TA 4: Rilke und Hofmannsthal

  • Hallo Thomas,
    hallo ihr Lieben,


    ich kann nicht alles einfach so stehen lassen, was du schreibst, einfach deshalb, weil du mich mit dem wir vereinnahmst, obwohl ich eine völlig andere Lesart diese Textes habe. =)


    Zitat

    1. Erzählperspektive: Richtig, wir wechseln von einem gemäßigt auktorialen (könnte viel stärker sein, denken wir an Dickens oder Thomas Hardy) zu einem personalen Erzähler und wieder zurück zum auktorialen Erzähler.


    Wenn wir noch einen Beweis für die Überlegenheit der strukturalen TA über alle anderen Formen der TA bräuchten – nun hier ist er. Nur sie strukturale TA kann befriedigend erklären, warum die Erzählperspektive wechselt.



    Du verwirrst mich, weil mir deine Definition eines auktorialen Erzählers nicht klar ist. Allein in den Kopf einer Figur zu schlüpfen und die Welt aus deren Augen zu betrachten ist jedenfalls kein Bruch zur personalen Erzählweise. Jeder auktoriale Erzähler (und Dickens benutzt oft genug da den retrospektiven Ich-Erzähler, wo er als Muster für den AE genannt wird ;)) kann in den Kopf jeder Figur schlüpfen, ohne seine Verlässlichkeit oder den Blick auf die Figur zu verlieren und der Erzähler bleibt in diesem Text immer verlässlich. Wo wäre er denn subjektiv? Bitte mit Textstelle. Er kann, isoliert betrachtet, durchaus so viele Zeiger für den PE haben, dass die Stelle wie ein PE erscheint, der Kontext aber hat ihn längst als auktorial gesichert und genau darum funktioniert er dann auch.


    Ein wichtiger Zeiger dafür, dass der auktoriale Erzähler nie verschwindet, besteht darin, dass Lerch nie ohne Artike Wachmann genannt wird. Dass würde ein personaler Erzähler nur tun, wenn die Figur dissoziiert und von sich selbst in der dritten Person spricht. Dafür gibt der Text aber keinen Anhalt her. Das es auch Sätze gibt, die den Blick auf Lerchs Vorstellung fokussieren, aber keine Sicherung wie der Wachmann enthalten heißt nicht, dass sie nicht mit solchen eindeutigen Zeigern des AE eingeleitet werden:


    "daß das Pferd des Wachtmeisters sich verhielt und mit schiefem Kopf und hörbarem Atem gegen den Boden stierte. Ein Schenkeldruck brachte es wieder vorwärts, und nun war die Frau in einem Hausflur verschwunden, ohne daß der Wachtmeister hatte ihr Gesicht sehen können. Aus dem nächsten Hause lief eilfertig mit gehobenem Kopfe ein Hund heraus, ließ einen Knochen in der Mitte [...] Sogleich sprangen noch zwei Hunde hinzu: ein magerer, weißer, von äußerst gieriger Häßlichkeit, dem schwarze Rinnen von den entzündeten Augen herunterliefen, und ein schlechter Dachshund auf hohen Beinen. Dieser hob seinen Kopf gegen den Wachtmeister


    Nicht weit vom letztgenannten Stadttor, wo sich ein mit hübschen Platanen bewachsenes Glaçis erstreckte, glaubte der Wachtmeister Anton Lerch am ebenerdigen Fenster eines neugebauten hellgelben Hauses ein ihm bekanntes weibliches Gesicht zu sehen. Neugierde bewog ihn, sich im Sattel umzuwenden, und da er gleichzeitig aus einigen steifen Tritten seines Pferdes vermutete, es hätte in eines der vorderen Eisen einen Straßenstein eingetreten, er auch an der Queue der Eskadron ritt und ohne Störung aus dem Gliede konnte, so bewog ihn alles dies zusammen, abzusitzen, [...] durch welche sich ein beleibter, vollständig rasierter älterer Mann im Augenblicke zurückzog.


    Indem aber dem Wachtmeister der Name der Frau einfiel



    Alle grünen Wörter sind mehr oder minder starke Zeiger für einen AE, der dem Leser einen Einblick in die Vorstellung der Figur gewährt, aber eben nicht zur personalen Sichtweise wechselt,


    voller Name - Blick von außen auf die Figur, die schon gar nicht Wachmeister auf die Idee kommt von sich als Wachmeister Anton Lerch zu denken


    gleichzeitig - Blick von außen auf die Handlung der Figur


    vermutete - weicherer Zeiger, könnte durchaus auch PE verwenden, aber jede weitere Wahrnehmung jenseits der Vermutung treten nicht hinzu, also schwächt er den AE nicht


    so bewog ihn das alles zusammen - das ist eine Erzählerbewertung der Handlungen der Figur


    Und am Ende wieder Ausstieg über den Artikel + Wachmeister.


    Das ist nicht personal erzählt, sowas von überhaupt nicht, sicher nicht auf der Zeichenebene, aber auch nicht auf allen anderen :D



    Und was ist ein gemäßigt auktorialer Erzähler?


    Zitat


    Ganz verstehen wir das aber noch nicht, weil wir in der TA noch nicht so weit sind. Soviel aber können wir schon sagen: Teil 1 ist der sujetlose Teil des Texte. Das ist also der Teil, in dem die Handlung noch nicht eingesetzt hat.


    Wieso? Die Handlung setzt im ersten Satz ein, aber spätestens im dritten baut sie Spannung auf: "Kaum hatte das Streifkommando die äußerste Vorpostenlinie der eigenen Armee etwa um eine Meile hinter sich gelassen, als zwischen den Maisfeldern Waffen aufblitzten und die Avantgarde feindliche Fußtruppen meldete." Ab dem vierten ist sie handlungsgeprägt: "Die Schwadron formierte sich neben der Landstraße zur Attacke, wurde von eigentümlich lauten, fast miauenden Kugeln überschwirrt, attackierte querfeldein und trieb einen Trupp ungleichmäßig bewaffneter Menschen wie die Wachteln vor sich her."


    Nur weil diese nicht direkt an menschliche Figuren gebunden ist, heißt das noch lange nicht, dass es keine Handlung gibt.


    Und mit Verlaub, was "wir" verstehen, weißt du nicht, du weißt, was du verstehst. Das ist keineswegs zwangsläufig das, was die Methode zum Ergebnis haben kann oder irgendeiner von uns so sieht. =)


    Zitat


    Anders ausgedrückt: Sehr viele Texte etablieren am Anfang ein Modell der Welt, sie zeigen uns, was der Hintergrund = Folie = Grundlage für den Text ist. Der Text stellt uns in diesem Teil die Welt nur vor, den Raum, die Figuren und ihre Beziehungen zueinander. Es wird eine Grundordnung präsentiert – die nur deshalb aufgestellt wird, damit sie später verletzt werden kann = damit später die anfangs gezogenen raumsemantischen und anderen Grenzen von der Hauptfigur (und nur von ihr) überschritten werden können.


    Das ist ja durchaus richtig, aber du lieferst keinen Beleg, dass das innerhalb eines auktorialen Erzählers wie dem der Reitergeschichte auch so ist. Die einzige Grundlage dafür ist die Annahme, dass der Protagonist zwangsläufig ein Mensch sein muss. Das ist eine mögliche und sicher die konventionelle Lesart, aber durchaus nicht die einzig mögliche, :D


    Zitat


    Ein bekanntes Beispiel dafür sind Stadt- oder Dorfgeschichten. Die meisten klassischen Western im Film sind Dorfgeschichten und funktionieren so: Am Anfang des Textes wird die Westernstadt gezeigt, wie sie normal funktioniert, ausgewählte Figuren und ihre Beziehungen zueinander werden gezeigt. Und dann reiten die Schurken in die Stadt und die Handlung beginnt, weil die anfangs etablierte Grundordnung gestört wird.


    Hier müssten wir uns erst einmal darauf einigen, was Handlung ist. Für mich sind schon die Interaktionen zwischen den Figuren in der gesetzten Welt Handlung, für dich offensichtlich nicht. Wieder mangelt es an Definitionen, ohne die die STA einfach nicht funktioniert, weil man nicht über den Gegenstand sprechen kann.


    Also, was ist Handlung, was sind im Gegensatz dazu die Interaktionen der Figuren und der Welt in der geordneten Eingangssituation?


    Zitat


    Genau das tut HvHT hier auch: Er zeigt einen Raum, stellt Figuren und ihre Beziehungen vor. Er zeigt z.B., dass die Figuren in einer gesellschaftlichen Gruppe mit starker Kohäsion vertikal-hierarchisch integriert sind.



    Zitat


    Eines müssen wir noch bedenken: Das Gebiet außerhalb der Stadtmauern ist von jeder semantisch anders besetzt als das Innere. Traditionell waren die Richtstätten außerhalb der Stadtmauern, wohnten da die ärmeren Menschen, die ohne Bürgerrechte, war da die Bannmeile, die heute noch im französischen Wort für Vorstadt: banlieu fortlebt.


    Das ist MA, die junge Neuzeit hat die Vorstädte zu Villenvierteln aufgewertet, Hamburg, Edinburgh, London, Berlin, sogar Wien. Welches Referenzsystem hat der Text benutzt? Eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Du?


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Hallo ihr alle!
    So quasi als Mini-Rattenschwanz, möchte ich mich hier auch noch zu Wort melden, mit meinen Eindrücken zu diesem wundervollen Text. Eure Kommentare werde ich mir nach und nach noch zu Gemüte führen. Deshalb sorry, falls ich hier jetzt Wiederholungen posten sollte, die für euch als längst besprochen gelten.


    Zu Anfang hätte ich noch eine Anregung für den nächsten Text:
    Wäre es nicht sinnvoll, wenn wir alle eine Fassung mit Zeilennummern hätten, um explizit auf bestimmte Stellen im Text hinweisen zu können?


    HvHT hat in seinem Text eine für seine Biografie überraschend kritisch eine Erkundungsreise in "die" Soldatenseele gewagt:
    Einerseits hat er in akribischen Gefechtsbeschreibungen das automatische, reibungslose Funktionieren bewundert. In einer klaren Gegenüberstellung gleichermaßen aber die Unberechenbarkeit traumatisierter und gegen Gewalt abgestumpfter Menschen eindringlich und warnend geschildert.
    Wie schon in seinen Gedichten beweist er auch hier tiefes Gespür für die Psychologie der Menschen und nimmt anscheinend die Überlegungen eines Freud oder C.G Jung vorweg bzw. saugt sie zeitnah auf (kennt da jemand von euch einen biografischen Zusammenhang?).
    Interessant, wie die Verortungen der Seelenzustände einem verzweigten Muster folgen: Auf der offenen Ebene, beim gemeinsamen Erreiten weiter Strecke, ist die Truppe einig, einem Organismus gleich beschrieben. Sobald eine Abzweigung genommen wird, zoomt der Text auf den Wachtmeister allein und in seine Gefühlsregungen.
    Die erste Empfindung - Sehnsucht nach Heim- und Herd - lässt die ersten Zweifel in Lerch aufkommen, die sich beim angstvollen Durchreiten des "Totendorfes" in regelrechten (Selbst)Ekel steigern. Auf der Brücke dann, ist die Konfrontation mit seinem Selbst nicht mehr auszuhalten und Lerch findet einzig in ausgeübtem neuem Mordsrausch und Beutemacherei Zuflucht davor. Seinen Selbsthass projiziert der Wachtmeister auf seinen vorgesetzten Rittmeister, der dies im Blick seines Untergebenen lesen kann, Lerch als Gefahr für sich selbst und die Einigkeit der Truppe wertet und - schnelles Handeln gewohnt - dem mit dem Schuss in den Kopf ein sofortiges Ende macht.
    Einmal in den Text eingelesen, wurde ich als Leserin von einer Empfindung in die nächste gerissen und erst am Ende erlöst. Ich kannte bisher nur Gedichte von HvHT, finde in diesem Text die gleiche Gabe wieder: Vom Außen in die Innenwelt eines Menschen zu zoomen...mit sinnlichster, farben- und formenvoller Sprache. Steh ich drauf. Danke Thomas und Anja! War mir ein Genuss!

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    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Zitat

    Original von lametta


    Zu Anfang hätte ich noch eine Anregung für den nächsten Text:
    Wäre es nicht sinnvoll, wenn wir alle eine Fassung mit Zeilennummern hätten, um explizit auf bestimmte Stellen im Text hinweisen zu können?



    Es gibt einen eigenen Thread für Vorschläge zur TA. Bitte den benutzen.


    Bei der TA3 gab es eine Textvorgabe mit Zeilennummerierung. Das wurde nicht angenommen


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


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    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hallo ihr Lieben,


    aus sehr prosaischen Gründen, die mit der Herstellung von Brot zu tun haben, bin ich noch wach. Ich arbeite mich langsam durch und sicher auch nicht mehr ganz,



    Das ordnet aber nicht die rasierte Nacktheit des Mannes ein, berücksichtigt auch nicht, dass der Text vorwiegend "Schwadron" benutzt (weibliche Form, auch mit möglicherweise weiblichen Zügen (schön) ) erst später, benutzt der Text vorwiegend den neutralen Begriff des Streifkommandos, Zug nur an wenigen Stellen und dabei meist dort, wo sie sich wieder zur weiblichen Schwadron zusammenfügen.


    Auch die gegnerischen Armeen scheinen dagegen zu sprechen, dass die Verbindungen so eindimensional sind, denn diese sind auch ohne Frauen unorganisiert und disziplinlos, wenn auch hübsche junge Leute, selbst der Offizier, dessen Eisenschimmel Lerchs Schicksal bestimmt, ist "jung, sehr bleich".


    zugleich in eine Zivilatmosphäre, durch welche doch das Kriegsmäßige durchschimmerte, eine Atmosphäre von Behaglichkeit und angenehmer Gewalttätigkeit ohne Dienstverhältnis, eine Existenz in Hausschuhen, den Korb des Säbels durch die linke Tasche des Schlafrockes durchgesteckt.


    angenehme Gewaltätigkeit - kann sexuell konnotiert sein, und/oder aber sich auf die späteren "Allmachtsträume" beziehen


    ohne Dienstverhältnis - erst einmal ein Zeichen für den Wegfall der Kontrolle


    Existenz in Hausschuhen - ein Zeichen für bürgerliche Sorglosigkeit


    Säbels durch die linke Tasche des Schlafrockes - ich kann da nur eine sexuelle Konnotation erkennen, ob es eine andere, militärische geben könnte, weiß ich einfach nicht


    Der rasierte, beleibte Mann, der durch die Tapetentür verschwunden war, ein Mittelding zwischen Geistlichem und pensioniertem Kammerdiener, spielte darin eine bedeutende Rolle, fast mehr noch als das schöne breite Bett und die feine weiße Haut der Vuic.


    fast noch mehr - euphemistische Fügung, die in Zusammenhang mit der Namensbedeutung Vuic (weiblich für - Wölfin) die Bedrohung eher in der Frau als in diesem Mann sieht. Wie das Bild der Wölfin besetzt ist, wäre jetzt als nächstes herauszufinden, doch auf italienischem Boden ist eine Wölfin schon ein sehr starkes, eher der Aufopferung wie dem marsianischen Prinzip des Krieges zugewandtes Symbol, (wie viel germanische Konnotationen noch darunter sind, lässt sich ohne weitere Untersuchung nicht klären).


    Dagegen setzt der Text Anton (die Verführung des Antonius, aber der Succubus ist nur einer der vielen Inkarnationen, derer sich der Teufel bedient, um den guten von seiner Entsagung abzubringen und von einer Verschenke-Was-Du-Hast-Grundhaltung ist bei diesem Anton nichts zu spüren, zu keiner Zeit innerhalb des Textes, dazu gibt es auch noch es mehr als zwanzig heilige Antoniüsser in der katholischen Lehre, welcher/welche sind hier gemeint?) Lerch (ein Vogel der Morgendämmerung ohne wesentlichen Geschlechtsdimorphismus, Gesang für Nestverteidigung wie Werbung (oft) im Flug. Es gibt verschiedene historische Träger des Namens, eine Einordnung hier ist aber nicht ohne sehr tiefgehende Recherche möglich)


    Die Frau jedoch Wölfin zu nennen, legt mit einiger Wahrscheinlichkeit nahe, dass bei Antons Nachnamen auch das Tier gemeint ist. Dann aber ordnet er dem Wachtmeister (neben dem Doppelgänger aus dem Dorfraum) der Text ihm gleichzeitig überbordende Sexualität und androgyne Züge zu, die ihn in beiden Räumen verankern, scheint slo den Grenzübertritt zu ermöglich. Das Problem besteht darin, dass es mehr Hinweise darauf gibt (weil es eben die Nachbetrachtungen sind, die die Wahrnehmung der Figur definiert), dass diese Lerche eher am Fressen und am Gold als am Sex interessiert ist.


    Dagegen steht, dass der andere - möglicherweise wichtigere Teil (Setzung des Euphemismus) von Lerchs Begierde, durch die anderen Setzungen (ein Mittelding - wieder eine Neutralisation, Geistlichem, auch geschlechtsneutral, alter Kammerdiener (erlöschende Sexualität, zumindest aber in der Fortpflanzung vom Dienstherrn abhängig (Heiratsgebote), gleichzeitig stehen Geistliche wie Kammerdiener auch für die Aufrechterhaltung der Ordnung) - und sind damit dann wieder semantisch in das männlichen Feld einzuordnen, dass ja die Asexualität wie Ordnung trägt) in verschiedene Richtungen gedeutet werden:


    Es gibt keine eindeutige, zumindest keine lineare Setzung einer Geschlechter-Ordnungsbeziehung


    Es gibt sie, und der Rasierte ist ein Eunuch und eher dem weiblichen Prinzip zuzuordnen. Dagegen allerdings stehen die anderen Träume, die Lerch über ihn hat




    Was dieser reflektierende, und damit neubewertende Teil des Textes, aber nach dem anfänglichen, sehr kurzen Ausblick auf eine mögliche, wahrscheinlich tatsächlich bedrohlich besetzte Sexualität verfolgt, sind Allmachtsträume ganz anderer Art.


    Der Rasierte nahm bald die Stelle eines vertraulich behandelten, etwas unterwürfigen Freundes ein, der Hoftratsch erzählte, Tabak und Kapaunen brachte,


    - Bärte waren in Österreich um 1848 normal, es bliebe zu prüfen, ob der Text hier historisches Wissen einsetzt oder Moden des fine de siecle oder Hoffmannsthal selbst von den Vorarbeiten Felix Saltens zum Österreichischen Antlitz beeinflusst ist, jedenfalls
    ist ohne wirklichen Beleg nicht anzunehmen, wie diese Rasur einzuordnen ist. Fehlt ihm die Männlichkeit? Ist bloß einer von denen, denen die Wölfin die Haare und damit die Männlichkeit entfernt hat? Ist er gar ein Eunuch (Hofklatsch?) oder bloß ein Italiener, der einen anderen Mode folgt und sich bestens zum Höfling eignet, den es auszunutzen gilt?



    - diese "Freundschaft" ist aber viel leichter zu belegen deutlich materiell besetzt und kehrt die Stellung Lerchs gegenüber seinen Vorgesetzten um, und wieder den Wegfall der Kontrolle (unterwürfig) und des Schlaraffenlandes (Tabak, Kapaunen, Hoftratsch)



    bald wurde er an die Wand gedrückt, mußte Schweigegelder zahlen,


    - wird dann zum Gegenstand angenehmer Gewaltätigkeit ohne Dienstvertrag



    stand mit allen möglichen Umtrieben in Verbindung, war piemontesischer Vertrauter, päpstlicher Koch, Kuppler, Besitzer verdächtiger Häuser mit dunklen Gartensälen für politische Zusammenkünfte,


    - und dann wieder zum politischen Ränkeschmieds, der


    und wuchs zu einer schwammigen Riesengestalt, der man an zwanzig Stellen Spundlöcher in den Leib schlagen und statt Blut Gold abzapfen konnte.


    auf alle Fälle Geld bringt.


    Betrachtet man die Setzung und die dichte der Beschreibung, so stehen für Lerch rein von der Anzahl her die materiellen Träume mit halbwegs geschäftlichen Ansätzen im Vordergrund. Und das ist nun gerade kein weibliches Prinzip in der europäischen Vorstellung.


    - Die Leporello Verbindung sehe ich übrigens nicht so eindeutig, denn Lerch sieht sich ja in keiner Weise bedroht von seinem Popanz und eine Setzung wie "E de' perfidi la morte alla vita è sempre ugual", (Der Tod der Perfiden (Untreuen) ist im Leben immer egal (gleich), die mit einer solchen Gleichstellung einhergingen, würde ja den Tod des Wachtmeisters tatsächlich als unerheblich erklären. Das wäre ein bisschen viel. Und das obwohl das meine Lesart durchaus stützen würde. :evil


    Die eindeutigen Verbindungen zwischen Zeichen und Bedeutung bleibt für mich erst einmal nur für Ordnung und Chaos übrig, und die im Text beiden Geschlechtern zugeordnet werden, und erst am Ende (überwiegende Bezeichnung der Schwadron als Streifkommando durch die Neutralisation aufgehoben wird, allerdings lässt sich eben an vielen Stellen diese Sexualität auf die Gegenüberstellung des gezügelten/ungezügelten Krieges aufteilen, in denen die Menschen nur Rollen spielen, und zwar beide Geschlechter auf beiden Seiten (die Wölfin ist handelt taktisch klug, sie schweigt, setzt ihre Waffen ein, gibt ihm das Gefühl, er habe seinen Willen durchgesetzt, typische Waffen einer Frau in der erzählten Zeit wie in der Entstehungszeit der Geschichte) und in diesem Konstrukt des Krieges, steht nun mal die weibliche Seite für die verstandgesteurte Seite und Disziplin.

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    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Dafür steht eben auch, dass mit dem Raumwechsel Wohnung der Wölfin und Rückkehr zur ursprünglichen Geliebten, der Schwadron, Lerchs Träume schnell von der sexuellen Begierde der durch die körperliche Nähe ausgelösten sexuellen Reaktion zu den hoch individuellen, aber von Macht geprägten Wunschvorstellungen wechselt. Das beschädigt das Ideal der Schwadron eigentlich schon hier und erst sein Pferd bringt ihn ins Glied zurück. Diese Wesen, von dem uns nicht gesagt wird, welchem Geschlecht (weiblich, neutrum, männlich) es angehört, verfällt keiner dieser Verführung. Der obendrauf allerdings hat Macht gerochen:


    ohne von der Vuic eine andere Antwort als ein verlegenes Lachen mit in den Nacken gezogenem Kopf mitzunehmen. Das ausgesprochene Wort aber machte seine Gewalt geltend.


    - Wie sehen hier die Bezüge aus? Steht das Wort für Lerchs Machtanspruch, steht es für sich selbst und seine Gewalt über alle drei, die unter seinem Bann stehen, auch wenn einer längst hinter der Tapetentür (noch so ein teures Ding) verschwunden ist?


    Die grammatische Struktur verweist, weil der Wachtmeister doch ziemlich weit weg steht, auf die metaphorische Bedeutung. Dann aber wird der Wachmeister eben nicht dem weiblichen Prinzip, sondern dem chaotischen Prinzip untergeordnet.


    Wo Christlich gegen unchristlich herkommt, ist mir nicht so ganz klar. Die Kirchen selbst, aber auch die geöffneten Pforten reichen mir da erst einmal nicht (Landmarkenproblem, der Vatikan gehört zu den Gegnern ("neapolitanische Freischaren unter päpstlichen Offizieren"), katholisch ist also nicht grundsätzlich positiv in dieser Geschichte). Dass sich kein Kreuz in der Wohnung der Vuic findet, gibt der Text auch in Anbetracht der mythologischen Figurine nicht wirklich her.wegen der ziemlich auf Details konzentrierten Sichtweise).


    Das Doppelgänger-Motiv stützt dabei wieder die eigentliche Dichotomie von geordnetem und chaotischem Krieg, zwischen denen der Mensch zermahlen wird Die Wölfin liegt im Schmutz, aber mit ihr auch alles andere, selbst die Ratten töten sich (was sie sonst in Pestzeiten tun und natürlich, wenn gleich der Doppelgänger auftaucht, denn eine Ratte gleicht der anderen wie ein Zwilling dem anderen und nur eine schreit (eine letzte Warnung?). Wenigstens eines der Glieder der schönen Schwadron ist diesem Blick ausgesetzt, während die anderen blind dafür bleiben.


    Und was kann man daraus machen, dass die Schwadron zwar ihre Schönheit nicht einbüßt, aber zum Neutrum degeneriert?


    All diese widersprüchlichen Elemente lassen mich fragen, wie du deine semantische Kette allein aus dem Text heraus begründest. Und versteh mich nicht falsch, ich finde sie für den Text aus heutiger Sicht in sich sehr, sehr schlüssig, aber ihre Zuordnung erfolgt nicht aufgrund einer von den Rezeptionsfunktionen unabhängigen Bedeutung des Textes, sondern sie ist geprägt von deiner Lesart und die wiederum ist geprägt von Erfahrungen und Vorlieben.


    Und bei der Suche nach den Grenzen haben wir noch kaum ein Wort darüber verloren, wie er das denn nun eigentlich macht, diese Grenzen, Übergänge, Überschreitungen aufzubauen und einzureißen, auf der Bildebene oder auf der Wortebene.


    Vielleicht ist deshalb Lamettas erfrischend unverstellter Blick so erhellend. Er hat mich auch wieder auf meinen eigenen Blick zurückgeworfen, den ich allzuleicht von "wir haben schon festgestellt, dass das Doppelgängermotiv nicht so wichtig ist", habe ablenken lassen.


    Es ist zentral. Es taucht immer wieder auf, beim Krieg zwischen Ordnung und Chaos, in den Stadtoren, bei der römischen Wölfin, bei den Ratten, bei den Hunden, beim Braun/Eisenschimmel (der nicht zwangsläufig weiß ist, was vielleicht erklärt, warum er nun gerade nicht ein echter Schimmel ist), bei den Dörfern, bei den Kirchen, bei den echten und erträumten Priestern, bei den Frauen, selbst bei der physischen und refekltierenden Version der Begegnung mit der Vuic oder in einer echten und einer imaginierten Dreiecksbeziehung mit ihr. Sie alle sind ineinander verspiegelt wie in einem Spiegelsaal und selbst in den Lichtern, die sich Fenster und Kürasse zuwerfen, oder in den Farben von Sonnenaufgang und -untergang, bis hinein in die unbeschreibliche Stille und die stillen Rauchwolken. Das ist die zentrale Technik, die der Text verwendet, um seine Räume zu schaffen. In meiner Lesart.


    Und sicher muss ich dir, Thomas, dafür danken, dass ich inzwischen etwas mehr über Mailand und die Aufstände weiß als zu Beginn, nur wäre mir eben beinahe der Blick für den inneren Zusammenhalt des Textes verloren gegangen.


    Liebe Grüße
    Judith

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  • Es sind vor allem zwei Stellen, die meiner Meinung nach bis jetzt zu wenig beachtet wurden: Die ausführliche Beschreibung der Hunde im Dorf und der Traum, den Lerch hat.


    Ich bestreite durchaus nicht, dass die strukturalistische Methode fruchtbringend sein kann. Aber auch hier sieht man den Nachteil:



    Ich kann aus diesen Gegensatzpaaren kaum ablesen, um was es in der Geschichte eigentlich geht, was das Besondere an ihr ist, nämlich dass es vor allem ein Text über den Krieg und über die Gier ist! Diese Gegensatzpaare sind ein zu grobes Raster, das über den Text gelegt wird, sie sind zu allgemein. Eine strukturalistische Analyse verliert den Inhalt, das, um was es eigentlich geht, aus den Augen.


    Gewisse Gegensätze, die Thomas hier anführt, sind überhaupt nicht wesentlich für den Text wie das Katholische/Unchristliche zum Beispiel. Und zwar ist das Christliche weder als kirchliche Institution als Gegensatz zum Unzivilisierten noch als Gegensatz zum Bösen wichtig. Auch der Kultur/Natur-Gegensatz erscheint mir nicht wesentlich für die Geschichte, vielmehr handelt es sich bei dem Gegensatz zwischen "schöner" Stadt und hässlichem Dorf eher um zwei Seiten der gleichen Medaille. Und diese Medaille ist die materielle Welt: Dinge können schön sein, können begehrlich machen, aber letztlich sind sie vergänglich, sterblich, hinter der schönen Fassade wohnt immer der Tod. Eindrucksvoll wird schon beim Einritt in die Stadt gezeigt, wie gefährdet und hinfällig das alles ist:

    Zitat

    vom trabenden Pferde herab funkelnden Auges auf alles dies hervorblickend aus einer Larve von blutbesprengtem Staub


    In dieser ganzen städtischen Pracht eingebettet sticht diese "blutbesprengte" Larve besonders krass hervor. Die Plünderung des Reichtums der Stadt, die man eigentlich erwartet, findet nicht statt, aber mit dem Dorf wird der Zustand NACH Plünderungen oder die negativen Auswirkungen des Krieges gezeigt: Hunger (das letzte Vieh wird geschlachtet), Lethargie (die "ausgerenkten Hüften", halbnackte Figuren, die auf Betten liegen), Seuchen (Ratten), herumstreunende Hunde als Zeichen dafür, dass die Ordnung nicht mehr aufrecht ist. Mit den Hunden wird das Triebhafte und Gierige, das zum Vorschein kommt, wenn die Ordnung zerstört ist, symbolisiert. Ihnen wird sehr viel Platz eingeräumt und deswegen denk ich, dass diese ganze Hundeszene von zentraler Bedeutung ist. Die Gier (nach dem Knochen) ist das Entscheidende dabei.


    Die Schwadron, die am Anfang eher wie eine lustige Jagdgesellschaft wirkt, sie treibt den Feind wie "Wachteln" vor sich her, der Kampf erscheint eher als Spiel denn als Ernst, es wird gelacht, die Schwadron erscheint unbesiegbar, sie handelt als geschlossene Einheit, am Ende wird die Brutalität und Tödlichkeit des Kampfes aber in aller Deutlichkeit gezeigt. Und Lerch will das nicht mehr, irgendwie spürt er, dass ihm etwas fehlt, er hat Sehnsucht nach etwas anderem, aber er hat eigentlich kein Ich mehr, keine Persönlichkeit, nichts, was ihm allein gehört. Am Ende lehnt er sich auf, aber es ist nur mehr die Gier, die ihn da leitet, viel mehr ist da nicht mehr in ihm.


    Zitat

    Während Anton Lerchs starr aushaltender Blick, in dem nur dann und wann etwas Gedrücktes, Hündisches aufflackerte und wieder verschwand, eine gewisse Art devoten, aus vieljährigem Dienstverhältnisse hervorgegangenen Zutrauens ausdrücken mochte, war sein Bewußtsein von der ungeheuren Gespanntheit dieses Augenblicks fast gar nicht erfüllt, sondern von vielfältigen Bildern einer fremdartigen Behaglichkeit ganz überschwemmt.


    Hier schießen verschiedene Komponenten des Textes zusammen: Der Wunsch Lerchs nach einem behaglichen Dasein abseits des Kämpfens, nach einem "weißen Bett" (welch starkes Sehnsuchtsbild das für einen Soldaten ist, sieht man ja auch bei Rilke) und einer Frau, einer materiell gesicherten Existenz, der Wunsch nach Besitz, der Wunsch nach einem "persönlichen" Dasein abseits eines "Dienstverhältnisses" führt schließlich zur Befehlverweigerung. Das Hündische ist gleichzeitig das Kämpfen in der Meute, aber auch die Gier nach Besitz (des Knochens), nach individueller Existenzsicherung, wenn man so will.


    Die Szene mit Vuic ist für mich der eigentliche Gegenentwurf zur Welt des Krieges: Eine beschauliche Szene, in der sogar die Blumentöpfe wahrgenommen werden. Lerch kann aber seinen Status als Krieger nicht ablegen: In seinem Traum trägt er weiter den Säbel über seinem bürgerlichen Schlafrock. Der eigentlich positive Wunsch Lerchs nach einem idyllischen Dasein wird dadurch untergraben, dass er seine soldatische Gewalt, seine Macht, die ihm sein Säbel gibt, und seine Gier nicht ablegen kann. Im Dorf wird ihm vorgeführt, zu was Gewalt führen kann. Die Idylle des menschlichen Zusammenlebens wird hier pervertiert dargestellt.


    Zitat

    Der Rasierte nahm bald die Stelle eines vertraulich behandelten, etwas unterwürfigen Freundes ein, der Hoftratsch erzählte, Tabak und Kapaunen brachte, bald wurde er an die Wand gedrückt, mußte Schweigegelder zahlen, stand mit allen möglichen Umtrieben in Verbindung, war piemontesischer Vertrauter, päpstlicher Koch, Kuppler, Besitzer verdächtiger Häuser mit dunklen Gartensälen für politische Zusammenkünfte, und wuchs zu einer schwammigen Riesengestalt, der man an zwanzig Stellen Spundlöcher in den Leib schlagen und statt Blut Gold abzapfen konnte.


    Eine sehr eigenartige Stelle. Lerch sehnt sich nach etwas, es ist etwas nicht mehr in Ordnung mit ihm, er will den Kampf nicht mehr, aber er ist zu normalen menschlichen Beziehungen nicht mehr fähig. Er fragt nicht, ob er bei ihr wohnen kann, er bestimmt es einfach, er übt Gewalt über sie aus, deutlich durch das Drücken des Kopfes, einen Freund stellt er sich als jemanden vor, in den man „Spundlöcher“ treiben kann, es ist eine Freundschaft, durch die er vor allem materiellen Nutzen haben will.


    Für mich ist die Begegnung mit sich selbst auf der Brücke eine Aufforderung an Lerch, sich mit seinem Ich auseinanderzusetzen, aber er nimmt diese Aufforderung nicht an. Diese Begegnung verstört ihn nicht einmal, so wenig wie der Ritt durch das Dorf, das der Krieg zerstört hat.


    Der Einritt des Protagonisten in das Dorf ist eine "hässliche" Wiederholung des Einritts der Schwadron in Mailand. Hier wie dort wird der Blick letztlich auf eine Frau fokussiert: Frauen gehören in dieser Sicht zur Welt der materiellen Dinge, etwas, auf das man gierig sein kann, das man besitzen kann, was sich aber automatisch nicht drauf umlegen lässt, dass Frauen der Natur zugerechnet werden und Männer der Kultur. Allgemein machte man das zu dieser Zeit, ja, aber ob Hofmannsthal das hier betonen will: Nein, ich glaube nicht. Ich sehe nicht, dass die Frauen als besonders naturnah geschildert werden, denn auch das Sexuelle ist nicht gleichzeitig das Natürliche.


    Sowohl die Beschreibung der Stadt als auch die des Dorfes sind eigentlich eher Zerrbilder der Wirklichkeit. Während auf der einen Seite das schöne Funkeln der materiellen Dinge überdeutlich dargestellt wird, wird im Dorf die Hässlichkeit und Vergänglichkeit des materiellen Daseins gezeigt.


    Was den Stil anbelangt, diesen besonders am Anfang sehr berichtenden, sachlichen, präzisen Stil, dem jede Romantik fehlt: Dieser Stil unterstreicht noch die Unerhörtheit der Begegnung Lerchs mit sich selbst, gibt dem Erzähler aber auch die Möglichkeit, immer AUSSEN zu bleiben. Es gibt keine Wertungen und keine Reflexionen über das Geschehen, es wird nicht gesagt: Der Krieg ist schrecklich usw.


    Das vorerst mal von mir, meine Gedankengänge sind noch nicht ganz abgeschlossen. ;)

  • Zitat

    Original von Shabana
    Das vorerst mal von mir, meine Gedankengänge sind noch nicht ganz abgeschlossen. ;)


    Madame,


    in deinen Ausführungen finden sich einige sehr interessante und ungemein hellsichtige Hinweise, die ich beizeiten gerne aufgreifen werde.


    Schön, wieder einmal von dir zu lesen - von dem Privileg, dein neues Avatar gelegentlich betrachten zu dürfen, ganz zu schweigen!

  • Hallo Thomas,


    du wolltest doch beinharte Textarbeit, warum bekomme ich dann keine Antwort auf meine Fragen? ;(


    Liebe Grüße
    Judith

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  • Zitat

    Original von Judith
    Hallo Thomas,


    du wolltest doch beinharte Textarbeit, warum bekomme ich dann keine Antwort auf meine Fragen? ;(


    Liebe Grüße
    Judith


    Vermutlich, weil Thomas noch mit Shabanas Avatar beschäftigt ist 8-):renn

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    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Zitat

    Original von Judith
    Hallo Thomas,


    du wolltest doch beinharte Textarbeit, warum bekomme ich dann keine Antwort auf meine Fragen? ;(


    Liebe Grüße
    Judith


    Vielleicht müssen wir noch unseren Avatar etwas verhübschen...
    Aber nee...im Ernst: in so einem Riesenfred kann mann schon mal den Überblick verlieren...


    LG von Stefanie
    die mit dir hofft, noch gelesen zu werden

    [buch]3866855109[/buch]


    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Hallo Lametta,


    Zitat

    Original von lametta


    HvHT hat in seinem Text eine für seine Biografie überraschend kritisch eine Erkundungsreise in "die" Soldatenseele gewagt:
    Einerseits hat er in akribischen Gefechtsbeschreibungen das automatische, reibungslose Funktionieren bewundert. In einer klaren Gegenüberstellung gleichermaßen aber die Unberechenbarkeit traumatisierter und gegen Gewalt abgestumpfter Menschen eindringlich und warnend geschildert.


    Ja, tut er. Aber das Thema der einander bekämpfenden Prinzipien von Ordnung und Chaos taucht auch in seinen Aufsätzen auf. Es scheint mir, dass er tatsächlich von den Vorstellung geprägt war, dass es eine strikte Trennung nicht gibt, sondern sich diese im ewigen Reigen in allem wiederfinden.


    Möglich, dass ihm das bei der Reitergeschichte nicht so klar vor Augen stand wie hier:


    Aus Sebastian Melmoth:


    "Man muß das Leben nicht banalisieren, indem man das Wesen und das Schicksal auseinanderzerrt und sein Unglück abseits stellt von seinem Glück. Man darf nicht alles sondern. Es ist alles überall. Es ist Tragisches in den oberflächlichen Dingen und Albernes in den tragischen. Es ist etwas würgend Unheimliches in dem, was man Vergnügen nennt. Es ist Dichterisches in den Kleidern der Kokotten und Spießbürgerliches in den Emotionen der Lyriker. Es ist alles im Menschen drin. Er ist voll der Gifte, die gegeneinander wüten. Es gibt auf gewissen Inseln Wilde, die ihre Pfeile in den Leib ihrer toten Verwandten stecken, um sie unfehlbar tödlich zu vergiften. Dies ist eine geniale Art, einen tiefen Gedanken metaphorisch auszudrücken und dem Tiefsinn der Natur ohne viel Umschweife zu huldigen. Denn wirklich, die langsam tötenden Gifte und die Elixiere der sanft schwelenden Seligkeiten, alles liegt in unserem lebendigen Leib beisammen. Man kann kein Ding ausschließen und keines für so niedrig nehmen, daß es nicht eine sehr große Macht sei. Es gibt, vom Standpunkte des Lebens betrachtet, kein Ding, das »dazu gehört«. Es ist überall alles. Alles ist im Reigen."


    Aber die unterliegende Erkenntnis trägt auch den Text, an dem wir da gerade arbeiten in meiner Lesart.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Hallo Horst-Dieter,
    hallo Lametta,


    tja, das hab ich nun davon, dass ich Musashis Rolle übernahm, ohne es zu wollen. :(


    Liebe Grüße
    Judith


    Edit: Aber ob mit dem dazu passenden Alias meine Chancen wirklich steigen? ?(


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Hallo Shabana,
    hallo ihr LIeben,


    Zitat

    Original von Shabana
    Der eigentlich positive Wunsch Lerchs nach einem idyllischen Dasein wird dadurch untergraben, dass er seine soldatische Gewalt, seine Macht, die ihm sein Säbel gibt, und seine Gier nicht ablegen kann. Im Dorf wird ihm vorgeführt, zu was Gewalt führen kann. Die Idylle des menschlichen Zusammenlebens wird hier pervertiert dargestellt.


    :anbet und ich habe da nur die sexuelle Komponente sehen können. Da bin ich wohl dieser Gefahr erlegen, die Hofmannsthal an den Schluß von Der Dichter und diese Zeit stellt:



    Ich höre des öfteren, man nennt irgendwelche Bücher naturalistische und irgendwelche psychologische und andere symbolistische, und noch andere ebenso nichtssagende Namen. Ich glaube nicht, daß irgendeine dieser Bezeichnungen den leisesten Sinn hat für einen, der zu lesen versteht. Ich glaube auch nicht, daß ein anderer Streit, mit dem die Luft erschüttert wird, irgendeine Bedeutung für das innere Leben der lebendigen Menschen hat, ich meine den Streit über die Größe und die Kleinheit der einzelnen Dichter, über die Abstufungen unter ihnen, und darüber, ob die lebendigen Dichter um so viel geringer sind als die toten. Denn ich glaube, für den einzelnen, für den, der das Erlebnis des Lesenden kennt, für ihn wandeln tote Dichter mitten unter den Lebendigen und führen ihr zweites Leben. Für ihn gibt es ein Zeichen, das dem dichterischen Gebilde aufgeprägt ist: daß es geboren ist aus der Vision. Sonst kümmern ihn keine Unterscheidungen. Er wartet nicht auf den großen Dichter. Für ihn ist immer der Dichter groß, der seine Seele mit dem Unmeßbaren beschenkt. Die einzige Unterscheidung, die er fällt, ist die zwischen dichterischen Büchern und den unzähligen anderen Büchern, den sonderbaren Geburten der Nachahmung und der Verworrenheit. Aber auch in ihnen noch ehrt er die Spur des dichterischen Geistes und die Möglichkeit, daß aus ihnen in ganz junge, ganz rohe Seelen ein Strahl sich senke. Er wartet nicht, daß die Zeit in einem beredten Dichter, einem Beantworter aller Fragen, einem Herold und einem Anwalt, ihre für immer gültige Synthese finde. Denn in ihm und seinesgleichen, an tausend verborgenen Punkten vollzieht sich diese Synthese: und da er sich bewußt ist, die Zeit in sich zu tragen, einer zu sein wie alle, einer für alle, ein Mensch, ein einzelner und ein Symbol zugleich, so dünkt ihm, daß, wo er trinkt, auch das Dürsten der Zeit sich stillen muß. Ja, indem er der Vision sich hingibt und zu glauben vermag an das, was ein Dichter ihn schauen läßt – sei es menschliche Gestalt, dumpfe Materie des Lebens, innig durchdrungen, oder ungeheuere Erscheinung orphischen Gesichtes –, indem er symbolhaft zu erleben vermag die geheimnisvollste Ausgeburt der Zeit, das Entstandene unter dem Druck der ganzen Welt, das, worauf der Schatten der Vergangenheit liegt und was zuckt unter dem Geheimnis der drängenden Gegenwart, indem er es erlebt, das Gedicht, das seismographische Gebilde, das heimliche Werk dessen, der ein Sklave ist aller lebendigen Dinge und ein Spiel von jedem Druck der Luft: indem er an solchem innersten Gebilde der Zeit die Beglückung erlebt, sein Ich sich selber gleich zu fühlen und sicher zu schweben im Sturz des Daseins, entschwindet ihm der Begriff der Zeit, und Zukunft geht ihm wie Vergangenheit in einzige Gegenwart herüber.


    Tja, und schöner und genauer kann ich meine Vorstellung von Textwirkungen nicht darstellen, allerdings blicke ich auf diese Zeilen mit meinen eigenen Vorstellungen, die auch von denen geprägt wurden, die nach Hoffmannsthal kamen, von denen, die die neurologischen Grundlagen untersuchen genauso wie von denen, die Texte analysieren.


    So ist das eben, Text entsteht im Leser und genau deshalb finde ich das Gespräch darüber so spannend. :D.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Hallo Lametta,


    Zitat

    Einmal in den Text eingelesen, wurde ich als Leserin von einer Empfindung in die nächste gerissen und erst am Ende erlöst. Ich kannte bisher nur Gedichte von HvHT, finde in diesem Text die gleiche Gabe wieder: Vom Außen in die Innenwelt eines Menschen zu zoomen...mit sinnlichster, farben- und formenvoller Sprache. Steh ich drauf. Danke Thomas und Anja! War mir ein Genuss!


    Ja, ich finde, das gehört zu den Techniken, die man wirklich aus dieser Geschichte lernen kann (und die gerade in Texten wie denen - ich weiß, ich wiederhole mich - von Erpenbeck wieder aufgenommen wird), dass der Blick von außen auf die Figur Dinge im Leser erwecken kann, die man dann eben nicht explizit in der Reflexion der Figur darstellen muss.


    Liebe Grüße
    Judith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]

  • Guten Abend liebe Lesende (oder guten Morgen?)!


    Meine Güte. Jetzt habe ich beide Texte durch und mich auch noch durch eure ganzen Comments durchgefräst. Boah ey!


    Ich kannte weder den Cornet noch die RG von HvHT (coole Abkürzungen. Das amerikanische Militär würde sie lieben =)). Jetzt kenne ich sie mehr, als sie mir lieb sind :wow.


    Nein, erstmal an dieser Stelle einen kleinen Dank an TWJ, für die Auswahl, für die Mühe und für die Bereitschaft, sich der Kritik zu stellen... welche kommen musste.


    Aber genug der Gemeinplätze. Ich hab da mal eine Frage: Die RG von HvHT war spannend und eure Überlegungen dazu nehme ich jetzt mal hin, wie die ersten Menschen die Sintflut. Aaaaaber: Der Cornet von RMR... der hat mich richtig innerlich bewegt. Warum? Naja, würde ich gerne drüber reden, aber noch steht der RMR ja nicht auf der Speisekarte. Und genau das würde ich gerne wissen: Wann kommen wir zum Cornet? Oder wird der vom Lerch einfach niedergeritten?
    Möchte doch zu gerne die Zeitenfrage (ausschließlich im Präsens? Ha, lieber TWJ! Nicht mit mir!) ansprechen.


    Liebe nächtliche Grüße
    Achim

  • Zitat

    Original von Judith
    ...
    Tja, und schöner und genauer kann ich meine Vorstellung von Textwirkungen nicht darstellen, allerdings blicke ich auf diese Zeilen mit meinen eigenen Vorstellungen, die auch von denen geprägt wurden, die nach Hoffmannsthal kamen, von denen, die die neurologischen Grundlagen untersuchen genauso wie von denen, die Texte analysieren.


    So ist das eben, Text entsteht im Leser und genau deshalb finde ich das Gespräch darüber so spannend. ...


    Da stimme ich dir dermaßen zu, Judith! Genau so ist´s.

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    "Sinn mag die äußerste menschliche Verführung sein." - Siri Hustvedt

  • Zitat

    Original von AchimW
    Aaaaaber: Der Cornet von RMR... der hat mich richtig innerlich bewegt. (...) Möchte doch zu gerne die Zeitenfrage (ausschließlich im Präsens? Ha, lieber TWJ! Nicht mit mir!) ansprechen.
    Liebe nächtliche Grüße
    Achim


    Achim, ich wiederhole mich, aber bei dir tue ich es besonders gerne: Welcome back my Man


    Der Cornet kommt ab heute, hauptsächlich ab morgen.


    Ich habe, und das auch noch in Berlin, einen Börsengang und noch einen Kunden, der von einer börsennotierten AG gekauft wird. Wer sich mit so was auch nur ein bisschen auskennt, der weiß, dass ein Börsengang so etwas ist wie eine schwere Krankheit: Es dauert sechs Monate, und man ist die ganze Zeit beschäftigt, einigermaßen am Leben zu bleiben.


    Der Cornet hat Generationen von jungen (und auch schon etwas reiferen) Männern bewegt - und irgendwie schafft er es ja immer noch. Ich halte ihn für besten Edelkitsch, auf einer Ebene mit Casablanca, aber genau diese Geschichten treiben einem ja mehr Tränen in die Augen als alles andere.


    Du wirst das Präsens noch lieben lernen! Wenn sogar ein selbsternannter Literatur-Dozent, der in seinem ganzen langen Leben nur einen einzingen halbwegs brauchbaren Text geschrieben hat, schon mitgekriegt hat, dass die Jungen jetzt alle im Präsens schreiben wollen - na dann muss ja wirklich was dran sein.

  • ... nur keine falsche Rücksichtnahme Sir :colts... Ich werde das Procedere dieser TA's schon noch durchblicken. Aber okay, bevor ich mich schmachtend dem Edelkitsch zuwende, vielleicht noch einzwei Dinge, die mir bei Hoffmannstal aufgefallen sind:


    Zuerst einmal finde ich die Sprache für eine Höllenfahrt sehr, sehr nüchtern. Das liest sich, wie ein militärischer Tagesbericht an den Vorgesetzten. Geht es euch auch so, dass ihr nicht so richtig in den Wachtmeister Lech hineinfühlen könnt? Ich finde, Hoffmannstal hält uns bewusst draußen.
    Das beißt sich übrigens sehr mit dem, was da berichtet wird. Ich meine, wo tauchen in einem Militärbericht schon Begegnungen mit potentiellen Geliebten auf und Erlebnisse in einem Dorfe, welches nahezu surreal anmutet (genial, lieber HvHT)?


    Da ich kein Germanist bin, stehe ich staunend vor den Theorien, die Thomas hier vor uns ausgebreitet hat und lerne schweigend... nicht ganz. Du schreibst, dass es das Vorrecht, des Protagonisten ist, die Grenze seines Raumes zu überschreiten, während die anderen Figuren in diesem Spiel innerhalb ihrer Grenzen zu verweilen haben. Habe ich dich richtig verstanden? Das wäre nach meinem Dafürhalten sehr... statisch und ich weiß nicht, ob ich dem würde folgen wollen. Jedenfalls nicht unbedingt als Prämisse für meine Plotterei.


    Soviel jetzt zur Reitergeschichte von mir.


    Liebe Grüße
    Achim

  • Zitat

    Original von AchimW
    ... nur keine falsche Rücksichtnahme Sir :colts... Ich werde das Procedere dieser TA's schon noch durchblicken. Aber okay, bevor ich mich schmachtend dem Edelkitsch zuwende,


    TA2, Dan Brown. Brauchst du nur alles nachlesen :)

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann