziehvogel" war und ist "mein" Buch, "Kafka am Strand" knapp dahinter - vielleicht aber liegt das schlicht daran, dass IQ84 noch unvollständig ist und man nach de Zuklappen recht einsam im Wald steht und sich fragt, ob gleich ein Einhorn vorbeikommt.