TA 4: Rilke und Hofmannsthal

  • Hallo alle,


    die Eröffnung dieser TA ist inzwischen mehrfach bei mir angemahnt worden, und nicht nur von Thomas, der sich dankenswerterweise bereit erklärt hat, diese vierte Analyserunde zu übernehmen. Hier mal eine :blume für ihn.


    Dann starte ich also hiermit die vierte TA. Die Links zu den beiden Texten von Rilke und Hofmannsthal dürftet Ihr ja an sich schon haben, möglicherweise stellt Thomas sie aber noch mal ein. Außerdem hat er, wie er sagt, einen umfangreichen Katalog an gemeinen und schwierigen Fragen ausgearbeitet, die Ihr/wir in den nächsten beiden Wochen bearbeiten dürfen.


    Dann also viel Spaß, seid nett zueinander und prügelt Euch bitte draußen.


    Liebe Grüße
    Anja

  • Liebe Teilnehmer der Textanalyse (TA 4),


    Hier sind die Texte:


    Rainer Maria Rilke: Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke


    Hugo von Hofmannsthal: Reitergeschichte


    Ziel ist es u.a., zwei Erzählungen der beiden größten österreichischen Dichter der Jahrhundertwende miteinander zu vergleichen. Beide Texte behandeln eine ähnliche Thematik, wurden ungefähr zur selben Zeit geschrieben, bedienen sich aber völlig unterschiedlicher Stilmittel, um ihre Aussage zu transportieren.


    Beide Texte sind ganz besondere Schmankerl, die aus einer Vielzahl von Gründen zum Vergleich einladen:


    - Beide Texte sind praktisch binnen eines Jahres entstanden, der Hofmannsthal im Jahr 1898, der Rilke im Herbst 1899.


    - Rilke und Hofmannthal waren bei der Verfassung der Texte praktisch gleich alt, nämlich 24 Jahre.


    - Beide Texte stellen historische Erzählungen dar, die Kavallerie-Gefechte in einem konkreten historischen Kontext schilden.


    - An beiden Texten lässt sich gut der Übergang vom Realismus zur Moderne zeigen.


    - Und beim Rilke – hört und staunt – haben wir es mit einem der ersten Prosatexte zu tun, die ganz im jawohl: Präsens geschrieben sind.


    Muss ich noch sagen, dass sich beide Texte sehr gut lesen lassen und fast schon spannend sind? Also! Auf geht’s!

  • Zitat

    Original von Th. Walker Jefferson


    - Beide Texte sind praktisch binnen eines Jahres entstanden, der Hofmannsthal im Jahr 1898, der Rilke im Herbst 1899.



    Vielleicht ist der Hinweis nicht ganz unangebracht, dass Rilke die Fassung zweimal überarbeitet hat und heute auch die Versionen aus den Jahren 1904 und 1906 zu haben sind. Der Link, den du eingestellt hast, verweist auf die Urfassung aus dem Jahr 1898. Das Suhrkamp-Büchlein, das du im Thread »Vorschläge« angegeben hast, führt die Fassung von 1906, enthält die 1898er Fassung aber im Anhang. Wie es mit anderen Ausgaben bestellt ist, weiß ich nicht, aber jeder kann ja jetzt über den Link vergleichen, was er hat.


    Horst-Dieter

    BLOG: Welt der Fabeln


    Die schönsten Schlösser und Burgen in Oberbayern und Bayerisch-Schwaben

    ASIN/ISBN: 3831335559


    Verengung des freien geistigen Horizontes ist eine Gefahr in Zeiten des Massenkultes.
    Emanuel von Bodmann


  • Hallo Thomas,
    hallo ihr Lieben,


    ich freue mich schon sehr auf diese Runde, aber ich schaffe es erst in der zweiten Woche.


    Liebe Grüße
    JUdith

    Nay, thy lordship, me ain't no thief, not even a smart one - Piper Quickfingers



    Der Tokee in Die rote Kammer [buch]393991407X[/buch]


  • Lieber Thomas,


    ich habe mal fett markiert, was mich in diesem Zusammenhang dieser TA-Wochen interessiert. Alles andere mag auch interessant sein - für an Literatur interessierte durchaus auch wichtig - aber unter der Überschrift "wie haben sie's gemacht" sind eben die beiden von mir herausgestellten Aspekte wichtig. Auf die versuche ich mich bei der Lektüre zu konzentrieren. Den Rilke habe ich schon gelesen, den Hoffmansthal nehme ich mir in den nächsten Tagen vor.


    Horst-Dieter

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    Emanuel von Bodmann


  • Liebe Teilnehmer an der TA 4,


    1. Vorschlag zur Nomenklatur:


    - HvHT: Hofmannsthal; RMR: Rainer Maria Rilke; RG: Reitergeschichte; Cornet: Cornet.


    2. Es stimmt: Der Cornet liegt in drei Versionen vor. Das was HD hier jedoch schrieb, trifft nicht zu. Die Online-Version bei Edition Gutenberg ist die dritte Fassung des Cornets und damit die Endfassung, also auch die, die heute als verbindlich gilt. „Geschrieben 1899“ steht auch am Anfang dieser dritten und endgültigen Fassung.


    Die erste und die dritte Fassung, die beide in meiner Gesamtausgabe enthalten sind, unterscheiden sich erheblich voreinander, insbesondere der Schluss ist unterschiedlich. Ein Vergleich dieser beiden Versionen ist für die Textauslegung wichtig; dazu kommen wir noch.


    3. Gehen wir kurz in die Entstehungs und - Editionsgeschichte des Cornets:


    - Geschrieben 1899 in Berlin Schmargendorf „in einer stürmischen Herbstnach“ nach wiederholtem Selbstzeugnis von RMR; das taggenaue Entstehungsdatum ist nicht bekannt;


    - Die Urfassung blieb bis 1927 ungedruckt;


    - Umgeschrieben im August 1904 in Schweden und in dieser 2. Fassung gedruckt 1904 in der Prager Zeitschrift „Deutsche Arbeit“;


    - Buchausgabe der 3. Fassung mit einigen weiteren Änderungen Ende 1906;


    Alle Angaben nach: RMR Sämtliche Werke in Zwölf Bänden hrsg. Vom Rilke-Archiv, besorgt durch Ernst Zinn, Ffm. 1976 (Insel Werkausgabe).

  • Zitat

    Original von Th. Walker Jefferson


    2. Es stimmt: Der Cornet liegt in drei Versionen vor. Das was HD hier jedoch schrieb, trifft nicht zu. Die Online-Version bei Edition Gutenberg ist die dritte Fassung des Cornets und damit die Endfassung, also auch die, die heute als verbindlich gilt. „Geschrieben 1899“ steht auch am Anfang dieser dritten und endgültigen Fassung.



    Aha!


    <merkmodus an>

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    Emanuel von Bodmann


  • Liebe Teilnehmer an der TA 4,


    1. Vielleicht darf ich vorschlagen, dass wir mit der RG von HvHT anfangen. Nach meiner Analyse gliedert sich der Text in vier Teile.


    2. Das interessante daran ist nun, dass diese vier Teile sehr unterschiedlich sind und die Hauptfigur (= Protagonist), also den Wachtmeister Anton Lerch, einer zunehmend rascheren Entwicklung unterwerfen.


    3. Die vier Teile grenzen geographisch und bedeutungsmäßig unterschiedliche Räume voneinander ab. Damit meine ich: Jedem der vier Teile ist ein bestimmter geographischer Raum, also eine bestimmte Landschaft, ein Haus, eine Dorf, mithin also eine ihm eigene (= spezifische) Örtlichkeit zugeordnet.


    4. Nun ist es so, dass in künstlerischen Texten Räume, Lokalitäten, also die Landschaften, Städte, Dörfer, in denen die Helden und die Nebenfiguren sich bewegen, nie einfach zufällig ausgewählt wurden, sondern immer, weil sie über die Textoberfläche hinausgehend bestimmte Bedeutungen besitzen.


    Die Lehre von den Bedeutungen nennt man ja auch Semantik, und in der Textanalyse spricht man von der Raumsemantik, wenn man ausdrücken will, dass Räume mit ihnen zugewiesenen Bedeutungen zusammenhängen (= korrelieren).


    Ein bestimmter Raum steht also für etwas. Z.B. gibt es Texte, in denen Räume wie „Berge“, „Gipfel“ oder Orte auf Bergeshöhen mit Bedeutungen (= semantische Felder) wie „rein“, „geistig“, „ephemer“, „blutleer“, „verfeinert“, „aggressionslos“, „ohne Leben“ verbunden (= korreliert oder konnotiert) sind. Dies ist z.B. in dem Roman „Der Zauberberg“ von Thomas Mann der Fall.


    5.Uns allen ist Raumsemantik aus vielen Traditionen und auch aus unserer ganz normalen Alltagssprache geläufig. Z.B. wird in der Raumsemantik sehr oft „unten" mit „böse“, „schlecht“ oder „sündig“ verbunden, bestes Beispiel ist die Darstellung der Hölle in der kath. Kirche.


    Das Verbinden eines best. Raumes mit einer best. Bedeutung nennt man in der Textanalyse auch „Konnotation“. Liegen sich die Räume und jeweils unterschiedliche Bedeutungen entgegengesetzt (diametral) gegenüber, dann kann man sagen, dass sich Räume und Bedeutungen auf einer Achse gegenüber liegen. Damit kann man also über einen christliche Text auf dem Mittelalter, der z.B. die Höllenfahrt einer Figur thematisiert, sagen, dass die Räume und die semantisch mit ihnen konnotierten Bedeutungsfelder auf einer vertikalen Achse angeordnet sind.


    6. Semantische Räume in künstlerischen Texte werden immer durch eine Grenze voneinander getrennt. Diese Grenze ist für praktisch alle Figuren in einem Text unpassierbar. Eine geographische Grenze in einem Text stellt sehr oft also auch eine Grenze zwischen zwei semantischen Feldern da. Meist ist es sogar so, dass die Grenze zwei semantische Bereiche voneinander trennt, die sich von der Bedeutung her vollkommen entgegengesetzt zueinander verhalten. Wenn also im Text das Leben auf dem Berg oben mit Bedeutungen wie "geistig", "aggressionslos" und "blutleer" verknüpft ist, dann kann es unten im Tal oder in einem Bergwerk "kraftvoll", "animalisch" und "aggressiv" sein.


    Natürlich funktioniert das auf der horizontalen Ache genauso. Ein Text kann z.B. das Leben auf einer Insel im Inneren der Insel, also im Dschungel, als bösartig, unzivilisiert und wild darstellen, und das Leben am Strand in der kolonialen Hauptstadt als westlich, zivilisiert und temperiert.


    Etwas mindere Autoren wie Somerset Maugham z.B. arbeiten sehr oft mit solchen recht einfachen semantischen Achsen, weshalb sich ihre Texte gut analysieren lassen.


    7. Nun aber zurück zur Grenze. Die Grenze zwischen zwei geographischen und semantischen Räumen ist ausschließlich für den Helden passierbar, und genau das ist die einzige wirklich brauchbare Definition für den Protagonisten in einem künstlerischen Text – es ist immer die Figur, die eine semantische Grenze – entweder temporär, meist aber definitiv - überschreitet.


    Nebenfiguren sind genau dazu nicht in der Lage, ja sie definieren sich dadurch, dass sie vom Anfang bis zum Schluss in der ihnen einmal zugewiesenen geographischen und semantischen Ebene verharren.


    8. Die bedeutendste Grenze, die in Texten überschritten (oder eben nicht) werden kann und die sich durch fast 3000 Jahre Weltliteratur zieht, ist die Grenze zwischen Leben und Tod bzw. der Wechsel z.B. vom Leben zum Tod und wieder zum Leben.


    9. Hier ein Überblick zu großen semantischen Gegensätzen in Texten:


    Leben – Tod
    Innen – außen
    Zentrum – Peripherie
    Natur – Kultur
    Gesellschaft - Außenseiter


    Nach diesem kleinen Crash-Kurs in strukturaler Textanalyse bzw. dem Ausschnitt Raumsemantik, darf ich nun die Frage an den Text von HvHt neu formulieren:


    - In welche vier Teile gliedert sich der Text?


    - Welche geographischen Räume sind den vier Teilen zugeordnet?


    - Welche semantischen Ebenen sind den geographischen Ebenen zugordnet? -


    - Welche Grenzen verlaufen zwischen den vier Teilen und welche Grenzen ziehen sich damit auch durch den ganzen Text?


    - Welche Grenze überschreitet der Protagonist?


    Was löst die Überschreitung der Grenze im Protagonisten aus, was motiviert ihn?

  • Hallo Thomas,


    ich mache mal eben kurz den Anfang (aber wirklich nur kurz):
    So wie ich den Text verstehe, willst Du auf darauf hinaus, wie mittels der Landschaft die seelischen Zustände der Hauptfigur geschildert werden, die er im Laufe der Geschichte durchlebt. Eine Erzählung nach "realistischen" Maßstäben ist es ja nicht. Ich kannte den Text bisher noch nicht, aber mich hat er etwas an die Bildsprache Kafkas erinnert.
    Am intensivsten gelungen ist natürlich das (recht adjektivlastige) verkommene Dorf und der Besuch bei dem Mädchen/der Hure in Mailand. Beide Szenen sind deutlich erotisch besetzt in der Symbolik.


    Morgen mehr :)


    Liebe Grüße
    Anja

  • Hallo Anja, hallo an alle anderen,


    1. Ich würde mich über rege Teilnahme freuen. Ich versuche, die strukturale Textanalyse, die in Lehrbüchern immer rechtkompliziert daherkommt, hier einfach und verständlich zu erklären.


    Ich weiß, dass das von der Textinterpretation, die die meisten an Schulen gelernt haben, abweicht, aber wer sich ein bisschen auf diese Methode einlässt, der wird reicht belohnt und versteht Texte dann wirklich besser.


    Ich werde mich bemühen, weder geschraubte Formulierungen noch die üblichen wissenschaftlichen Hohlformen zu benutzen.


    Ich darf sagen, dass ich weiter oben Teile des wichtigen 8. Kapitels („Raumsemantik“) aus der strukturalen Textanalyse von Juri Lotman hier für euch gut verständlich zusammengefasst habe. Mir hat das im Studium – leider - nie jemand einfach erklärt.

    ASIN/ISBN: 3825201031


    2. Anton Lerch in der Reitergeschichte macht eine Höllenfahrt auf Etappen. Er verletzt die Regeln und den Code der Gemeinschaft, wird von ihr deshalb ausgestoßen und, weil seine Regelverletzungen gravierend sind, zum Tode verurteilt. Die Frage ist nur: Warum? Und wie bringt HvHT uns das nahe?


    Und hier ist es wichtig, genau zu schauen, welche Bedeutungsebenen die vier Teile haben, auf welchen Achsen (vertikal, horizontal) die semantischen Ebenen organisiert sind, und wie der Text dies auf der Oberfläche geographisch oder räumlich organisiert.


    Beispiel: Die Stadt (Mailand) ist mit Bedeutungen wie: gesund, schön, hell, klar assoziiert, während das Dorf in der Mulde mit der Ebene der Krankheit und Hässlichkeit verbunden ist.

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    Gelöscht. War zu peinlich. Danke für Ihr Verständnis.

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    4 Mal editiert, zuletzt von Marvin ()

  • Hallo Marvin und Thomas,


    ich glaube, man kann sich dem Text am ehesten über seine Symbole nähern. Da gäbe es viele, die sich zu "entschlüsseln" lohnten.


    Eines der wichtigsten wäre das des "Spiegels" (ich würde übrigens die "Spiegelepisode" noch einmal vom Dorf abtrennen): Nach dem Einzug in Mailand (von Anfang an erotisch aggressiv besetzt) und dem Ritt durch das Dorf (auch erotisch besetzt durch die zweite Frauenfigur, hier aber als Verlust der Potenz) sieht Lerch sich sozusagen im Traumbild des Spiegels selber, ohne sich aber zu erkennen.
    Ich meine, darin liegt eine zentrale Aussage des Textes. Spätestens ab diesem Punkt kann er nur noch scheitern.


    Übrigens stelle ich fest, dass es extrem schwer ist, am Text zu arbeiten, wenn man ihn nicht permanent zitiert (was eine Höllenarbeit wäre).


    Interessant ist ja auch, dass Lerch im ersten Teil nur ein einziges Mal erwähnt wird. Wirklich in Erscheinung tritt er erst ab der Mailand-Episode, so dass wir eigentlich noch klären müssten, wo die Zählung beginnt.


    Später mehr.


    Liebe Grüße
    Anja


    .

  • Zitat

    Original von Anja

    Eines der wichtigsten wäre das des "Spiegels" (ich würde übrigens die "Spiegelepisode" noch einmal vom Dorf abtrennen): Nach dem Einzug in Mailand (von Anfang an erotisch aggressiv besetzt) und dem Ritt durch das Dorf (auch erotisch besetzt durch die zweite Frauenfigur, hier aber als Verlust der Potenz) sieht Lerch sich sozusagen im Traumbild des Spiegels selber, ohne sich aber zu erkennen.


    Ich würde sagen, dass es sich dabei um ein Doppelgängermotiv handelt


    Zitat


    Ich meine, darin liegt eine zentrale Aussage des Textes. Spätestens ab diesem Punkt kann er nur noch scheitern.


    Wieso kann er ab diesem Punkt nur noch scheitern?


    Horst-Dieter

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    Emanuel von Bodmann


  • Hallo Horst-Dieter,


    ich bin keine Psychologin, aber ich würde vermuten, es geht beim Spiegelmotiv eher um die Selbsterkenntnis und nicht um einen Doppelgänger.


    Zitat

    Da er nun wohl wußte, daß sich in der ganzen Schwadron kein solches Pferd befand, ausgenommen dasjenige, auf welchem er selbst in diesem Augenblicke saß, er das Gesicht des anderen Reiters aber immer noch nicht erkennen konnte, so trieb er ungeduldig sein Pferd sogar mit den Sporen zu einem sehr lebhaften Trab an, worauf auch der andere sein Tempo ganz im gleichen Maße verbesserte, so daß nun nur mehr ein Steinwurf sie trennte, und nun, indem die beiden Pferde, jedes von seiner Seite her, im gleichen Augenblick, jedes mit dem gleichen, weißgestiefelten Vorfuß die Brücke betraten, der Wachtmeister mit stierem Blick in der Erscheinung sich selber erkennend, wie sinnlos sein Pferd zurückriß und die rechte Hand mit ausgespreizten Fingern gegen das Wesen vorstreckte, worauf die Gestalt, gleichfalls parierend und die Rechte erhebend, plötzlich nicht da war, ...


    Welche Funktion hätte der Doppelgänger, vielleicht sollte man von dieser Seite an das Motiv herangehen.


    Er sieht den anderen, erkennt sich diffus selber, kann sich aber sozusagen "nicht greifen". Für mich klingt das eher danach, dass er nicht in der Lage ist, sich selbst zu reflektieren in seinem ganzen Verhalten.


    Aber kann sein, dass das etwas weit hergeholt ist. Mal schauen, was TWJ dazu sagt.


    Liebe Grüße
    Anja

  • Zitat

    Original von Anja
    Hallo Horst-Dieter,


    ich bin keine Psychologin, aber ich würde vermuten, es geht beim Spiegelmotiv eher um die Selbsterkenntnis und nicht um einen Doppelgänger.



    Anja


    Das Doppelgängermotiv ist ein in der Literatur des 19. Jh. verbreitetes Motiv: E.T.A. Hoffmann (die Elixiere des Teufels), Dostojevski (Der Doppelgänger), Theodor Storm (Der Doppelgänger), Adalbert Chamisso (Schlemhil), R.L. Stevenson (Dr. Jekyll and Mr. Hyde), Hans Christian Anderson (Der Schatten) u.a. greifen es auf und variieren es. Die Reitergeschichte von Hoffmannsthal gehört dazu.


    Der Doppelgänger verweist eher auf den »Schatten« des eigenen Selbst (um mal auf C.G. Jung zu verweisen) und an diesem Punkt stimmt es natürlich mit der Selbsterkenntnis wieder, da ja der Schatten zur Persönlichkeit gehört. Aber es ist eben mehr als nur einfaches Spiegeln.


    In dieser Geschichte ist es m.E. kein zentrales Motiv sondern ein Vorgriff auf das Ende der Geschichte. Behaupte ich jetzt mal. Der Meister dieses TA wird mich zurechtweisen, wenn ich mit dieser Behauptung daneben liege.


    Horst-Dieter

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    Emanuel von Bodmann


  • Hallo alle.


    Zitat

    Original von Anja
    ich glaube, man kann sich dem Text am ehesten über seine Symbole nähern.


    Hier möchte ich gern den Vorschlag machen, dass man sich dem Text nicht (wie im "schlechten" Literaturunterricht) mit theoretischen Modellen nähert, um dann zu prüfen, was der Text hergibt (so liest doch auch kein Mensch), sondern dass man umgekehrt von den unmittelbaren Wirkungen ausgeht, die der Text bei einem erzeugt. Nachdem man sich die Wirkung ausgesucht hat, die einen am stärksten beeindruckt, kann man endlich im zweiten Schritt auf literaturwissenschaftliche Modelle und Begriffe zurückgreifen, die einem die Wirkungen zu erklären vermögen. Man stellt sich also zunächst ganz dumm und guckt, welche Gefühle, Irritationen, Begeisterungsstürme, aber auch welches Unverständnis usw. der Text bei einem hervorruft.
    Beispiel. Ich nehme mal den Anfang. Da wundere ich mich, dass ich überhaupt über die erste Seite hinauslese, obwohl gar nicht im üblichen Sinne erzählt wird. Da werden auf geradezu positivistische Weise isolierte Ereignisse und Daten peinlich genau gennannt, aber auf eine zusammenhängende Darstellung der Ereignisse wird verzichtet. Es scheinen flüchtig gelesene Zeilen aus einem Zeitungsbericht oder aufgeschnappte Sätze eines belauschten Gespräches zu sein, so dass der Leser den Bruchstücken selber einen Sinn zuweisen muss. Also: Der Leser muss die Erzählerposition einnehmen und in seinem Kopf den Anfang der Geschichte selbst erzählen.
    Wie bringt der "faule" Erzähler mich dazu, weiterzulesen?
    Diese Frage stünde für mich am Anfang der Analyse der Reitergeschichte.
    Viele Grüße
    Jürgen

  • Zitat

    (so liest doch auch kein Mensch),


    Das ist wahr. So liest kein Mensch. Aber für mich ist gerade diese strukturierte (strukturalistische) Annäherungsweise eine Erweiterung meines Horizontes im Schreiben.
    Das ist anders, als die Rezensionen in den BTs und sicher auch anders als in einem "guten" Literaturunterricht, aber mir persönlich gefällt die Herangehensweise (die unzweifelhaft nur eine Möglichkeit unter vielen darstellt und sicherlich auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist) aktuell sehr gut.


    Und vor allem will ich wissen, was TWJ uns sonst noch dazu zu sagen hätte... 8-)

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  • Zitat

    Original von Marvin


    Und vor allem will ich wissen, was TWJ uns sonst noch dazu zu sagen hätte... 8-)


    Also ich vertrete die Auffassung, dass man sich in der Analyse nichts vorsagen lassen muss, sondern seine eigenen Gedanken machen und zur Diskussion stellen sollte.